Ein schriller Psalm der Aktualität

Rimbaud II Zum 150. Geburtstag eines rätselhaften Dichters

Für Revolutionsromantiker und Schwärmer ist dieser Dichter die ideale Projektionsfigur. Die intensive Leuchtkraft und rätselhafte Bildwelt seiner Dichtung haben wir zwar bis heute nur punktuell verstanden. Arthur Rimbaud, als 15-Jähriger ein einsamer Meteor am Dichterhimmel der Moderne, der nach seinem frühen Verstummen als Lyriker zum Handelsvertreter und Waffenhändler in Diensten des Negus von Abessinien mutierte, eignet sich wie kein anderer Dichter zur Heldenverehrung. Dem Mythos Rimbaud folgt bis heute eine riesige Heerschar von begeisterten Sekundärliteraten, die ihrem Dichtergenie und ihrem Lieblingsketzer beliebige Projektionen anheften. Er lebt fort als Ikone, als Plakat, auf dem unter der retuschierten Fotografie eines frühreifen und ziemlich finster blickenden Jünglings der Satz "Ich bin ein anderer" steht. Ein 15-jähriger Gymnasiast, der in einer steilen Größenphantasie der modernen Dichtung ihr Evangelium diktiert? Ein lyrischer Partisan, der die erotische Bindung an seinen Freund Paul Verlaine für eine fantastische Confessio der Liebe nutzt? Das ist der Stoff, aus dem die Sekundanten Rimbauds immer wieder neue Bewunderungsprosa stricken.

Und es ist ja wahr: 1871 schrieb der noch nicht 16-jährige Rimbaud zwei Briefe, in denen er das Programm künftiger Dichtung entwarf. Das Ziel des ehrgeizigen Jungdichters: Den Poeten zum "Seher" verwandeln, der "im Unbekannten ankommen" will. Diese Befähigung zum "Dichter-Seher" vollzieht sich nach Ansicht Rimbauds "durch eine lange, gewaltige und überlegte Entregelung aller Sinne" (in neueren Übersetzungen: "durch planvolle Verwirrung aller Sinne"). Der ins Unbekannte Schauende, der Seher-Dichter, ist für Rimbaud "der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verfemte - und der Höchste aller Wissenden". Diesem stolzen Absolutismus der Poesie folgt bis heute die Rimbaud-Rezeption, die im unruhigen Leben ihres Helden immer auch die exemplarische Biografie eines radikalen Ketzers und Gesetzesbrechers verehrt.

Der verzweifelte Ketzer, der den Traditionsbruch feierte und sich blasphemische Flüche verordnete ("Merde à Dieu"), war gegen katholische Regressionen nicht gefeit. Er taumelte hier durch ebenso viele Widersprüche wie als Revolutionär, als der er sich für kurze Zeit im Frühjahr 1871 imaginierte. In diesem Jahr der politischen Turbulenz verfasste Rimbaud ein revolutionäres Programm für die Pariser Kommune, für das er aber später, in seiner drei Jahre währenden fieberhaften Phase lyrischer Produktion, kaum mehr Interesse aufbrachte. Stattdessen warf er sich auf die Lektüre okkulter Schriften, etwa auf die so genannten Hermetischen Bücher, die der mythischen Figur des Hermes Trimegistos zugeschrieben werden. In einem zentralen Abschnitt seines Prosagedichts Ein Aufenthalt in der Hölle (Une Saison en enfer) spricht Rimbaud von der "Alchemie des Wortes", eine jener berühmten Formeln, die heute noch von sprachexperimentellen Autoren dankbar aufgegriffen werden.

Dass es in seinem Werk um Verschmelzungsprozesse disparatester Materialien geht, erhellt aus dem Anfang seines Kapitels "Alchimie du Verbe": "Ich gewöhne mich", heißt es da, "an die einfache Halluzination: ich sah ganz deutlich eine Moschee an Stelle einer Fabrik, eine von Engeln geführte Trommlerschule, Kutschen auf den Himmelsstraßen, einen Salon auf dem Grunde eines Sees." Aus solch halluzinatorischer Dynamik blendender Bilder gewinnen seine Schriften ihre poetische Intensität.

Was aber ist von der Dichtkunst dieses schwierigen Autors noch übrig geblieben? Spricht hier noch immer ein "Mystiker im Zustand eines Wilden" (Paul Claudel) zu uns, fasziniert er noch immer wie jener "brennende Dornbusch", als den ihn André Gide beschrieben hat?

