Er sei in die ungarische Literatur nicht integriert, hat Imre Kertész noch vor kurzem beiläufig angemerkt, kaum jemand wolle sich in seiner Heimat auf sein Werk beziehen. Tatsächlich sind die meisten seiner Werke in Ungarn derzeit vergriffen. Zwar hat das Opus magnum des Autors, der Roman eines Schicksallosen, drei Auflagen erlebt, einige seiner Bücher - wie die Sachbücher über Auschwitz - sind aber bis heute nicht gedruckt worden. So kommt es zu dem seltsamen Umstand, dass er mit einer einzigen Buchauflage in der Sprache seiner einstigen Verfolger mehr Leser erreicht als mit der Gesamtauflage seiner Bücher in Ungarn. Kertész selbst verweist lakonisch auf die Schwierigkeiten, die ihm die kommunistischen Kulturpolitiker bereiteten, als er in den sechziger und siebziger Jahren nach Dokumenten über den Holocaust in Ungarn forschte. In jenem Land, in dem innerhalb von sechs Wochen im Herbst 1944 über 450.000 Juden eingesperrt und deportiert wurden, tut man sich schwer mit der historischen Erinnerung.
Spätestens seit Donnerstag vergangener Woche, als die Nachricht von der Zuerkennung des diesjährigen Literaturnobelpreises an Imre Kertész um die Welt eilte, ist der international hoch angesehene Autor auch in Ungarn aus seiner Randständigkeit erlöst worden. Der ungarische Ministerpräsident Peter Medgessy übermittelte dem Preisträger, der sich seit einigen Wochen im Berliner Wissenschaftskolleg aufhält, seinen "aus tiefstem Herzen kommenden Dank" für den ersten Literaturnobelpreis, der an einen ungarischen Autor verliehen werde. Kertész habe ein "ungarisches Schicksal und die allgemein gültigen Erfahrungen der Vernichtung der ungarischen Juden formuliert".
Tatsächlich führen aber Imre Kertész´ Aufzeichnungen zu dem Werdegang eines "Schicksallosen" weit über nationale Grenzen und über spezifisch "ungarische" Erfahrungen hinaus. Sie führen ins Zentrum des Terrors, in den tiefsten Urgrund des Schreckens. Dort lagert die traumatische Urszene des Überlebenden: die Tortur. Die Tortur, hat der große Essayist Jean Améry einmal geschrieben, ist die Essenz des Nationalsozialismus. Wer diese Tortur, die totale Erniedrigung und Zermalmung des eigenen Ichs in den Konzentrationslagern überlebt hat, der wird, so Améry, seinem Dasein als Gemarteter nie wieder entkommen. Im Geiste seines literarischen Wahlverwandten Améry, dem er einen wichtigen Essay widmete hat, hat Kertész die Bewältigungsversuche eines Überwältigten zum Überlebensprogramm entwickelt.
Am 9. November 1929 in Budapest geboren, wuchs Kertész in einer jüdischen Familie auf. 1944 wurde der Fünfzehnjährige nach Auschwitz deportiert und bei Kriegsende 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. Wie viele Überlebende des NS-Terrors hat sich Kertész erst nach einer Phase der Scham der traumatischen Vergangenheit zugewandt. 1948 betätigte er sich zunächst als Hilfsarbeiter und Journalist bei einer ungarischen Tageszeitung, die sich aber bald in ein kommunistisches Parteiorgan verwandelte. Nach seiner Entlassung versuchte er sich ab 1953 als freischaffender Autor, wobei er sich zunächst mit Boulevardstücken und Musicals durchschlug, ab 1976 auch als Übersetzer moderner deutscher Klassiker. Aber erst 1985, mit der Neuausgabe seines Romans eines Schicksallosen, an dem er von 1960 bis 1973 gearbeitet hatte und der nach seiner Erstveröffentlichung 1975 totgeschwiegen worden war, brachte Kertész in Ungarn die ersehnte Anerkennung.
Im Roman eines Schicksallosen, dem Kernstück seiner großen Trilogie der Schicksallosigkeit, wird ein ahnungsloses Kind gefangen und verschleppt; immer wieder scheitert es bei der Anstrengung, irgendeinen Sinn in dem Grauen zu finden, das ihm zustößt. Detailliert wird die Ordnung des Terrors rekonstruiert: Der vierzehnjährige Gyurka berichtet von der Ankunft im Lager, der Einteilung der Häftlinge, der Unterbringung und den Essensregeln mit einer ebenso kühlen Objektivität wie von den Prozeduren des Massenmords. Kertész erzählt aus einer konsequent amoralischen Perspektive und verweigert den Heroismus des Leidens. Sein Held ist ein "vernünftiger Junge", für den die "sehr schön gearbeitete Peitsche des Aufsehers" zunächst ebenso ein Objekt der Bewunderung ist wie die fürchterlich effektive Organisation des Massenmords. Die Zwangsarbeit geht aber über Gyurkas Kräfte, schließlich erkrankt er schwer.
