Das geschundene Ich muss viele Tode sterben

Ungeheuerliche Dinge Eine kleine Literaturgeschichte des Schmerzes

Der Schmerz ist ein heimtückischer Despot. Wenn er in seinem tyrannischen Streben die Macht über den Menschen erringt, kann er den Betroffenen vollständig verschlingen. Er zerreißt und entstellt uns, er lässt uns zittern, stöhnen und schreien - mit seiner überwältigenden Präsenz reduziert er uns auf die schiere physische Existenz. Mit medizinischen Mitteln kann der Schmerz eingedämmt oder gelindert, nie aber für immer besiegt werden. Der Schriftsteller Siegfried Lenz hat in einem Essay Über den Schmerz auf die hilflosen Versuche hingewiesen, durch pharmakologische Kunst den "schmerzfreien Menschen" zu garantieren. Als "gut unterrichtete Kostgänger der Pharmaindustrie" seien wir ja auf rasche Beseitigung des Übeltäters bedacht, um rasch "auf bewährte Funktionshöhe zu kommen". Aber der Schmerz holt uns immer wieder auf den Boden der physischen Leidenstatsachen zurück.

Für all die ziehenden, stechenden, brennenden, krampfartigen Schmerzen, denen ein Mensch ausgesetzt sein kann, gibt es jenseits der kühlen medizinischen Terminologie kaum präzise Wörter. Auch den Schriftstellern, die für die Beschreibung von menschlichen Zuständen aller Art disponiert zu sein scheinen, versagt bei der direkten Konfrontation mit dem Schmerz oft die Sprache. Eine Theorie des Schmerzes, wie sie ein Ernst Jünger 1938 versucht hat, kann nicht gelingen; denn die Zerreißproben des Schmerzes lassen sich offenbar nur als individuelle Leidensgeschichten aufzeichnen, nicht jedoch als verallgemeinerbare Pathologien. Zwar wurden in den vergangenen beiden Jahrzehnten penible literarische Selbsterkundungen über den tödlichen Verlauf von Krebs- oder Aids-Erkrankungen veröffentlicht. Hier sind etwa die den inneren Abgrund ausleuchtenden Bücher von Harold Brodkey (Die Geschichte meines Todes), die Diktate über Sterben und Tod des Max Frisch-Freundes Peter Noll oder die erschütternden Selbstsezierungen der Philosophin Gillian Rose (Die Arbeit der Liebe) hervorzuheben.

All diese Bücher protokollieren den Schock über das herannahende Sterben bis hin zum allmählichen Hinübergleiten in das Kraftfeld des Todes. Den bislang unerreichten Maßstab hat hier der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson mit seinem Roman Der Tod eines Bienenzüchters (1978) gesetzt, der auf erschütternde Weise vorführt, wie der Schmerz einem Krebskranken zusetzen kann: als reine physische Destruktion, als Fesselung an das Leiden, und letztlich als absolute Sinnentleerung. Der Romanheld erfährt den Schmerz als unfassbare, "absolut fremde, weißglühende" Kraft, die das Nervensystem bis auf das letzte Molekül okkupiert. Aber zugleich erhält das schmerzgeplagte Subjekt zum erstenmal eine sinnliche Erfahrung von Tod und Leben als "UNGEHEUERLICHEN Dingen".

Die meisten Erzählungen und Romane vom heran nahenden Tod erhellen aber nur in wenigen Passagen die furchtbaren Begleitumstände der Schmerzempfindung. Auch aus der Epoche vor der segensreichen Erfindung des Antibiotikums gibt es nur wenige literarische Zeugnisse über die Grausamkeiten physischen Schmerzes. Notorisch von Krankheit verfolgte Autoren wie Friedrich Schiller haben ihr Leiden nicht in ihren bekannten Werken objektiviert, sondern allenfalls in Tagebüchern oder Briefen festgehalten. Immerhin hatte Schiller in seiner medizinischen Abschlussarbeit "über den Unterschied des entzündlichen Fiebers und des Faulfiebers" schon 1780 eine erste Vorahnung seiner späteren Leiden erkennen lassen. Seit 1791 litt er regelmäßig an bösen grippalen Infekten der Atemwege, die sich in grausamen Asthmasymptomen und kruppösen Pneumonien äußerten. Aber erst in seinen Briefen beschrieb er jene Fieberschübe und Atemnöte, die ihm schließlich zum Verhängnis wurden.

Zu den Vorläufern des literarischen Schmerz-Forschers Lars Gustafsson darf man jedoch einige Autoren des 19. Jahrhunderts rechnen, die von der klassischen Schriftstellerkrankheit der damaligen Zeit zermürbt wurden. Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, Heinrich Heine, Guy de Maupassant und der weniger bekannte Alphonse Daudet hatten - bei allen Unterschieden in ihren Poetiken - eine biographische Gemeinsamkeit: sie litten an Syphilis. Eine Krankheit, die sich, je nach Ausprägung, in muskulären und motorischen Problemen manifestierte und im tertiären Stadium im völligen Verlust der Kontrolle über die Körperorgane enden konnte. Die Handbücher zur klinischen Neurologie verweisen auf "die quälendsten Schmerzen, die der medizinischen Wissenschaft bekannt sind".

