Etliche Reihen Maschendrahtzaun, Überwachungskameras, Bewegungsmelder und kläffende Wachhunde können ihn nicht aufhalten. Der Blick von Udo Buchholz geht durch alle Hindernisse hindurch und fixiert das Kernproblem. Radioaktives und chemisch hochgiftiges Uran lagert gepresst in grauen Stahlbehältern auf dem abgesperrten Terrain. Freigesetzt, etwa durch ein Leck, stellt es eine tödliche Gefahr dar. Für die Atomwirtschaft ist der Brennstoff hingegen Lebenselixier. Sie braucht ihn für die atomare Kettenreaktion im Reaktor. Ohne Uran keine Atomkraftwerke. Hier, im münsterländischen Gronau, am westlichen Rand der Republik steht die einzige Uranfabrik Deutschlands. Buchholz gehört zu einer lokalen Gruppe, die seit drei Jahrzehnten gegen die Anlage kämpft.
Hinter dem Zaun ist Sperrgebiet. Riesige Freiflächen umschließen die Fabrikhallen, in denen spaltbares Uran angereichert wird. Früher haben an dieser Stelle Bauern geackert. Moos und Gras wuchern über alten Wirtschaftswegen. Ein Feld erstreckt sich immer noch innerhalb der No-go-Area. Auf den Feuchtwiesen weiden manchmal Schafe. Ein Fasan stolziert zwischen äußerem und innerem Sperrring. „Das ist eigentlich eine schöne Gegend“, sagt Udo Buchholz. Der 48-Jährige ist in Gronau aufgewachsen und wohnt von der Uranfabrik nur einen Kilometer weit weg.
Auf die Polizei ist Verlass
Buchholz ging noch zur Schule, da war er schon gegen die Uranfabrik. Später als Student noch viel mehr. Er pendelte zwischen Gronau und der Universitätsstadt Münster. Buchholz studierte Soziologie, schlug aber keine akademische Laufbahn ein. Er verschrieb sich seiner Heimat und dem Kampf gegen die Atomenergie. Anfang dieses Jahres kehrte er an die Uni Münster zurück, als Mitorganisator einer Uran-Konferenz. In einem Workshop diskutierten Atomkraftgegner, wie es in Gronau weitergehen soll. Die Bundesregierung hat zwar den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Eine Stilllegung der einzigen Urananreicherungsanlage (UAA) Deutschlands sieht der Ausstiegsplan aber nicht vor. „Wir brauchen den Druck von der Straße“, sagte Buchholz. Es müsse bekannter werden, dass es in Gronau eine Uranfabrik gibt, entgegnete ihm ein Aktivist von Robin Wood: „Jeder weiß, dass in Brokdorf ein Atomkraftwerk steht. Bei Gronau denken viele an Udo Lindenberg, nicht an eine Urananreicherungsanlage“. Lindenberg ist wie Buchholz ein Sohn der Stadt, nur eben viel populärer.
Die Atomjahre in Deutschland haben ihre Spuren hinterlassen. Die Gronauer Uranfabrik ist größer, die Haare von Buchholz sind grau geworden. Der Fahrtwind, der ihm auf dem Fahrrad entgegenbläst, weht die Mähne aus dem Gesicht. Unter seinem Schnauzer zeichnet sich ein zufriedenes Lächeln ab, als er die versammelten Mitstreiter entdeckt. Buchholz ist nicht allein. Es ist Sonntag und beinah ein Pflichttermin für die Aktivisten in Gronau. Seit Herbst 1986 treffen sie sich einmal im Monat zu einem Spaziergang um die UAA. Das ist ihre Form des Protests, die auch ein wenig von ihrer Ohnmacht verrät. Eine kleine Schar von Leuten ist heute gekommen. Sie haben sich direkt vor der Anlage getroffen und klappen nun einen Notenständer und einen Campingtisch aus.
„Noch nie ist ein Spaziergang ausgefallen. Es waren immer mindestens zwei Teilnehmer da“, sagt Buchholz. 26 Jahre läuft das mittlerweile so. So lange schon beliefert die Uranfabrik die halbe Welt mit Kernbrennstoff. Buchholz und die anderen konnten dagegen nicht viel ausrichten. Sie haben nicht einmal innerhalb der Grünen eine starke Lobby, geschweige denn im schwarzen Gronau. Die Anlage steigerte ihre Produktion auf 4.500 Tonnen angereichertes Uran pro Jahr. Der Betreiber, die Urenco-Gruppe, verkauft 97 Prozent der Produktion ins Ausland. 35 Kernkraftwerke lassen sich damit versorgen – mehr als doppelt so viele, wie in Deutschland vor Fukushima am Netz waren.
