Ich habe Poesie gekauft

Grenzraum Eine Wiederbegegnung mit der "Lyrik von Jetzt". Anmerkungen zum Stand der allerjüngsten Gegenwartslyrik

Wer dieser Tage den Frühjahrskatalog des DuMont Verlages durchblättert, wird mit einem aufschlussreichen lyrischen Déjà-Vu belohnt. Dort wird nämlich die vor gerade drei Jahren erschienene Anthologie Lyrik von Jetzt als "preiswerte Sonderausgabe" feilgeboten, mithin als bereits kanonisches Werk, das seinen Siegeszug in der Lyrik-Community fortsetzen will.

Über Mut oder Verzagtheit dieses Projekts ist viel gestritten worden. Man hat die Anthologie als wegweisende Generations-Schrift begrüßt, aber auch als Dokument für das narzisstische Gemeinschaftswesen Berliner Jungdichter rustikal bekämpft. Mit großem Aplomp hatte DuMont im Sommer 2003 die bislang schrillste Textsammlung der jungen Lyrik lanciert. Ihre Autoren wurden im Vorwort von Gerhard Falkner zur vollkommen neuartigen "Generation" von Dichtern erhoben, die sozialisiert und enthusiasmiert sei durch "die Multilingualität der Pop-Kultur" und die Euphorien eines "urbanen Lebensgefühls".

Boshafte Zungen haben daraufhin den Aufbruch dieser neuen "Generation" als lyrische Bankrotterklärung gedeutet. Die junge "DuMont-Generation", so höhnte der Literaturwissenschaftler Sebastian Kiefer, habe sich im "Treibhaus der vorsätzlichen Einfalt" verbunkert, in dem "prosodisches und linguistisches Problembewusstsein" inexistent seien. Mit finsterer Entschlossenheit huschte der Kritiker über die zahlreichen Ausnahmen von diesem "Regelfall" hinweg und statuierte einen universellen Dilettantismus - obwohl es in Lyrik von Jetzt viele genuine poetische Individualitäten zu entdecken gibt.

Sicherlich hat Kiefer Recht, wenn er sich über die weit verbreitete Bildfindungsschwäche, Larmoyanz und Traditionsvergessenheit in dieser Anthologie mokiert. Um hier zu einem gerechten Urteil zu gelangen, sollte man sich an jenen Augenblick in der jüngeren Lyrikgeschichte erinnern, in dem ein Pathos der Abweichung noch möglich war und die subversive Kraft des Gedichts noch behauptet werden konnte. Man schrieb das Jahr 1985, als eine Lyrik-Anthologie junger DDR-Autoren die Leser der alten Bundesrepublik elektrisierte. Im Verlag Kiepenheuer präsentierten der später als klandestiner Doppelagent enttarnte Sascha Anderson und die Dichterin Elke Erb eine Bestandsaufnahme der nervösen und ketzerischen Stimmen aus dem deutschen Osten.

In ihrem Vorwort zu dieser Anthologie mit dem irisierenden Titel Berührung ist nur eine Randerscheinung berief sich Elke Erb auf die Tradition der europäischen Moderne, um jene lyrischen Exzentriker zu legitimieren, die einen "Aufstand der Zeichen" gegen die ideologischen Sprachregelungen des SED-Staates entfesseln wollten. "Es ist jene Wand des falschen Bewusstseins", schrieb Elke Erb damals, "der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der Spaltung, der Infantilität und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die Glaswand der Unwirklichkeit und die isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist."

Vergleicht man nun diese offensive Poetik der Dekonstruktion mit den Selbstzeugnissen und Absichtsbekundungen der Dichter, die das weite Feld der Lyrik von Jetzt-Anthologie besiedeln, so findet man nur noch Restausläufer von dieser dissidentischen Energie. Der "Aufstand der Zeichen" ist bei vielen Autoren schon in statu nascendi zusammengebrochen, weil er gar nie richtig entfesselt worden ist.

