Ein heiterer Dekonstruktivist

TEXTGALERIE Wissenschaft des Schönen

Die lyrische Poesie", so definierte einst der Philosoph und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer in seiner Abhandlung über die Wissenschaft des Schönen (1846 - 1857), "ist ein punktuelles Zünden der Welt im Subjekte... Die (poetische) Situation ist der Moment, wo Subjekt und Objekt sich erfassen, dies in jenem zündet, jenes dies ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht." Die fortdauernde Gültigkeit dieser Definition könnten die lyrischen Nachgeborenen auch heute noch bewundern - verfügten sie nur über ein hinreichendes Wissen über Gattungspoetik. Der Lyriker Ulf Stolterfoht, den man der sprachreflexiven Dichtungstradition zurechnen darf, hat sich ein Wissen um die ästhetischen Bestände bewahrt und es sich zugleich zur Profession gemacht, die alten Texte des Kanons einem ironischen Haltbarkeitstest zu unterziehen. Stolterfoht betätigt sich als Abrissarbeiter im Überbau der ästhetischen und auch außerästhetischen Diskurse, ein unsteter Wanderer zwischen den einzelnen Sprachwelten und "Fachsprachen", der uns bei seinen vokabulären Tiefbohrungen zeigt, wie hohl und morsch die Normierungen und formalisierten Übereinkünfte in den einzelnen "Fachsprachen" geworden sind.

Halb heiterer Dekonstruktivist, halb frivoler Parodist, reißt der Autor das Vischer-Zitat lustvoll aus seinem Text-Zusammenhang, nimmt die Metapher des "Zündens" wörtlich und baut eine semantische Kette von Explosions-Bildern auf bis hin zum "Bombenwetter", in dem "der Dichter" angeblich kenntlich wird. Stolterfohts Dichtung ist immer auch zitatologisches Spiel und erlaubt sich in den einzelnen Versen, die hier mit einer gewissen Willkür zu Vierzeilern organisiert worden sind, das diskursive Register abrupt zu wechseln und vom Hegel-Schüler Vischer zum überstrapazierten Goethe-Poem Wanderers Nachtlied zu springen, aus dem die hingehauchte "spürest du"-Fügung noch nachzittert. Stolterfoht schmuggelt keine emphatischen Gegenmodelle in sein ironisches Recyling von Lyrik-Definitionen ein, sondern beschränkt sich auf die Demontage der Überlieferung. Zum Konzept der lyrischen De-Montage und De-Komposition gehört es auch, dass das eitle Auftrumpfen mit Reim und Metrum ironisch konterkariert wird. Nur auf den ersten Blick dominiert hier ein lässig inszenierter Redegestus, denn im Binnenraum des Textes hat Stolterfoht auch Strategien gebundener Rede versteckt: es kommt zur reizvollen Opposition von prosaischen Sequenzen einerseits und rhythmisch geschlossenen Einheiten und Binnenreimen andererseits, die dem Gedicht seine Festigkeit geben.

Was immer an internen Bestimmungen des Dichterischen von Stolterfoht herbeizitiert wird, es verfällt der parodierenden Kritik. Auch die Prätention auf lyrische Subjektivität bleibt dem heiteren Dekonstruktivisten verdächtig; das Ich-Sagen im Gedicht ist für den Fachsprachen-Forscher offenbar der Sündenfall der modernen Poesie. Bei aller Lust an der lyrischen Demontage laboriert der Text an einer gewissen ironischen Überanstrengung, ja an Redundanzen-Überschwemmung. So gehört zum Beispiel die Rede vom "heiseren wegkauen der sätze" bei Dichterlesungen oder dem "Autismus" der Zunft mittlerweile zum ironischen Standardprogramm der Lyrik-Kritik. Auch der boshafte Fingerzeig auf den unbedarften Zeitgenossen, dem die Erkenntis zuteil wird, "lyrik jahrelang mit einem / unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben", verdankt sich einem Lustigkeits-Überschwang, der unfreiwillig ins Kabarettistische kippt.

Ulf Stolterfoht

aus: fachsprachen X

das punktuelle zünden der welt "hängt alles

wie an lunten" / brennt dementsprechend ab:

beziehung sprengmeister zu detonal bei soge-

nanntem bobenwetter sollt ihr den dichter

kennenlernen / die ganze wucht des bergschuhs

fühlen: er setzt statt spürest merkest. du denk-

bar vag surrogat - kaum schwund! ach sprache /

das gefühl im mund: lyrik jahrelang mit einem

unaufgeräumten kulturbeutel verwechselt zu haben,

schlägt ein wie eine jambe: schwulst pop und neue

sachlichkeit - ganz sacht hat es gekracht. wo jetzt

im saal die lücke klafft saß vormals was wie

hörerschaft. tatsächlich aber dürfte dieses hei-

sere wegkauen der sätze nur einer eingeschwornen

klientel ans herz gewachsen sein. selbst die war

nicht zu halten. dann also auf autismus schalten.

ich ist wieder wer - das urgemütlich drüsen-

idyll, wo etwas anders ausgedrückt: allein das

ungeschriebene glückt / sogar das abgetriebne

schmückt. zufrieden lehnt man sich zurück, welt

findet zwischen ohren statt, der rest sei: schwelgen

schmunzeln schädel öffnen um so - von jeder andern

pflicht befreit - synapsenzuwachs zu betrachten.

dann küß die hand und glückhaftes umnachten.

Ulf Stolterfoht, geboren 1963 in Stutgart, lebt in Berlin. 1998 erschien sein erster Gedichtband fachsprachen I-IX bei Urs Engeler Editor in Basel. Das vorliegende Gedicht entstammt einem noch unveröffentlichten Gedicht-Zyklus.

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