Die kleine Gruppe hätte es auch idyllischer haben können. Östlich der Anlage verläuft parallel zum Maschendraht eine Birkenallee. Dahinter breitet sich eine Schrebergartenkolonie aus. Auf dem UAA-Gelände gegenüber versperrt ein mehrere Meter hoher Erdwall Passanten und Kleingärtnern die Sicht auf große Teile der Uranfabrik. Doch Dächer und Schornsteine der mächtigen Fabrikhallen ragen hervor. Ganz verstecken lassen sie sich nicht. Die Aktivisten sorgen dafür, dass die damit verbundene Gefahr nicht vollkommen verdrängt wird. Sie haben an der Frontseite aufgebaut. Die liegt im Gewerbegebiet. Dort sind die Straßen an einem Sonntag zwar wie leergefegt. Doch können sie hier am Haupttor von Urenco Flagge zeigen. Ein Mann mit Hut hält tatsächlich eine Anti-AKW-Fahne hoch. Ein anderer packt sein Saxofon aus und spielt Beatles-Stücke. „Get back“ und „We can work it out“. Eine Frau holt einen Kuchen aus dem Kofferraum ihres Kleinwagens. Es ist fast alles so wie immer. Nur Gabi mit dem Kaffee fehlt, stellt Buchholz fest. Sie ist heute krank.
Tausende Tonnen Uran lagern in Gronau unter freiem Himmel. Für Buchholz ist das der Skandal schlechthin. „Die Landesregierung sollte wissen, dass die Anlage gegen Flugzeugabstürze nicht gesichert ist“, sagt er. Die Uranfabrik könnte aber noch so sicher sein, Buchholz würde sie nicht haben wollen. Für ihn endet der Kampf gegen die Uranindustrie auch nicht an der deutschen Grenze. Wenn es nach ihm geht, müssen Uranabbau und -produktion weltweit gestoppt werden.
Im Januar dieses Jahres hat er Einspruch gegen den Ausbau der UAA im niederländischen Almelo eingelegt. Die liegt nur 40 Kilometer westlich von Gronau und gehört ebenfalls zu Urenco. Weltweit betreibt die Firma insgesamt vier Uranfabriken. Alle Anlagen zusammen produzieren rund 14.600 Tonnen angereichertes Uran pro Jahr. Sie decken fast 30 Prozent des Weltmarktes ab und bescheren ihren Eigentümern, darunter die Konzerne Eon und RWE, rund 1,3 Milliarden Euro Umsatz. Die beiden deutschen Energieriesen sind zu jeweils einem Sechstel an dem Konsortium beteiligt.
Kein Kaffee, aber auf die Polizei ist Verlass. Ein Streifenwagen und ein grün-weißer Polizeibus haben sich von zwei Seiten der Gruppe genähert. Sie positionieren sich in Sichtweite. Ein Beamter in dunkelgrüner Montur steigt aus dem Auto und bewegt sich auf die Aktivisten zu. Er steuert Udo Buchholz an. Die beiden Männer begegnen sich mit einem Grinsen und reichen sich die Hände. „Jetzt kommt die obligatorische Frage“, sagt der Polizist unvermittelt und schaut verlegen zu Boden. Vielleicht, weil er die Antwort kennt, sie schon dutzende Male gehört hat und trotzdem fragt: „Wer ist der Versammlungsleiter?“ Alle anderen schauen sich kurz an, offenbar wissen sie nicht, ob sie lachen oder schimpfen sollen. Schließlich erwidern sie im Chor: „Das ist keine Versammlung.“ So wird es später zwar auch im Bericht des Polizisten stehen, dennoch ergeht eine Anzeige gegen unbekannt, gegen einen unbekannten Versammlungsleiter. Der Beamte bleibt noch auf ein paar freundliche Worte, dann steigt er wieder in seinen Streifenwagen und verschwindet hinter der spiegelnden Windschutzscheibe um die Aktivisten aus der Ferne zu beobachten. Kuchen darf er nicht annehmen, schließlich ist er ja im Dienst.