Es kennzeichnet die trübe Sprachrealität vieler Gedichte in Lyrik von Jetzt, dass die Realien des Alltags schon für Poesie genommen werden und sich eine unkontrollierte Sentimentalität Bahn bricht. "Lass besser im Tiefkühlfach die Biere explodieren", empfiehlt etwa Björn Kuhligk, "wenn du den Bezirken zusiehst / wie sie wachsen, / verkommt auch der Wodka / weißt du, die Strassen, sie kommen / alle aus dem selben Mutterleib / aus einem Sonntag-Nachmittag-Spielfilm / und drüber dieser Richard-Wagner-Himmel / in dem ich alles zu sagen weiß / wenn ich die Hände an der Haut / der Liebe hab / es gibt hier/ keine Küstenstraßen". Das ist, in seiner rührenden Unmittelbarkeits-Gestik und der schmeichelnden Du-Anrede, ein Aufguss des alten Gefühligkeits-Kitsches eines Wolf Wondratschek oder Jörg Fauser. Diese Realismus-Posen findet man auch bei Kersten Flenter, der in furchtloser Schlichtheit das Einmaleins der Liebe bedichtet: "Wir verbringen schon lange/ Zeit / Miteinander reden / Sitzen im Café / Oder vögeln / Dann eines Abends / Danach / Bemerke ich / Deine Zahnbürste in meinem Bad..." Eine solche diaristische Munterkeit, die fleißig mit Subjektivitäts-Gesten hausieren geht, repetiert nur die flachen Elaborate der Erlebnisdichter aus den fernen Siebzigern.


Dennoch: Das vom Verfasser dieser Zeilen anderswo in Umlauf gebrachte Verdikt, dass sich in Lyrik von Jetzt die poetische Bewusstseinsherausforderung der Gegenwart zu ermäßigten intellektuellen Konditionen vollziehe, ist in seiner Pauschalität zu revidieren. Denn nicht überall ist die metaphysische Empfindung geschrumpft zur reinen Affirmation des "Jetzt". Längst nicht alle Repräsentanten der jungen Generation sind so naiv, sich gänzlich dem exzentrischen Traditionszertrümmerer Rolf-Dieter Brinkmann hinzugeben, der von mehreren Autoren als heroische Bezugsfigur umraunt wird. Es tummeln sich doch sehr eigene Wahrnehmungsweisen und individuelle Abweichwinkel in dieser Anthologie, die über die bekannten Vorbild-Galaxien von Brinkmann bis Mandelstam, Rilke bis Rühmkorf, Baudrillard bis Tocotronic weit hinausgehen. Dem biederen Realismus der Großstadtpoeten stehen die virtuosen Erkenntnisübungen und originären Sageweisen wirklich singulärer Dichter gegenüber. Und selbst bei Björn Kuhligk, speziell in seinem jüngsten Band Großes Kino (2005), finden wir Momente schöner Bobachtungsgenauigkeit, in denen nicht mehr nur die Realismus-Posen eines Jörg Fauser ("Mit Fauser im Nachtbus") ornamental repetiert werden, sondern das lyrische Leichtmatrosentum sich endlich erdet.

In kühl montierten Szenen blendet Kuhligk im Gedicht Aus dem Unterricht die Bilder eines historisch fortdauernden Terrors übereinander: den Holocaust, die Entlastungsgeschichten der Täter und die Vollstrecker der Selbstmordattentate. Zwischendrin sitzt das televisionär verwöhnte, ohnmächtige, gelangweilte Subjekt, das den Terror naiv bestaunt. Hier gelingt etwas Seltenes: ein sarkastisches politisches Gedicht, das auf Moralismus verzichtet: "Wir fuhren Taxi nach Auschwitz und / sahen gläserne Kästen, randvoll / mit Schuhen bestückt, und hatten / im Keller die musikalischen / Erinnerungen der Großeltern / auf einer Langspielplatte / auf 35 Quadratmetern saßen wir / gelangweilt bis in die Mundwinkel, im TV / das karge Land, darin die Bombe / an den Körper geschnürt, einem Gott / zum Gruße, da gehen die Kindsköpfe / hoch, auf die Fensterbank klopft der Regen / da kann man von Glück reden".

Mit ein wenig Geduld vermag man auch im Getümmel der Erlebnisdichter jene lyrischen Grenzgänger zu entdecken, die der Dichtung im 21. Jahrhundert neue Wege weisen könnten.

Zu diesen risikobereiten Grenzgängern der jungen Lyrik gehören - um nur die auffälligsten Protagonisten zu nennen - Autoren wie Nico Bleutge, Steffen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck, Sabine Scho, Uwe Tellkamp oder Anja Utler. Bei ihnen artikuliert sich eine hoch komplexe Sprach-Körper-Artistik, in der die Wörter nicht mehr nur naiv eine mimetisch-realistische Abbildfunktion haben, sondern zu weltzeugenden Kräften werden, eine Dichtkunst, in der die Grenzen von Morphem, Wort, Rhythmus und Satz in immer neuen Konstellationen ausgelotet werden.