Kertész führt seinen Erzähler bis zum Schock der schmerzhaften Erkenntnis, dass er seiner Identität vollständig beraubt worden ist. Am Anfang hat der Schicksallose keine jüdische Identität, er versteht überhaupt nicht, was dieser Begriff überhaupt besagt. Aber als er dann gedemütigt auf dem Platz liegt und den "Gott dieser Welt" sieht, einen SS-Offizier, hat er das jüdische Schicksal angenommen.
Erst Jahre nach der endlosen Erniedrigung, nach dem furchtbaren Morden, erst nach seiner Rückkehr in eine Welt, die weiterlebt, als wäre nichts geschehen, erwachte in Kertész das Bedürfnis, als Schriftsteller Zeugnis abzulegen von Auschwitz. Im Roman Fiasko hat der Gemarterte von Auschwitz und Buchenwald diese Entscheidung für die Literatur beschrieben: "Vielleicht fing ich an zu schreiben, um mich an der Welt zu rächen ... Möglicherweise produzieren meine Nebennieren, die ich sogar aus Auschwitz heil nach Hause brachte, zuviel Adrenalin. Wieso auch nicht? In der Darstellung liegt schließlich eine Macht, in der sich der Aggressionstrieb für einen Augenblick legen, die einen Ausgleich, einen Übergangsfrieden erzeugen kann ... Ich wollte aus einem ewigen Objekt-Sein zum Subjekt werden, ich wollte aus einem Bezeichneten zu einem werden, der bezeichnet."
An einer anderen Stelle von Fiasko entschließt sich Kertész zu der kühnen Volte, im Gespräch mit einem Henker das Schicksal eines KZ-Opfers mit dem des Täters gleichzusetzen: Beide geraten in ihre Rolle durch eine "stillschweigende Übereinkunft" bezüglich der Ordnung des Terrors, beide agieren sie blind als Funktionäre der Normalität im totalen Ausnahmezustand und können mit ihrem "beispielhaft gelösten Leben" "moralische Authentizität" beanspruchen. Wie der Tod der Gefangenen im Vernichtungslager, so resümiert Kertész in sarkastischer Logik, eine "organisierte, in aller Öffentlichkeit abgesegnete, erledigte Sache" ist, so ist es auch, wenn der äußere Zwang erst einmal verinnerlicht worden ist, der gefühllose Mord.
In Deutschland erschien Kertész Trilogie seiner Schicksallosigkeit nicht in chronologischer Reihenfolge. Zuerst wurde 1992 Kaddisch für ein ungeborenes Kind veröffentlicht, ein in die Zukunft gerichtetes Kindertotenlied, in dem Kertesz zu begründen versucht, warum er nach Auschwitz kein neues Leben zeugen mochte. Im Galeerentagebuch (deutsch 1993), einem intellektuellen Arbeitsjournal, wühlt sich der Autor durch die Geistesgeschichte, um dort nach möglichen Erklärungen für den Schrecken der Konzentrationslager zu suchen. "Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz", notiert er hier, "Auschwitz spricht aus mir. Im Vergleich dazu erscheint mir alles andere als Schwachsinn." Der traumatisierte Überlebende empfindet sein Dasein als "Betriebspanne", als purer Zufall, der ständiger Rechtfertigung bedarf. Und diese Rechtfertigung liegt eben im Schreiben und im Aufzeichnen des Schreckens. Jedes Buch wird - mit einem Wort des rumänischen Verzweiflungsphilosophen E.M. Cioran - ein "aufgeschobener Selbstmord". Was dem Überlebenden bleibt, ist ein "zweckfreies Dulden": "Die mir am meisten gemäße Form des Selbstmords ist, wie es scheint, das Leben." Immer wieder kommt es im Galeerentagebuch zu Verweisen auf literarische Seelenverwandte. So erkennt Kertész in der Celanschen Todesfuge seine eigenen Erfahrungen wieder. Tief und bedrohlich liege in diesem Text das unerhörte Schicksal der Opfer verborgen. Auch ein Satz des Portugiesen Fernando Pessoa wirkt wie ein Bruchstück aus einem Kertész-Text: "Wer darf sich brüsten, in dieser Situation Mensch geblieben zu sein?"
Bis zum Juli 2003, so erklärte der Nobelpreisträger seinen ersten Gratulanten in Berlin, will er an seinem neuen Roman Liquidation arbeiten, in dem "ein letzter Blick auf den Holocaust" geworfen wird. Die erste Hälfte des Buches, das bei Suhrkamp erscheinen wird, sei schon fertig gestellt. Fünf seiner bisherigen Bücher sind bei seinem alten Verlag Rowohlt noch lieferbar. Neben dem Roman eines Schicksallosen sind das die Trilogie-Teile Fiasko und Kaddisch für ein ungeborenes Kind, daneben auch das Galeerentagebuch und die Selbsterkundung Ich - ein anderer. Mit Liquidation wird Kertész eine Grenze markieren müssen, den Abschluss eines in sich unabschließbaren Projekts: "Auschwitz", so erklärte er in einem Gespräch, "muss zu einem Gegenstand gemacht werden, von dem die Möglichkeit der Katharsis ausstrahlt. Es ist ein unaufgearbeitetes Trauma, und jedes Trauma durchläuft diesen Weg: Ereignis, Symptome, Verdrängung und schließlich die Befreiung von den Symptomen oder deren Wiederholung."
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