Monat für Monat wiederholt sich diese Szene. Die ersten zehn Jahre blieben die Spaziergänger unbehelligt. Doch irgendwann rief Urenco die Polizei, wie Buchholz erzählt. Inzwischen kommt die von allein. Urenco genießt in Gronau offenbar Sonderstatus. Die Firma habe sich in der 47.000 Einwohner zählenden Gemeinde „eingekauft“, behaupten die Aktivisten. Allein über die Gewerbesteuer lande eine beträchtliche Summe im Stadtsäckel. Genaue Zahlen können sie aber nicht nennen.
Klar ist dagegen: Urenco macht sich mit kleineren Aufmerksamkeiten beliebt. Erst kürzlich stellte das Unternehmen mit einer Finanzspritze sicher, dass der Karnevalsumzug stattfinden konnte. Urenco sponsert die Stadtbücherei, Vereine und Kindertagesstätten. Auch das Rock- und Popmuseum bekommt einen Obolus. Mit dem SPD-Mann Chris Breuer hat Urenco sogar einen Mitarbeiter direkt im Rat der Stadt. Vor einem Jahr heuerte Breuer als Pressesprecher bei dem Uran-Hersteller an. Seine Fraktion forderte ihn auf, sein Mandat niederzulegen. Breuer sagt, dass er Arbeit und Politik voneinander trennen könne. Buchholz nennt ihn einen Spaltpilz. Seine Vermutung: „Urenco wollte die Partei entzweien.“ Wenn Buchholz recht hat, dann ging diese Strategie auf. Statt Breuer traten andere aus der SPD von ihren Posten zurück.
Die Füße wollen nicht mehr so
Mit Abspalten hat auch Buchholz seine Erfahrungen. Vor sieben Jahren kehrte den Grünen den Rücken – und mit ihm der gesamte Gronauer Ortsverband. Der Grund: Die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf hatte die vorerst letzte Ausbaustufe der Uranfabrik genehmigt. Buchholz versuchte vergeblich, beim Landesvorstand der Grünen zu intervenieren. Wer keine Atomkraftwerke will, dürfe auch keine Produktionsstätten für nukleare Brennstoffe zulassen, argumentierte er. Doch weder damals noch heute erhalten die Gronauer von der grünen Politik die erhoffte Unterstützung.
Ihr Weg ist beschwerlich. Vor ein paar Jahren hat die Uranfabrik die Grenzen ausgedehnt. Der Maschendrahtzaun umspannt mittlerweile rund 80 Hektar, und der Spaziergang drum herum ist länger geworden. Ihre Füße wollen sie nicht mehr so weit tragen, sagen einige Aktivisten. Der Protest ist in die Jahre gekommen. Er bevorzugt mittlerweile ein Picknick vor der Anlage. Von hier aus lässt sich außerdem das Haupttor gut beobachten. Die Uran-Produktion macht sonntags offenbar keine Pause. Immer wieder tauchen Mitarbeiter von Urenco auf. Die einen kommen, die anderen gehen. Sie huschen vom Parkplatz vorbei am Sicherheitspersonal aufs Gelände oder eben umgekehrt: von der Anlage zu ihren Autos. Sie wirken jünger als der Protest vor ihrer Arbeitsstätte. Sie würdigen ihn nur flüchtigen Blickes.
„UAA, mach doch endlich den Laden dicht. UAA, wir brauchen dich wirklich nicht.“ Der Mann mit dem Saxofon singt eine selbstgereimte Liedzeile. Die anderen Aktivisten haben gerade Kuchen im Mund oder sind in Gespräche vertieft. Sie planen die zweitgrößte Demo in ihrer Stadt – zum Jahrestag der Katastrophe von Fukushima. Die größte gab es vor fast einem Jahr. Am Ostermontag 2011 protestierten 15.000 Menschen vor der Uranfabrik. Es war der Jahrestag des Unglücks von Tschernobyl. Nie zuvor hatten so viele Menschen an der Gedenkdemo teilgenommen, die Höchstzahl lag bis dahin bei 400. Dann kam Fukushima.
Michael Billig ist freier Journalist. Auch für ihn war Gronau lange ein weißer Fleck im deutschen Atomatlas. Für die Reportage ist er einmal um das Gelände der Uranfabrik gelaufen
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