Die Deutschen und der europäische Osten", so schrieb einst der Dichter Johannes Bobrowski über sein Lebensthema, das füge sich zu "einer langen Geschichte aus Unglück und Verschuldung". Tatsächlich wütete hier seit den Tagen des Deutschen Ostens bis hin zum chauvinistischen Größenwahn des Dritten Reichs der nationalistische Dünkel, mit tödlichen Folgen für die osteuropäischen Völkerschaften. Im vormals ostpreußischen Grenzland, um den Fluss Memel herum, wo einst Polen, Russen und Deutsche in Nachbarschaft lebten, produzierte die faschistische Vision vom "Lebensraum im Osten" die schaurigsten Ergebnisse. Johannes Bobrowski war der erste deutsche Dichter, der in den sechziger Jahren diesen Schuldzusammenhang unzweideutig benannt und poetisch aufgearbeitet hat.
Ein poetischer Wahlverwandter Bobrowskis, der Dichter Manfred Peter Hein, hat nun in einer autobiographischen Erzählung die ostpreußische Tragödie als Geschichte von nationalistischer Verblendung, von Krieg, Vertreibung und Heimatverlust fortgeschrieben. Jahrzehntelang hat Hein die Ostland-Träume und -Traumata seiner Kindheit auf Distanz zu halten versucht und sie nur in einige wenige verschlüsselte Gedichte eingezeichnet. Dabei waren es gerade die schmerz vollen Erfahrungen mit der übermächtigen Figur des Vaters und die bedrückende Erinnerungen an den eigenen nationalistischen Allmachtstraum, die den jungen Dichter 1958 zur Übersiedlung nach Finnland bewogen. "Ich musste den Hass auf Deutschland verlernen", heißt es in einem entlegenen autobiographischen Text aus dem Jahr 1986, "um hinter der Versteinerung des Vaters noch etwas anderes zu sehn als trübsinnig aufrecht verkrampfte Gemütstiefe. Finnland verhieß mir Abstand vom eigenen Dilemma".
In welches existenzielle Dilemma der Dichter Hein in seiner Kindheit und Jugend verstrickt war, hat er in seiner Erzählung Fluchtfährte minuziös rekonstruiert. Diese Lebenserzählung gehorcht anderen literarischen Leitprinzipien als Heins Gedichte: Nicht Aussparung, extreme Reduktion und Verschlüsselung sind hier Produktionsgesetze, sondern ein tastendes, suchendes und manchmal atemloses Rekapitulieren, das die Lebens-Einzelheiten mikroskopiert, schwankend zwischen auktorialer Erzählung und Ich-Bekenntnis.
"Damals war ich Sektierer", notierte Hein in dem 1972 entstandenen Gedicht Nach der Detonation, einem der wenigen Texte, in denen der Autor seine ostpreußische Kinderzeit unverschlüsselt thematisiert hat. Dass ihm dieses Sektierertum von dem chauvinistischen Übereifer seines Vaters, eines überzeugten Nationalsozialisten und hoch dekorierten Frontkämpfers, eingepflanzt worden war, erhellt das "erste Buch" von Heins Erzählung, das die Jahre 1938 bis 1944 behandelt, den Weg des Jungen von seinem elterlichen Hof in Darkehmen bis in die "Nationalpolitische Erziehungsanstalt", die "Napola" im westpreußischen Stuhm. Der Umzug der Familie vom ostpreußischen Labiau nach Darkehmen, das auf Anordnung der Arisierungspolitiker den deutschen Namen Angerapp erhalten hatte, war schon eine rein ideologisch motivierte Aktion im Rahmen der Ostland-Besiedelung gewesen. Auf Wunsch des Vaters, der sich zuvor am Königsberger Institut für Osteuropäische Wirtschaft gemeinsam mit Theodor Oberländer (der später im Adenauerdeutschland zum Vertriebenenminister aufstieg) ideologische Meriten erworten hatte, sollte aus dem 1931 geborenen Sohn ein linientreuer "Jungmann" werden, ein treu dem Führer ergebener Muster-Nazi. Der in der Eliteschule Gedrillte träumte denn auch davon, sich nach dem "Endsieg" auf einem Ostlandwehrhof im Baltikum niederzulassen und als Forstmeister in Litauen für deutsche Zucht und Ordnung zu sorgen.
