Hysterie

Linksbündig Die Rechtschreibreform in der Kampfpause

Die orthografischen Bürgerkrieger sind erschöpft, aber die Kampfpause wird nicht lange anhalten. Glaubt man den verzweifelten Aktivisten des Protests gegen die Rechtschreibreform, so ist der Untergang des Abendlandes nach dem jüngsten Beschluss der deutschen Kultusministerkonferenz nicht mehr abzuwenden. Weil die Kultusminister vergangene Woche mit einstimmigem Votum die verbindliche Umsetzung der Reform zum 1. August 2005 an Schulen, Universitäten und öffentlichen Verwaltungen beschlossen haben, glaubt man den Rechtschreibfrieden endgültig zertrümmert. So können einem die Rebellen "Leid tun" oder eben wahlweise "leid tun", je nach linguistischer Konfession. Eine breite Koalition aus Schriftstellern, Schulbuchverlegern und Linguisten hatte acht Jahre lang den Volksaufstand gegen "die Mißgeburt der Rechtschreibreform", so die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, geprobt. Die pragmatischen Reformgegner um die Akademie fordern nun weiterhin den vorsichtigen "Rückbau" der Reform, die Radikalen, wie der Dichter Reiner Kunze (in seiner Lyrik ein Anwender der konsequenten Kleinschreibung) den Total-Abriss.

Leider wurden und werden in dieser Auseinandersetzung weitaus häufiger populistische Instinkte bedient als intelligente Argumente erörtert. Es war von Beginn an ein verbissenes Hauen und Stechen, das sich die orthografischen Glaubenskrieger einander lieferten. Zuerst tobte der Streit um die weitgehende Ersetzung des "ß" durch das "ss", wobei die eifrigsten Rettungssanitäter des "ß" von einem Konservativen (Johannes Gross) darauf hingewiesen werden mussten, dass zu den frenetischsten Fans des "ß" ein gewisser Adolf Hitler gehörte. Die heftigsten Aggressionen kamen im Streit um die Neuregelung der Getrennt- und Zusammenschreibung auf. Mit etlichen unsinnigen Neuregelungen konnte die zwischenstaatliche Reformkommission hier nur sehr schwache Kompetenzbeweise erbringen. Die Kommission hat nun die umstrittenen Normierungen mit "Feinanpassungen in der Variantenführung" korrigiert. Das bedeutet: Eine sanfte orthografische Anarchie hat Gesetzeskraft erlangt, da die Zahl der Varianten noch größer geworden ist. Nun können wir in unseren Tischgesprächen wieder auf "Alleinstehende" treffen, nachdem wir zuvor definitiv auf "allein Stehende" verwiesen worden waren. Nun dürfen wir nicht mehr nur rein topologisch "dahinter stehen", sondern meinungsfreudig auch "dahinterstehen". Bei adverbialen Fügungen schadet Gleichgültigkeit bezüglich der Groß- oder Kleinschreibung nicht mehr: denn die Normierungen sind hier "bei Weitem" nicht mehr so streng wie früher, als man noch "bei weitem" schreiben musste. Diese grammatische Unentschiedenheit hat die Spekulationen über neuerliche Änderungen in den Rechtschreibwörterbüchern weiter angeheizt. Die von den Kultusministern seit Mitte April initiierten Gespräche zwischen der Darmstädter Akademie und der Reformkommission über "den fehlerhaftesten Teil des neuen Regelwerks" (O-Ton Akademie), nämlich über die Problemfälle der Getrennt- und Zusammenschreibung, endeten in der üblichen Rechthaberei und mussten ergebnislos abgebrochen werden.

Dieses Scheitern ist symptomatisch für die erregte Debatte um die Rechtschreibreform, in der seit Jahren die Hauptakteure immerfort als beleidigte Leberwurst agieren. Je mehr Empörungsenergie sich in der Bevölkerung ansammelte, desto sturer zog sich die zwölfköpfige Kommission in eine Art Bunkermentalität zurück. Auf den Unfehlbarkeitsanspruch der Kommission antworteten die Aktivisten des Protests ihrerseits mit trotziger Affirmation des alten Regelwerks, das von der FAZ wahrheitswidrig zur "bewährten Rechtschreibung" umdefiniert wurde. Diese rigorosen Sprachpuristen des "Bewährten" geraten aber in Erklärungsnot, wenn "jemandem Recht geben" ebenso logisch richtig sein soll wie "recht haben" (Regel vor 1998). Solche Unstimmigkeiten der alten Rechtschreibung, die einst den "Thron" mit einem "h" versah, weil es der letzte deutsche Kaiser so wünschte, hätte eine konsensuell erstellte Reform überwinden können. Leider haben wir stattdessen ein eitles Gefuchtel von Besserwissern erlebt, wobei bislang eher mäßig bekannte Sprachwissenschaftler als Volkstribunen brillieren wollten. Um mehr Konsens soll sich nun der "Rat für deutsche Rechtschreibung" bemühen, der die bisherige Kommission ersetzt und auch reformkritische Schriftsteller und Journalisten aufnehmen soll. Der jämmerliche Kulturkampf um Rechtschreibnormen kennt aber nach acht erregten Jahren nur einen Sieger: die linguistische Hysterie.


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