Heimat«, hat Martin Walser einmal festgestellt, »scheint es vor allem in Süddeutschland zu geben.« Tatsächlich gibt es nirgendwo mehr Gamsbärte, Gesangvereine, Kirchenchöre, Trachtengruppen und Beichtstühle, tatsächlich findet man nirgendwo mehr Rosenkränze, Melkschemel und »Almdudler« als in den süddeutschen und den dort angrenzenden Regionen. Wenn uns heute noch ein literarischer Begriff von Heimat in der Gegenwartsliteratur begegnet, dann meist in süddeutschen, helvetischen oder österreichischen Kontexten. Unvermeidlich treffen wir in Texten, in denen sich ein »regionales Weltgefühl« (Wulf Kirsten) artikuliert, auf Wörter und Handlungen, die für Metropolenbewohner zu »Fremdwörtern« aus archaischer Vorzeit geronnen sind.
»Meine Wörter (Fremdwörter?)«, so erklärt uns denn auch der neue tragikomische Romanheld des Schriftstellers Arnold Stadler, »waren: Kopftuch, Kirchenchorausflug, Sonderfahrt, Sessellift, Einkehren, Tellerschnitzel, Salamibrot, Stalltürchen, Viehmantel, Hotzenwald.« An diesen elementaren Erfahrungsmustern der provinziellen Lebenswelt festzuhalten, auch gegen den Spott der aufgeklärten Metropolenmenschen, ist zum Charakteristikum von Arnold Stadlers Romanhelden geworden. Ihre Lebenswelt liegt seit Stadlers Romanerstling Ich war einmal (1989) im hintersten Winkel Oberschwabens, in dem der Autor aufgewachsen ist: Es ist die Gegend um das Städtchen Messkirch, bekannt als badisch-schwäbisches Sibirien und als philosophischer Heimatboden Martin Heideggers, den dieser in zahlreichen Schriften verherrlicht hat. Wen es - wie Stadlers Helden - aus dem Hotzenwald und der badisch-alemannischen Pampa in die moderne Welt verschlägt, der muss nicht nur mit Hohn und Spott der urbanen Besserwisser rechnen, sondern auch mit dem Scheitern all seiner Lebenspläne. Der Hotzenwäldler wird in der modernen Welt aufgrund seiner Unbeholfenheit zur Lachnummer - und zum Chronisten seiner Lebensuntüchtigkeit. Das Lebensglück ist für Engelbert Hotz, Romanheld in Der Tod und ich, wir zwei« (1996), und für all die anderen epischen Doubles Stadlers jedenfalls immer anderswo, unerreichbar für irdische Existenzbemühung. So oft Stadlers Helden auch versuchen, aus der prekären Idyllik ihrer Heimatdörfer Messkirch, Schwackenreute, Waldshut, Rast oder Kreenheinstetten auszubrechen, am Ende landen sie doch wieder in der tief katholischen glücksresistenten Provinz, wo Sein und Zeit stillzustehen scheinen.
»Für keine Blutwurst der Welt«, hadert denn auch Engelbert Hotz, der tragikomische Heimatdichter und Romanheld in Der Tod und ich, wir zwei, »möchte ich noch einmal hierher zurückkommen.« Unter den urgesunden Pragmatikern des ländlichen Lebens bei Waldshut gilt Hotz als notorischer Versager, der sich mehr schlecht als recht durchs Leben mogelt; ein Träumer, dem nicht nur »der Handel, auch der Viehhandel, das Handeln überhaupt versagt blieb«. Als Engelbert mit dem reichen Reederssohn Henry zusammentrifft, scheint er einen neuen Lebenssinn gefunden zu haben: das Warten auf den Erbschein. Vom siebzigsten Geburtstag seines Gönners bis zu dessen jämmerlichen Ende im Altersheim begleitet ihn Engelbert durch alle Widrigkeiten des Lebens, nicht ohne den Hintergedanken, sich durch das zu erwartende Erbe von allem Lebensunglück zu sanieren. Doch als »promovierte Träumer« sind Stadlers Helden in der modernen Welt aufs Scheitern abonniert. Der Lebensplan des ewigen Verlierers Engelbert Hotz gerät daher ebenso aus den Fugen wie die Liebes-Visionen des frühpensionierten Geschichtslehrers im neuen Roman Ein hinreissender Schrotthändler. Dass die religiöse Ordnung zerfallen und durch keine innerweltliche Heilsgewissheit ersetzt werden kann - das ist der Leidensgrund von Stadlers Helden, daraus resultiert der »Schmerz als Grundriss des Seins«, jene Existenzerfahrung Heideggers, die Arnold Stadtler als melancholisches Motto für seine Romane adoptiert hat.
