"Ganz kleine Verschiebungen", hat Ernst Jandl einmal gesagt, es gehe in der Poesiegeschichte immer nur um "ganz kleine Verschiebungen". Alles, was man als poetischer Nachgeborener erreichen könne, sei "ein Weniges ein wenig anders machen als es schon war". Aber welche minimen Verschiebungen bleiben für die Jungen Lyriker des 21. Jahrhunderts noch übrig, wenn alle innovativen Textstrategien von diversen Avantgarden bereits durchexerziert worden sind?
Über ein Jahrzehnt lang hatte die Literaturkritik die Lust an der Gegenwartslyrik verloren - die Dichter selbst frönten lieber der heimeligen Kumpanei und der sanften Fraternisierung. Jetzt hat sich der Wind aber gedreht. Seit einiger Zeit zirkulieren in den Dichterstuben und Redaktionsbüros die Stimmen einer neuen Begeisterung, die das alte Lamento verscheuchen. Wer nun das spektakuläre Lyrik-Sonderheft die Zeitschrift BELLA triste aufschlägt, wird an einigen Stellen mit triumphalen Gesten begrüßt. Henning Ahrens jubelt: "Wir leben in einem goldenen Zeitalter." An anderer Stelle stellt Hauke Hückstädt nicht ohne Stolz fest: "Von der Nachwendezeit bis heute gilt: ein Großteil der eigentlichen und tatsächlichen, ästhetischen Ereignisse in der deutschen Literatur fand in der Lyrik statt." Dass es für diese stolzen Posaunenstöße gute ästhetische Gründe gibt, zeigen die Beiträge des Hefte, die eine ästhetische Streitlust und textkritische Detailfreude entfalten, wie es sie in den letzten zehn Jahren in der Lyrik-Diskussion nicht mehr gegeben hat.
Wer auch immer über die Suchbewegungen der deutschen Gegenwartslyrik diskutieren will, der muss sich mit diesem BELLA triste-Heft beschäftigen. 14 junge Dichter - von Nico Bleutge bis Uljana Wolf und Henning Ziebritzki - werden anhand von drei ausgewählten Gedichten pro Autor vorgestellt - und zwar nicht in Form eines affirmativen Porträts, sondern in Form von mikroskopischen Textanalysen. Diese philologischen Tiefbohrungen werden dabei von Dichterkollegen vorgenommen, die dem Ansatz des porträtierten Lyrikers meist sehr ferne stehen und nicht mit kritischen Interventionen geizen. Dieses kritische Verfahren wird noch potenziert - denn drei weitere Dichter sind mit interner Blattkritik beauftragt worden: Sie untersuchen im Heft in einzelnen Essays nicht nur die Vorzüge und Schwächen der porträtierten Dichter, sondern setzen sich auch mit den literaturkritischen Prämissen der jeweiligen Porträt-Verfasser auseinander.
Es war ein hübscher Einfall der BELLA triste-Redaktion, die jungen Lyriker sich gleichsam gegenseitig rezensieren zu lassen. Endlich einmal wagt es eine Zeitschrift, mit den betriebsinternen Lieblichkeiten innerhalb der Zunft aufzuräumen und ästhetische Markierungen zu setzen. Es beginnt mit einem hervorragenden Essay Lutz Seilers über den Wahrnehmungs-Dichter Nico Bleutge: Seiler ist zwar voll des Lobes über Bleutges diskrete Poetik des Sehens, deren präziser Blick "auf Materialien und Substanzen trifft und ihre Oberflächenstruktur abtastet" - aber er bemängelt auch das "Aseptische" mancher Bilder und den "verkleinernden und weichzeichnenden Gebrauch der Attribute und Verben". Weiter hinten im Heft verschärft Franz Josef Czernin in seinen klugen Kommentaren die Skepsis gegenüber Bleutges Utopie einer genauen Wahrnehmung. Ein anderes Beispiel ist Ulrike Draesners fast schon überirdisch gute, weil hyper-genaue Analyse der Gedichte von Anja Utler. Hier wird Respekt bezeugt gegenüber der hohen Artifizialität von Utlers Wortinstallationen, zugleich wird aber die Gewaltsamkeit so mancher Wort-Pressung bloßgelegt. Nur wenige Porträtschreiber weichen aus ins liebevoll Anekdotische. Und weil Textkritik kein Streichelzoo ist, hat sich mancher Dichter auch mit harten Befunden in eigener Sache auseinander zu setzen - etwa wenn Steffen Popp, eine der größten Begabungen der Jungen Lyrik, eine eher schroffe Expertise Franz Josef Czernins über sich lesen muss: "Hoher Hymnen- oder Odenton, und stark poesietraditionalistischer Satzbau und entsprechende Wortstellung ...Widerspruch zwischen diesem Oden- oder Hymnenton und diskontinuierlichen Assoziationen und zeitgenössischem Vokabular. Und ist das ernstgemeint?"
Es ist überhaupt ein großes Verdienst Franz Josef Czernins, der hier als "Monsieur Teste" und Elder Statesman der Lyrik-Theorie auftritt, dass die branchenübliche Gefälligkeitskritik in diesem Heft keine Chance hat. Einige Lyriker, so hört man, sind über die kritischen Härten mancher Beiträge so ergrimmt, dass sie von den Herausgebern in einer weiteren BELLA Triste-Sonderausgabe die Möglichkeit zur Replik verlangt haben. Im Museum der (post)modernen Poesie, so scheint es, gibt es endlich Randale. Warten wir auf den nächsten Denkmalsturz.
BELLA triste, Nr. 17, Moltkestraße 64, 31135 Hildesheim. 218 Seiten, 8 EUR
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