Als ein Botschafter der Versöhnung zwischen den Kulturen und Religionen wird der Schriftsteller V.S. Naipaul wohl nicht in die Literaturgeschichte eingehen. Denn er zieht es vor, mit schroffen Statements zu polarisieren und eindeutige Frontlinien zu ziehen. Obwohl er selbst als Abkömmling einer indischstämmigen Brahmanenfamilie auf der Karibikinsel Trinidad in einem Schmelztiegel der Kulturen aufwuchs, hat er nur wenig freundliche Worte für multikulturelle Lebensformen übrig. Im Gegenteil: Naipaul liebt es, die Verkündung seiner kulturellen Präferenzen mit grimmigen Sottisen gegen potentielle und tatsächliche Feinde zu würzen. Kein bedeutender Schriftsteller der Gegenwart hat den Islam als Glaubens- und Gesellschaftslehre so scharf und so unversöhnlich kritisiert wie eben Naipaul, der bei jeder Gelegenheit betont, dass er sehr finstere Erfahrungen in den Ländern der islamischen Hemisphäre gesammelt hat.
Als im Oktober 2001 die Nachricht von der Verleihung des Literaturnobelpreises an den in England lebenden Naipaul die Runde machte, war es ausgerechnet Salman Rushdie, der bis vor wenigen Jahren durch Mordbefehle der iranischen Ajatollahs bedrohte Weltliterat, der die politischen Ansichten des Preisträgers unter Extremismus-Verdacht stellte. Naipaul, so Rushdie, sympathisiere offen mit der hindu-nationalistischen Partei Indiens und mache durch seine anti-islamischen Ausfälle neo-faschistische Positionen hoffähig.
Die geistigen Widersprüche Naipauls: seine ethnographische Neugier, seinen kulturphilosophischen Pessimismus, aber auch sein eurozentristisches Freiheitsideal erhellen drei erstmals auf deutsch vorliegende Bücher, die den Literaturnobelpreisträger als hellwachen Beobachter von fremden Kulturen, aber auch als Virtuosen der Selbsterkundung zeigen. In den Briefen zwischen Vater und Sohn, die zwischen 1950 und 1953 geschrieben wurden, erleben wir Naipaul als jungen aufstrebenden Autor, der 1950 von Trinidad aus zum Studium nach England ging, und von dort einen Briefwechsel mit seinem Vater Seepersad Naipaul begann. Dieser war selbst Schriftsteller, blieb aber in seiner Heimat ohne jede öffentliche Anerkennung und musste sich mit journalistischen Brotarbeiten mühsam über Wasser halten. Schon in diesen Briefen geizt Naipaul nicht mit groben Charakteristiken seiner karibischen Heimat ("das lächerlichste Eiland, das je das Meer zierte"), aber auch nicht mit brillanten Verdikten gegen England, Indien oder Amerika. Bereits der 18-Jährige vermag 1951 mit ersten Romanentwürfen zu imponieren und einige seiner Texte bei der BBC unterzubringen.
In den Briefen an seinen Vater, den er als Schriftsteller bewundert, porträtiert sich Naipaul als ungestümer, selbstbewusst nach Höherem greifender Jungautor, den keinerlei Selbstzweifel zu plagen scheinen. Den grüblerischen Vater versucht er altklug mit stolzen Sentenzen großer Schriftstellerkollegen aufzumuntern und ihn, als sei er Lektor und Mentor seines eigenen Vorbilds, zu einem kühnen Roman über die Westindischen Inseln zu animieren: "Beschreibe die Gesellschaft einfach so wie sie ist - ohne sie zu erklären, zu entschuldigen oder dich über sie lustig zu machen." Der Vater kann diesen literarischen Bauplan nicht mehr ausführen, denn er stirbt im Oktober 1953 an einem Herzinfarkt. Aber der Sohn macht nun seinerseits die Gesellschaftsbeschreibung zu seiner literarischen Passion.
Im Gegensatz zum hochfahrenden Gestus seiner frühen Briefe wird in Naipauls späten Essays über seine literarische Sozialisation, die in diesem Frühjahr unter dem Titel Das Lesen und das Schreiben erschienen sind, ein extrem krisenanfälliger Autor sichtbar, der in seiner geistigen Entwicklung nur mühsam vorankam. Der frühen schriftstellerischen Größenphantasie entsprach, so zeigen diese Essays, in keiner Weise eine Fähigkeit zum mühelosen literarischen Fabulieren. Im Gegenteil: Der schriftstellerische Ehrgeiz, so Naipaul, "war viele Jahre lang nur eine Art Etikettenschwindel". Der in den Briefen so souverän auftrumpfende literarische Welteroberer hatte in Wirklichkeit als Jugendlicher größte Mühe, sich in den literarischen Welten eines Charles Dickens oder Joseph Conrad zurechtzufinden. Erst als der in London lebende Jungautor auf der Suche nach der eigenen Herkunft in die einstigen Sklavenkolonien der Karibik zu reisen beginnt, entdeckt er seine stärkste literarische Passion: die Reiseschriftstellerei.