Während Hitlers Welteroberungspläne nach der Invasion der Alliierten im Juni 1944 zerbröseln, setzt der Vater seine deutsche Karriere fort: zunächst als Kompanieführer vor Leningrad, dann als Offizier im besetzten Polen, schließlich als Stadtkommandant in Frankreich, wo er an der Universität Straßburg über Aspekte des Verwundetetensportwesens promoviert. Seine Wunschbiographie als heroischer Frontkämpfer und Ostlandpionier will der Vater nach dem Krieg in einem Roman fortschreiben - dem Sohn ist dabei die Rolle des gelehrigen Schülers und Lektors zugedacht.
Aber die Wirklichkeit des Krieges erlaubt Ende 1944 keine Ostland- und auch keine Schriftsteller-Tärume mehr. Im zweiten Teil seiner Erzählung schildert Hein den Beginn seiner langen Fluchtbewegung, die mit dem Zurückweichen vor der Roten Armee einsetzt und erst mit seiner Übersiedlung nach Finnland vorläufig endet. Die Fluchtfährte des Manfred Peter Hein führt vom untergehenden Ostpreußen zunächst nach Gotha in Thüringen, woraus sich die Familie in letzter Minute ins Hessische rettet, als der Ort der russischen Besatzungszone zugeschlagen wird. Selbst auf diesem gefährlichen Fluchtweg schleppt der Vater seinen Rassenwahn noch mit sich und warnt vor "jüdischer Hast".
Die Wahnideen wirken als innere Tätowierung auch beim Sohn fort, der seinen Ostland-Mythos bis in die Nachkriegsjahre und seine Gymnasialzeit in Bad Wildungen hinüberrettet. Bei seiner ersten "Dichterlesung" vor der Schulklasse bringt er eine schwülstige Heldennovelle zum Vortrag, deren militanter Titel "Ostlandritt" vom Vater zum weniger verfänglichen "Heimgang" abgemildert wird.
Erst als Student befreit sich Hein langsam aus den völkischen Ressentiments und Mythen des Vaters, begeistert sich für neue Lektüren und neue geistige Vorbilder: Kierkegaard, Kafka, Camus. Erst jetzt erlebt er die fortdauernden ostländischen Phantasmagorien des Vaters als quälend, und bricht aus in eine unruhige transitorische Existenz, die ihn von Marburg nach München und schließlich nach Finnland führt, wo er zuerst als Gelegenheitsarbeiter und später als Bibliothekar und Sprachlehrer in Helsinki einen Neubeginn wagt. "Auf den Gedanken", so Hein im Epilog seiner Erzählung, "dass immer aufs neu Suomi/Finnland ... Fluchtpunkt auf einer weit in die Kindheit zurückgehenden Fluchtlinie werden musste, ist er spät erst gekommen, ohne nachwievor sagen zu können, was dieses auf die Linie gesetzt."
Erst in Finnland entwickelt sich Hein, der sein erstes Gedicht 1956 in Walter Höllerers legendärer Anthologie Transit publizierte, zum Dichter; erst jetzt schreibt er sich frei von sprachlichen Übereinkünften, lernt das mühsame Durchbuchstabieren der Wörter im poetischen Prozess, der die Selbstverständlichkeit der geläufigen Rede aufhebt. Aus dem naiven Ostland-Reiter wird allmählich der Poesie-Historiker, der in Zeitschriften und Anthologien das große "Landschaften-Projekt" seines Vorbilds und Freundes Johannes Bobrowski fortführt und dessen enzyklopädischen Plan einer lyrischen Gesamtdarstellung der nordosteuropäischen Völker mit der Anthologie Auf der Erde ein Fleck (1991) realisiert. Als lebensgeschichtlicher Hintergrund all seiner Editionen und all seiner sprachmagischen Gedichte wird jetzt die Fluchtfährte sichtbar, die Hein in seiner Lebenserzählung biographisch und topographisch getreu aufgezeichnet hat.
Manfred Peter Hein: Fluchtfährte. Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 1999, 218 Seiten, 38,- DM.
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