Ein Corpus Delicti im Busch

TEXTGALERIE Ein Gedicht als "corpus delicti"? Es ist kaum noch vorstellbar, dass lyrische Texte zum Gegenstand öffentlicher Erregung oder gar juristischer ...

Ein Gedicht als "corpus delicti"? Es ist kaum noch vorstellbar, dass lyrische Texte zum Gegenstand öffentlicher Erregung oder gar juristischer Auseinandersetzungen werden können. Die letzten Kämpfe dieser Art wurden in jener unendlich fernen Epoche ausgefochten, da Gedichte noch als potentiell "subversive" Sprachgebilde ernst genommen wurden. Als sich die Dichter noch als "freie Mitarbeiter der Klassenkämpfe" definierten, schrieb Friedrich Christian Delius seine bittere "Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende", die ihm einen langwierigen Prozess durch den gekränkten Kaufhauskönig eintrug. Auf dem Höhepunkt der Terrorismus-Hysterie provozierte dann Erich Fried mit seinem Gedicht "Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback" den Aufschrei der öffentlichen Moral, die ohne nähere Textkenntnis dem Autor faschistischen Sprachgebrauch unterstellte.

Ausgerechnet der vokabuläre Furor eines Textes, den man der "sprachexperimentellen" Tradition zurechnen kann, hat die Lyrik nun wieder in den Gerichtssaal gebracht. Das ingesamt 94 Seiten umfassende Prosa-Poem der Schriftstellerin Birgit Kempker Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag, hat das empfindliche Gemüt eines Mannes namens Cornelius Busch derart in Wallung gebracht, dass er beim Landgericht Essen eine Klage gegen die Autorin und den Droschl-Verlag einreichte, die nicht nur auf die Erlangung von Schmerzensgeld, sondern auf die Vernichtung des Textes zielt.

Diesmal ist es nicht so sehr ein Bedürfnis nach politischer Zensur, das den Beschwerdeführer antreibt, sondern die "schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts" sowie seiner "Intimsphäre". Der beleidigte Ankläger glaubt sich in der von Birigt Klempker apostrophierten Kunstfigur gleichen Namens wiederzuerkennen - unter Berufung auf das biographische Faktum, dass es zwischen ihm und der Autorin in fernen pubertären Zeiten eine kurze Liebesaffäre gegeben haben soll. Dass zwischen der Figur eines poetischen Textes und ihrem empirischen Vorbild aus der Wirklichkeit immer eine unaufhebbare Differenz besteht, dass also die Realperson und die Kunstfigur "Cornelius Busch" zwei völlig verschiedene Subjekte sind - gegenüber dieser Einsicht bleiben die Ankläger blind. Ignoriert werden vom selbst ernannten "Opfer" der literarischen Einbildungskraft auch die unübersehbaren Textsignale der Fiktionalisierung, die "Cornelius Busch" als eine Projektionsfigur der poetisch überbordenden Imagination kenntlich machen.

Es handelt sich hier, wie schon an dem kurzen Ausschnitt aus ingesamt 200 Textsequenzen deutlich wird, um eine genuin lyrische Textkomposition, in der die litaneiartige Repetition der Periode "Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag / war es Cornelius Busch" die Motorik des Textes bestimmt. Der Name "Cornelius Busch" fungiert darin als mehrdeutiges Zeichen, als poesie-generierendes Signalwort, das eine Kaskade von Wörtern und Wortspielen in Gang setzt. "Cornelius Busch" erscheint in dieser hochmusikalischen und mitunter ins Hochkomische treibenden Suada nicht als biographisch fixierbare Person, sondern als suggestives vokabuläres Assoziations-Zentrum, an das sich völlig widersprüchliche Einfälle und Erinnerungsbilder des schreibenden Ich anlagern. Nicht "Cornelius Busch" wird in diesem Prosa-Poem dekonstruiert, sondern die Sprache selbst, in der sich ständig "Phasenverschiebungen" vollziehen und kein Wort in einer fixen Semantik stillgelegt werden kann. Der Textgutachter und Literaturprofessor Wendelin Schmidt-Dengler hat die Causa Kempker/Busch so resümiert: "Man kann eher hinter der Iphigenie Goethes Frau von Steins vermuten als hinter 'Cornelius Busch' Cornelius Busch."

Birgit Kempker

Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag
war es Cornelius Busch, er war Mann, Junge,
Mädchen, Frau, Mutter, Vater, Oma, Opa, Blume, Tier
und Sofa, er war wie ich, er war das andre von mir,
gar nicht wie ich, er war sanft, fuhr den Bulli mit den
Rollstühlen drin durch die Wiesen mit den Stieren,
er hatte Muckis und Matrosenpullover, er hatte was
im Kopf, was Verrücktes, Locken, er war streng,
zärtlich, witzig, normal, außergewöhnlich, sehr ernst,
er passte in die Natur, war ordentlich, wirr höflich,
er war künstlich, ironisch, bös, er war lieb, anmutig,
tapsig, galant, ein Fisch, ein Vogel, Frosch, er war so
alt wie ich, ich viel älter, er viel jünger, und er viel
älter und ich viel jünger als er, phasenverschoben, das
war, wenn wir sagten: liegen da nicht ein Mädchen
und ein Junge im Bett? es ist nicht zu fassen, dass ich
eine bin, zu der so ein Satz einmal passt.

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