Letzte glückliche Tage

Textgalerie Kolumne

"Am Anfang war der Apfel": Im Titel einer aktuellen Kunstausstellung wird sie derzeit wieder aufgerufen - die Ursprünglichkeit der gefährlich lockenden Frucht. Tatsächlich ist der Apfel ein zentrales mythisches Objekt: als verbotene Frucht des Paradieses, als Zeichen der Verheißung und Instrument der Verführung, nicht zuletzt auch als ein Symbol der Schöpfung. Der antike Mythos berichtet, dass es Dionysos, der Gott der Fruchtbarkeit war, der die Apfelbäume schuf und Aphrodite, der Göttin der Liebe, die Liebesfrucht schenkte. Die Genesis erzählt vom Fehlgriff Evas zur verbotenen Frucht, der zur Vertreibung aus dem Paradies führt.

In der mittelalterlichen Schrift liber de pomo, die von einem unbekannten Verfasser vermutlich um 1300 geschrieben wurde, ist es dann es der Philosoph Aristoteles, der einen Apfel als Zeichen der Ermutigung an seine Schüler weiter reicht. Auf dem Sterbelager hantiert Aristoteles mit dem Apfel als letztem Lebenselixier, da ihm dessen Duft die nötige Kraft zur Unterweisung seiner trostbedürftigen Schüler verleiht. Ein halbes Jahrtausend später wird ein vergifteter Apfel zum Topos eines berühmten Märchens der Gebrüder Grimm. In diese Motivgeschichte der ebenso oft begehrten wie verbotenen Apfels taucht auch das vorliegende Gedicht von Lioba Happel ein.

Nach den anmutig-neuromantischen und pathetisch-düsteren Gedichten der Bände Grüne Nachmittage (1989) und Der Schlaf überm Eis (1995) ist es um die Dichterin Lioba Happel still geworden. Schon in ihrem zweiten Band dominierten Verzweiflungsbilder der Kälte, Vereisung, Entfremdung und Erstarrung. Es waren Gedichte, die ein Pathos der Liebesklage riskierten und von der Übermacht eines Schmerzes erzählten, der die Horizonte verfinstert. Im vorliegenden Gedicht wird nun in mythischen Chiffren die bittere Geschichte einer Abkehr von göttlichen und weltlichen Ordnungen erzählt. Das lyrische Ich, das hier auftritt, nimmt auf vielfache Weise Abschied von der Welt und schickt noch eine bittere Danksagung an Gott. Märchenmotive wehen heran, die Geschichte Schneewittchens, mit ihr auch naive Redegesten, die dann wieder mit ebenso emphatischem wie irritierendem Ernst vertrieben werden. In einer seltsamen Innigkeit trägt ein Ich, dessen Identität unklar bleibt, ein Sündenbekenntnis vor, spricht von Verfehlungen.

Bereits der Verzehr eines Apfels, so wird nach dem Eingangsvers deutlich, führt auf Irrwege, auf vergiftetes Terrain. Aber es bleibt nicht beim Verzehr der gefährlichen Frucht, das Ich leistet sich noch einen weiteren Akt des Verschlingens, der in mythischen Erzählungen kein Vorbild hat. Nur vom berühmten römischen Despoten Nero wird berichtet, er habe eine Kröte verschluckt, um sich das Gefühl einer Schwangerschaft vorstellen zu können. Das "stille Tier", das im Gedicht verschluckt wird, scheint dagegen mit Attributen einer Verheißung ausgestattet: es wird verbunden mit einem "mythos-verwobenen Morgen".

Die folgenden Zeilen scheinen ein Schuldeingeständnis des Ich zu formulieren, wobei zugleich ein gewisser Trotz mitschwingt. Denn das Bewusstsein der bösen Tat hält das Ich nicht von einem (wenn auch vorübergehenden) Glücksgefühl ab. Der letzte Vers macht in lakonischer Härte und schockierender Plötzlichkeit deutlich, dass hier ein Ich spricht, das Abschied nimmt und erkennt, dass die Zeit des Glücks unwiderruflich vorbei ist. So ist das lyrische Subjekt am Ende gefangen in jenem fatalistischen Bewusstsein, das auch den Figuren Samuel Becketts eigen ist, wenn sie auf ihre "Glücklichen Tage" blicken: "Was macht das schon, sage ich immer, es wird ein glücklicher Tag gewesen sein, trotz allem wieder ein glücklicher Tag."

Lioba Happel, geboren 1957 in Aschaffenburg, studierte Germanistik und Hispanistik und lebt heute nach längeren Aufenthalten in England, Irland und Spanien als Übersetzerin und Schriftstellerin in Lausanne. Das vorliegende Gedicht ist Heft 59/60 der Literaturzeitschrift Park entnommen.


Lioba Happel

Ich habe einen Apfel gegessen

Er war makellos giftig und rund
Ich habe ein stilles Tier verschluckt
In der Farbe eines mythos-verwobenen Morgen
Ich war böse gewesen und jetzt lächle ich
Ich war zornig
Und jetzt danke ich Gott
Für einen letzten glücklichen Tag

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