Wie seine epischen Vorgänger ist auch Stad lers neuer Held ein tragikomischer Unglücksrabe, der sich bei aller Selbstdisziplinierung nicht mit den Routinen des saturierten bürgerlichen Daseins abfinden kann. Schon mit 42 Jahren ist der nach Köln entlaufene Abkömmling aus dem Bauerndorf Kreenheinstetten am Ende angekommen. Seine pragmatischen Bemühungen, die Ehe mit einer hanseatischen Chirurgin nach den Regeln einer friedlichen Koexistenz zu führen, sind fehlgeschlagen, wegen psychosomatischer Beschwerden dämmert der Gymnasiallehrer schon in einem Frührentnerdasein dahin. Verursacht hat diese »vegetative Dystonie« ein schöner Fremdling vom Balkan, der eines Tages urplötzlich in die kultivierte Langeweile des Ehepaars einbricht und deren Leben nachhaltig verändert. Adrian, der »hinreissende Schrott händler« des Romantitels, erobert nicht nur die Herzen des Ehepaars im Sturm, sondern versetzt sie auch in einen Zustand der Hörigkeit. Aus einer Art Lustknabe wird rasch der dominierende Part der Dreierbeziehung, der die rivalisierenden Eheleute nach Belieben ausbeutet und schließlich mit der Ehefrau auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Den hanebüchen kolportagehaften Liebesroman, den eine solche Handlungsskizze erwarten lässt, hat Arnold Stadler glücklicherweise nicht geschrieben. Er nimmt vielmehr alle Intrigen und Rankünen dieses grausamen Liebes- und Eifersuchtsspiels in vieldeutige Anspielungen und Verrätselungen zurück, er stellt seine Figuren nicht bloß, sondern verbirgt ihre Leiden und Schmerzen hinter seiner hochkomischen Erzählweise. Besonders in den ersten Kapiteln, die uns nach Überlingen am Bodensee und in die Alltagsspießigkeiten einer höheren Mittelstandsehe führen, verstrickt Stadler seine Helden in die witzigsten Konstellationen. Gabriele, die hanseatische Handchirurgin, befällt jedesmal ein Schauder an Peinlichkeit, wenn ihr Ehemann von seinen Kindheitserfahrungen auf dem Lande zu erzählen beginnt. Das Sprechen über Kirchenchorausflüge, so resümiert Stadlers Held treffend, ist in der profanierten Welt genauso tabu wie das Sprechen von Gott: »Von Ficken hätte ich sprechen können, das war nun möglich, ein gesellschaftsfähig gewordenes Wort, nicht aber von Gott.« So muss die Bodensee-Reise, anlässlich des 20. Hochzeitstags der Eheleute, zwangsläufig in einem Desaster enden.
Anlässlich einer Beerdigung nach Kreenheinstetten zurückgekehrt, trifft der Held dort aber nur auf eine denaturierte Heimat, in der flächendeckend Geländefahrer mit vom Alkohol verwüsteten Gesichtern die Gegend unsicher machen. Die Rituale des eingeborenen Katholizismus vermögen keinen Trost mehr zu spenden, auch von Abraham a Sancta Clara, dem aus Kreenheinstetten stammenden Bussprediger des 17. Jahrhunderts ist kein erlösendes Wort mehr zu erwarten.
Hinter all der Heiterkeit, mit der Stadlers Erzähler etwa vom alljährlichen Messkircher »Wurstschnappen« berichtet, verbirgt sich eine sich langsam zur Seelenlähmung ausweitende Melancholie, die den Helden allmählich von innen aufzehrt. Verlassen von seiner Ehefrau und von dem Lustobjekt Adrian, überlässt sich der in der Psychiatrie gestrandete Erzähler seinem zunehmenden Heimweh: »Das Heimweh kam beim Erzählen, während ich mich erinnerte.«
Aus diesem Heimweh, aus dieser unstillbaren Sehnsucht der Erinnerung, ist auch in diesem neuen, fünften Roman des desig nierten Büchner-Preisträgers Arnold Stadler große Literatur entstanden. Gewiss: Das Liebesmelodram mit dem »hinreissenden Schrotthändler« Adrian ist mitunter zu grell ausgeleuchtet, die eine oder andere Episode mit plakativen Pointen garniert. Als Erzähler ist Stadler immer auch Übertreibungskünstler, bleibt ihm doch nur die Heiterkeit als das einzig probate Mittel zur Verzweiflungsabwehr. Sein Romanheld verlässt sich - vergeblich - auf seinen »schmerzstillenden Mercedes«. Das einzig verlässliche Schmerzmittel jedoch, bei dem freilich die Gefahr der Abhängigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, bleibt - die Literatur.
Arnold Stadler: Der Tod und ich, wir zwei. Roman. Residenz Verlag, Salzburg 1998 ,224 Seiten, DM 49,80
Arnold Stadler: Ein hinreissender Schrotthändler. Roman. Dumont Verlag, Köln 1999, 238 Seiten, DM 39,80
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