Also: Es gibt viel Spreu in Lyrik von Jetzt, aber eben auch die wirklich singulären Dichter: den großartigen Geschichtsarchäologen Uwe Tellkamp, die Mystiker Hendrik Jackson oder Christian Lehnert, die kalten, hoch artifiziellen Stilleben der Marion Poschmann, die Wahrnehmungs-Exerzitien eines Nico Bleutge, das "rhythmische Zeremoniell" der Monika Rinck oder die Mentalitätshistoriografie der Sabine Scho, die mit schroffen Montagen die vom Faschismus kontaminierte Sprachlandschaft der Adenauerzeit durchquert. Oder nehmen wir Steffen Popp, den aus Greifwald stammenden Neo-Romantiker. Zwischen steilem Manierismus, traditionalistischem Prunkzitat und banaler Alltagsnotiz schwankend, bahnt er sich seinen Weg durch die Ambivalenzen der Gegenwart - und verblüfft dabei immer wieder mit kühnen poetischen Bildfindungen.


Für die größte Überraschung in der jungen Lyrik-Szene hat aber zweifellos die gerade einmal 27-jährige Uljana Wolf gesorgt, als sie kürzlich mit ihrem Ende 2005 erschienenen Debütband kochanie ich habe brot gekauft gleich die bedeutendste deutschsprachige Lyrik-Auszeichnung, den Peter-Huchel-Preis eroberte. Bis zum Erscheinen ihres Debüts hatte Uljana Wolf in Zeitschriften und eben in Lyrik von Jetzt lediglich einige ebenso zarte wie zaghafte Liebesgedichte veröffentlicht: Die üblichen sensiblen Wege einer jungen Autorin, aber noch ohne jene außerordentliche Gestaltungskraft, wie sie dann im Debütband manifest wird. Topografische Zeichen werden in kochanie zu poetischen Motivkernen. "Flurstücke" nennt sich das erste Kapitel dieses erstaunlichen Buches - und tatsächlich geht es zunächst um die poetische Vermessung historischer Parzellen, in die sich die deutsch-polnische Geschichte eingraviert hat.

Ein längerer Aufenthalt im polnischen Krzyzowa/Kreisau, der 2004 im Zusammenhang mit einem Literaturstipendium zustande kam, hat dabei offenbar den poetischen Impuls der Autorin neu stimuliert. Mit einem tastenden, zärtlichen Wort, mit einer Liebeserklärung setzt im Buch die poetische Suchbewegung ein. "Kochanie", die polnische Vokabel für "Liebster" oder "Liebste", trifft im Titel des Buches auf einen deutschen Satz, in dem sich die Vokale des polnischen Worts spiegeln: "ich habe brot gekauft". An den Reibungspunkten polnischer und deutscher Wörter entzündet sich hier die Poesie. Das lyrische Wir der Autorin ist ständig unterwegs in einem Grenzraum, ein ewiges Transitdasein zwischen den Bahnhöfen und den neuen Erfahrungen, die diese Reisen eröffnen.

Für ihre lyrische Kartografierung des deutsch-polnischen Territoriums hat sich Uljana Wolf eine ganz eigene Bildwelt erarbeitet, die sich nur an ganz wenigen Stellen etwas bequem bei den alten metaphorischen Suggestionen von "Liebe" oder "Himmel" bedient. Dennoch: Hier spricht eine lyrische Stimme, deren leiser Inständigkeit man zu folgen bereit ist. "schliefen die öfen" heißt in der Mitte des Bandes ein Zyklus, der lyrische Standfotos von den Überresten einer unabgegoltenen Vergangenheit enthält. In ganz knappen Strichen werden die Linien gezogen, die einen weiten historischen Raum eröffnen, in dem das politische Verhängnis noch präsent ist. Wie im Gedicht glauchau: "als wir krank waren von ruß / und schüttgut aus archiven / zogen wir mit den großvätern / ins geschlossene stellwerk ein / sahn die alten gleisbewacher / ihre hände an die hebel legen / durch die tote weichenleitung / ging ein zittern wie auf reisen". Die Lyrik braucht kein "Großes Kino", die raschen Blickwechsel und schnellen Schnitte, wie sie zum Standard geworden sind, genügen nicht mehr. Wir brauchen statt dessen das Gedicht als "optisches und akustisches Präzisionsinstrument" (Thomas Kling), das in der Flut der überall herandrängenden Redesysteme und Fachsprachen eine eigene Ordnung der Erkenntnis schafft.

Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hrsg.): Lyrik von Jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont, 422 S., Sonderausgabe, Köln 2006, 4,95 EUR

Björn Kuhligk: Großes Kino. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2005, 80 S., 16 EUR

Uljana Wolf: kochanie ich habe brot gekauft. Gedichte. KOOKbooks, Idstein 2005,
76 S., 13,80 EUR


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