In seiner auch heute noch grundlegenden Studie Die Struktur der modernen Lyrik hatte der Romanist Hugo Friedrich 1956 das Werk Rimbauds zur "Ursprache moderner Lyrik" stilisiert. Bei aller Eleganz des Stils gerät Friedrich bei der Analyse des verehrten Rimbaud sofort in Schwierigkeiten. Denn die autonomen Bildbewegungen in den Texten Rimbauds, die eine Kombinatorik des Alogischen und Befremdlichen der Referenz auf das Reale vorziehen, bringen auch kundige Interpreten ins Schlingern. "Der Kern dieses Dichtens", resümiert Friedrich, ist kaum noch von thematischer Art, sondern eine brodelnde Erregung." Wie werden aber die Erregungsqualitäten in poetische Qualitäten verwandelt?

Tatsächlich bestehen Rimbauds Gedichte oft aus übergangslos nebeneinander gesetzten Bewegungen, aus Fragmenten und gebrochenen Lineaturen, aus atemlos gesetzten Worthäufungen, die in schrille Konstellationen übersetzt werden. Friedrich spricht von "diktatorischer Sehweise" oder vom "wühlenden Deformieren der Realität". Auch jüngere Interpretationen sind hier nicht viel weiter gekommen und verweisen auf das beständige Gleiten zwischen sinnlichen Evidenzen und bizarren Einfällen als Motorik der Rimbaudschen Dichtungen. Die poetische Binnenstruktur der Rimbaudschen Sprache hat wohl am genauesten der Übersetzer Rainer G. Schmidt erforscht, der bereits vor 25 Jahren an einer deutschen Gesamtausgabe der Werke Rimbauds beteiligt war und jetzt eine gründliche Überarbeitung der Illuminations vorlegt. Schmidt verwirft nun die steilen Manierismen in seiner Übersetzung von 1979/80. Seine neue Übertragung ermöglicht eine faszinierende Erfahrung. Denn die exaltierte Dynamik der Rimbaudschen Fügungen, das Oszillieren zwischen den Bildern und Bedeutungen, haben noch nichts von ihrer Wirkungsmacht verloren. Es ist diese visionäre Bildschöpfungskunst, die jede Zeit- und Raumordnung in den Versen aufhebt, die auch den heutigen Rimbaud-Leser noch staunen macht.

Die lyrischen Nachgeborenen haben Rimbaud ihre Reverenz allzu oft durch ehrfürchtiges Nachplappern erwiesen. Wer verlässliche Traditionspflege schätzt, kann auf die Publikationen des Aachener Rimbaud Verlags zurückgreifen, der etwa 2001 eine Neuübersetzung der lyrischen Autobiografie Une Saison en enfer publiziert hat. Einer der wenigen ernsthaften Versuche, Gestalt und Werk des Dichters für die Gegenwart fruchtbar zu machen, war Volker Brauns poetischer Essay Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität aus dem Jahr 1983. Braun unternahm den paradoxen Versuch, die Vagabondage des Dichters als subversives Potential für sein eigenes Werk zu reklamieren und gleichzeitig die jüngeren Autoren und "Neutöner" aus der "törichten Kinderstube der Moderne" in die Schranken zu weisen. In eine ganz andere Richtung wies 1998 das Experiment des österreichischen Lyrikers Michael Donhauser, der in seiner Übersetzung der späten Verse Rimbauds den "poète maudit" als zarten Naturmagier lesen wollte. Für zahlreiche kraftlose Rimbaud-Schwärmer gilt dagegen die lakonische Notiz Hugo Friedrichs: "Manche Späteren, die von seinem Vorbild mehr verführt als geführt sind, hätten von ihm lernen können, dass es für sie besser gewesen wäre, überhaupt stumm zu bleiben."

Michael Braun arbeitet als Literaturkritiker in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihm 2002 der Band: Der zertrümmerte Orpheus. Über Dichtung.

Neue Literatur von und über Rimbaud:

Bernhard Albers (Hrsg.): Rimbaud vivant. Eine Anthologie. Rimbaud Verlag, Aachen 2. veränderte Aufl. 2004


Arthur Rimbaud: Illuminations /Illuminationen. Französisch und deutsch. Übersetzt von Rainer G. Schmidt. Urs Engeler Editor, Basel 2004


Arthur Rimbaud: Die späten Verse. Übersetzt und mit einem Aufsatz von Michael Donhauser. Urs Engeler Editor, Basel 1998


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