In allen Teilen des Körpers

Verluste Die Traumbewegungen der Dichterin Jayne-Ann Igel in "Unerlaubte Entfernung" und "Traumwache"

Es war eins jener stillen, ganz introvertierten Bücher, die in den Turbulenzen des Wendejahres 1989 untergingen. Als damals in der Reihe "Collection Fischer" ein Gedichtband mit dem rätselvollen Titel Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte erschien, wurde er vom grellen Pathos der politischen Schlagzeilen sofort übertönt. Autor des Bandes war ein gewisser Bernd Igel aus Leipzig, Jahrgang 1954, den nur wenige Leser aus der Programmschrift Sprache Antwort kannten, in der einige sprachverrückte Dichter der "Prenzlauer-Berg-Connection" den großen poetischen Gegenentwurf zu den literarischen Sprachregelungen des SED-Staates vorlegten.

In der Nachbarschaft der anti-grammatischen Revolteure um Bert Papenfuß-Gorek oder Stefan Döring wirkte Igels Gedichtbuch wie ein Fremdkörper. Denn hier präsentierte sich kein neoexperimenteller Prenzelberger Dichter, sondern ein enthusiastischer Nachfahre des Romantikers Friedrich von Hardenberg und seiner "Hymnen an die Nacht". Der Traum, die nächtliche Phantasmagorie und die daraus geflochtenen Nachtgewächse aus Wunsch- und Schreckens-Bildern bildeten den Urstoff dieser Poesie. Die Bewegungsrichtung der Gedichte verlief seltsam ziellos und zirkulär: Der verästelte Weg dieser traumschweren Texte führte durch düstere Häuser, Wohnstätten, Kellerverliese - und nicht wenige Leser fühlten sich an die tellurischen Expeditionen und Unterwelt-Erkundungen Wolfgang Hilbigs erinnert. Wie eng die nächtlichen Gänge und Fahrten durch Erinnerungs- und Traum-Häuser mit Motiven des Körpers verknüpft sind, erhellte dann auch 1991 der Folgeband fahrwasser, der den schwierigen Weg einer geschlechtlichen Verwandlung von Bernd zu Jayne-Ann Igel nachzeichnete.

Dann hörte man eine Weile nichts mehr von der Dichterin Jayne-Ann Igel, die ihre Energien lange Jahre auf Forschungsarbeit im Dresdner Frauen Stadt-Archiv konzentrierte. Sechzehn Jahre nach dem Lyrik-Debüt sind nun in rascher Folge zwei poetische Prosabücher von Jayne-Ann Igel erschienen, die auf großartige Weise an die nächtlichen Illuminations-Phantasien der frühen Gedichte anknüpfen. Sowohl in der Erzählung Unerlaubte Entfernung (2004) als auch in den wunderbaren Vexierbildern des neuen Bandes Traumwache geht es um die Entfaltung einer inneren Topographie, um die Kartographierung von Traumbewegungen und um das "gären von bildern in allen teilen des körpers".

In Unerlaubte Entfernung will ein traumverlorener junger Mann, der von seiner Mitwelt als ewiger Spätling und "sozial retardierter" Zurückgebliebener behandelt wird, endlich einen Zugang finden zum gesellschaftlichen Leben der späten DDR, will sich integrieren in jene regulierten Kollektive, die in dieser Gesellschaft das Leben prägen. Immer stärker gerät der junge Mann, der hier "b." genannt wird, in eine anthropofugale Drift, in eine immer größer werdende Entfernung gegenüber allen Regelsystemen dieser Gesellschaft, bis er sich schließlich eingestehen muss, dass er auf dem Wege ist, "sich aus der Mitwisserschaft beziehungsweise -haft der Menschen zu lösen".

Wie in den Gedichten des Erstlings vollführt das Ich zirkuläre Bewegungen und richtungslose Wanderungen auf seinen Erkundungsgängen durch Leipzig oder durch Orte der Oberlausitz. Unerlaubte Entfernung lässt sich als negativer Bildungsroman lesen, als die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Wunsch nach Erwachsenwerden kollidiert mit den Verfahren der Vergesellschaftung, die von der politischen Ordnung verlangt werden. So führt der Weg des einsamen Ich in die "Abwesenheit", in die absolute Unzugehörigkeit und Vereinzelung, so dass nur noch ein "Ankommen in der Fremde" möglich ist. Am Ende steht die "unerlaubte Entfernung" von der Truppe, eine kurze Flucht in "die urwälder von bialystok", der mit den üblichen Disziplinierungsmethoden beendet wird.

Bereits vor der Arbeit an dieser Erzählung hatte Jayne-Ann Igel mit den ersten Notizen zu den phantasmagorischen Protokollen des Bandes Traumwache begonnen. Hier ist das somnambule Ich, das zwischen wechselnden Identitäten changiert, unterwegs als "wiedergänger zwischen ortrand und ruhland", eine Träumerin mit profanen Erleuchtungen in den verlassenen Häusern und abgetragenen Gebäuden der Kindheit, eine Nachtwandlerin, die in den "Verschachtelungen des Ich" nach Offenbarungen sucht: " ...- wo sind sie, all die traumhäuser, wachräume, so sie nicht schon abgerissen sind? Was wir durchstreifen sind gedächtnisstätten, und wir sind waisen geworden, rastlos im bemühen, uns an-, zugehörig zu machen; wir tragen ein verkapseltes geschwür in uns, das aufzubrechen droht... " Als "verteiler von träumen und reflektionen" durchquert das Ich die düsteren Quartiere, Straßen und Wege in Leipzig, in Kleinstädten der Oberlausitz und im "chemiedreieck" zwischen Bitterfeld, Leuna und Halle.

Es sind verschiedene Ich-Instanzen und Zeit-Schichten, die hier ineinander fließen, ein personifizierbares, autobiographisches Subjekt wird bewusst aufgelöst in der poetisch-fließenden Textbewegung. Dabei gelingen Jayne-Ann Igel intensive und düstere Bilder einer planetarischen Verheerung in Industriebrachen und Abraumhalden, in denen der alles zermahlende Sand seine Formationen von Staub über die Landschaften des Ostens legt. So gewährt die "Traumwache" nicht nur verstörende Einblicke in die Kellerverliese der Kindheit, sondern auch auf eine pulverisierte Welt, deren "irdener Rücken zu Staub zerrieben ist". Hier werden Verluste bilanziert, die über die individuelle Biografie der Träumerin und Erzählerin weit hinausreichen. In der offenen, mäandernden Struktur der Traumwache wird uns buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Jayne-Ann Igel zeigt eindrucksvoll, dass sich modernes Erzählen keinesfalls vor dem vielfach geforderten Tribunal eines "relevanten Realismus" verantworten muss, um unsere Wirklichkeit zu erreichen. Eine hellwache Träumerin genügt.


Jayne-Ann Igel: Unerlaubte Entfernung. Erzählung. Urs Engeler Editor, Basel 2004, 100 S., 17 EUR

Jayne-Ann Igel: Traumwache. Urs Engeler Editor, Basel 2006, 80 S., 17 EUR


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