Ein heftig umstrittenes Ergebnis seiner ethnographischen Leidenschaft war das 1981 veröffentlichte Reisebuch Among the believers. An Islamic Journey (deutsch: Eine islamische Reise, 1982, Neuausgabe 2002), in dem Naipaul mit ungeheurem Wissenshunger, auch mit bösem Blick die islamischen Staaten Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien bereiste und schonungslos die autoritären und gewalttätigen Strukturen dieser Gesellschaften aufdeckte.
Naipaul ist als Reisender nicht nur ein genauer Beobachter, sondern auch ein Spezialist für Desillusionierung, der sehr präzise den Weg in den Abgrund aufzeichnet, in den die islamischen Fundamentalisten ihre Gesellschaften geführt haben. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den islamischen Konvertiten, jenen Staaten also, die in einem langen Prozess der Eroberung und Landnahme von den arabischen Herrschern unterworfen wurden und in denen der Islam die früheren Stammesreligionen und Kulte vollständig auslöschte. Der islamische Konvertit, so Naipauls zentrale These, kehrt sich von allem ab, was seine Kultur bis dahin definierte - und richtet sich in neurotischer Aggressivität gegen seine eigenen kulturellen Wurzeln. In der politischen Praxis forciert das den "Dschihad", den heiligen Krieg gegen alle "Ungläubigen".
Die islamischen Konvertiten hatte Naipaul schon in seiner ersten "islamischen Reise" der neurotischen Aggression bezichtigt. 16 Jahre später hat er seine Forschungsreisen wiederholt und erneut Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien bereist, in denen sich der Islamismus mittlerweile weiter radikalisiert hatte. Und die Befunde dieser zweiten Reise, die Naipaul in dem Band Jenseits des Glaubens dokumentiert hat, rauben dem Leser den verbliebenen Rest an Illusionen über die Natur islamischer Gesellschaften. Im Iran des Jahres 1995, also vor der Präsidentschaft Mohammed Khatamis, konstatiert Naipaul nicht nur eine "allumfassende Zensur" aller Lebensäußerungen, sondern auch das Fortdauern jener Formen des Staatsterrors, mit denen einst die Revolution 1979 ihre Gegner überzogen hatte. Nach dem Sturz des Schahs hatte Khomeini mit seinem engsten Weggefährten, dem Ajatollah Montazeri, verkündet, dass sich die Revolution auf die Jugend konzentrieren solle und Menschen über 40 nutzlos seien; anstatt Renten zu zahlen, sollten "abgestorbene Bäume" gefällt werden. Von den Vollstreckern der 1979 in Gang gesetzten blutigen Exekutionsmaschinerie hatte sich das Regime zwar bald getrennt, aber trotz vorübergehender Mäßigung festigte sich die religiöse Despotie. In dieser bedrückenden Atmosphäre gedieh dann Anfang der neunziger Jahre das Sektenwesen junger Nazis, die zur Jagd auf jüdische Minderheiten bliesen.
Noch schroffer fällt Naipauls Urteil über Pakistan aus, das sich 1947 von Indien getrennt hatte, um sich als islamischer Staat glanzvoll neu zu konstituieren. Durch die Rückkehr zur Grausamkeit der islamischen Rechtsprechung, durch die Legitimierung patriarchaler Verhältnisse und die Korrumpierung der Behörden, sei hier, glaubt Naipaul, die Staatsmacht vollständig demontiert worden: "Nach vier Jahrzehnten des Zynismus und der geistigen Trägheit hatte sich der Staat, der anfangs einigen als Gott erschienen war, auf ein kriminelles Unternehmen reduziert."
In die Bitterkeit seiner Befunde hat Naipaul auch noch eine provokative Pointe eingeschmuggelt, wenn er nämlich die von der britischen Kolonialherrschaft errichteten Gebäude und Institutionen als einzig funktionstüchtige Einrichtungen Pakistans benennt. Nein, Vidiadhar Surajprasad Naipaul, dieser kosmopolitische Weltbeobachter und Gesellschaftsporträtist schreckt auch vor reaktionären Denkfiguren nicht zurück - wenn es den despotischen Geist des Islam bloßzustellen gilt. Mit der naiven Beschwörung der Friedfertigkeit des Islam wird man sich jedenfalls nach der Lektüre von V.S. Naipauls ernüchternden Studien nicht mehr beruhigen können.
V.S.Naipaul: Jenseits des Glaubens. Eine Reise in den anderen Islam. Aus dem Englischen von Monika Noll und Ulrich Enderwitz. Claassen, München 2002, 608 S.,
24 EUR
V.S. Naipaul: Briefe zwischen Vater und Sohn. Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Claus Varrelmann. Claassen, München 2002, 424 Seiten, 23 EUR
V.S. Naipaul: Das Lesen und das Schreiben. A. d. Englischen v. Kathrin Razum und Dirk van Gunsteren. Claassen, München 2003, 96 S., 10 EUR
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