Während Heinrich Heine in seiner "Matratzengruft" nur wenig von den ihn zermürbenden Qualen preisgab, spottete Gustave Flaubert sarkastisch, heutzutage leide "ja mehr oder weniger jeder an Syphilis". Am genauesten hat der heutzutage vergessene Autor Alphonse Daudet (1840-1897) die Tortur des eigenen Untergangs beobachtet. Bereits 1885 erklärte ihn der berühmteste Neurologe seiner Zeit für "verloren", doch Daudet überlebte dank einer unfassbaren Willensstärke dieses Todesurteil um zwölf Jahre. Um 1884/85 hatte die Neurosyphilis, die sich zunächst in rheumatischen Beschwerden manifestiert, bei Daudet das tertiäre Stadium erreicht, und es begann eine furchtbare Leidensstrecke, in der immer stärkere Knochenschmerzen zur absoluten Bewegungslosigkeit des Kranken führten. Um so verblüffender ist, wie Daudet auf diesen unaufhaltsamen Weg in die Paralyse reagierte.

In bewundernswertem Gleichmut und der Ausschaltung jeglichen Selbstmitleids konzentrierte er sich darauf, den Weg in das Leiden in distanzierter Sachlichkeit zu protokollieren. 1884 begann er im Blick auf ein mögliches Buchprojekt mit Aufzeichnungen über seine Syphilis-Erkrankung, ohne je eine adäquate literarische Form zu finden. Als ein Anatom seiner selbst protokollierte Daudet selbst im Höchststadium des Schmerzes exakt seinen prämortalen Zustand. Erst 110 Jahre nach ihrer Niederschrift fanden die Aufzeichnungen Daudets, ergänzt durch einen scharfsinnigen Kommentar des englischen Romanciers Julian Barnes, einen deutschen Verleger.

Daudets faszinierender Chronik seines privaten Infernos kann man sich schwer entziehen. In dem südfranzösischen Kurort Lamalou entwarf er ein kleines Pandämonium der Syphilis-Kranken, die sich zu gespenstischen Wanderungen durch "das Verließ der Inquisition" gruppieren. Während der Kranke durch unerträgliches Leid in die Einsamkeit zurückgeworfen wird, entwirft sein klar gebliebener Geist verstörende Bilder der Qual: "Jeden Abend fürchterliche Thoraxspasmen. Ich lese lange, im Bett sitzend - die einzige erträgliche Position; armer alter verwundeter Don Quichotte ... nur noch Rüstung, grausam um die Lenden mit einer stählernen Gürtelschnalle gepresst - Glutdornen, spitz wie Nadeln." Es ist kaum zu begreifen, dass Alphonse Daudet während seiner furchtbaren zehnjährigen Leidenszeit dem Schmerz noch mindestens fünf Romane abgetrotzt hat.

Schreiben, um nicht zu sterben: Das ist das Programm des "geschundenen Ich", das ästhetischen Gewinn aus der Beobachtung der eigenen Agonie zieht: "Man muss viele Tode sterben, ehe man stirbt." Aber der Schmerz hat auch den Charakter einer Offenbarung. Er zeigt uns, dass wir nur befristet in der Welt sind - und er zeigt uns den Mitleidenden, eröffnet uns die Möglichkeit einer Bruderschaft im Schmerz. Am Ende zeigt er uns gar das Paradies. Denn "das Paradies", so lautet die verblüffende Pointe in Gustafssons Tod eines Bienenzüchters, "muss darin bestehen, dass ein Schmerz aufhört. Aber das bedeutet doch, dass wir im Paradies leben, solange wir keine Schmerzen haben! Und wir merken es nicht!"


Romane und Erzählungen über den Schmerz:

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters. Roman. Fischer TB, 250 S., 9,90 EUR


Harold Brodkey: Die Geschichte meines Todes. Aus d. Amerik. v. Angela Praesent. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 187 S., 7,50 EUR


Peter Noll: Diktate über Leben und Tod. Pendo Verlag, 357 S., ab 3,90 EUR gebraucht bei amazon.de


Siegfried Lenz: Über den Schmerz. Essays. Hoffmann Campe Verlag, 162 S.,
19,90 EUR

Alphonse Daudet: Im Land der Schmerzen. Aus dem Französischen von Dirk Hemjeoltmanns. Mit einem Kommentar von Julian Barnes. Aus dem Englischen von Bernhard Liesen. Manholt, 102 S., 14,90 EUR


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