Unter modernen Dichtern grassiert mitunter eine narzisstische Unart: die Manier der eitlen Selbstbezüglichkeit, mit der man sich der Zugehörigkeit zur lyrischen Avantgarde versichert. Dazu ruft man eine höhere lyrische Autorität an, um sich mittels kostbarer, weil entlegener Zitate anschmiegen zu können. Ein solches Prunkzitat des amerikanischen Lyrikers Wallace Stevens hat auch der katalanische Lyriker Pere Gimferrer seinem Gedichtband Die Spiegel vorangestellt: "Poetry ist the subject of the poem." Dass Poesie immer nur auf vorangegangene Poesie rekurriert, dass sich Gedichte nur als meta-poetische Reflexion und als Überschreibung der lyrischen Altvorderen konstituieren - diese als hochreflektierte Weisheit kaschierte Banalität trägt nicht weit.
Und auch Gimferrer weiß sehr genau, dass die theoretisierenden Sentenzen, die er in seine Gedichte einstreut, nur als Koketterien haltbar sind: "Die Dichtung ist jetzt unpersönlich", notiert er an einer Stelle und verweist auf "die Kälte der Aussage", um schließlich zu resümieren: "Die Worte sind nicht. Sie bezeichnen. / Keine wundertätige Macht." So lauten eben die Standards aus dem Museum der modernen Poesie. Es kennzeichnet die poetische Raffinesse Gimferrers, dass er diese Selbstbescheidung kunstvoll unterläuft und im zweiten Teil seines außerordentlichen Gedichtbuchs just das zuvor Verleugnete zelebriert: nämlich die "wundertätige Macht" des poetischen Wortes.
Unter den katalanischen Dichtern, die anlässlich des Buchmessen-Schwerpunkts endlich einen deutschen Verleger gefunden haben, ist der 1945 geborene Gimferrer sicherlich der konsequenteste und radikalste Modernist. Mit den Titeln seiner Gedichtbände Der Spiegel und Der öde Raum signalisiert er etwas plakativ seine Begeisterung für die puristische Strenge des französischen Erz-Modernisten Stéphane Mallarmé. Aber es gelingt ihm, sich von den Dogmen seines Vorbilds zu lösen und den "öden Raum" zu einer bizarren Traumarchitektur auszuweiten.
Gimferrers Gedichte haben etwas von der Art eines schweren Traums - sie wirbeln Phantasmagorien auf in buntestem Durcheinander, verknüpfen Nachtgesichte mit hellen Visionen des Unglücks und locken ihre Leser in Labyrinthe ohne rettenden Ausgang. So wird das lange Gedicht Der öde Raum zu einer Hadeswanderung voll düsterer Bilder. Das lyrische Subjekt schlüpft in die Maske eines Opferpriesters, der eine Frau rituell tötet oder ergreift die Flucht vor einem "schwarzen Mann", der als Todesbote mit "eiserner Hand" an die Tür klopft. In einem anderen Kapitel wiederum imaginiert das Ich in pathetisch flackernden Bildern einen außergewöhnlichen Liebesakt. Die "Lichtausbrüche in den Augen" ermöglichen im "öden Raum" den "anderen Zustand" der entgrenzten Wahrnehmung: Die Sonne / verflüssigt sich, eine Untergangs- und Nebelsonne, / halb gefroren, scheuert die lebendige Haut des Abends auf. / Eine Sonne der Wahrsager, die dahinziehen mit Lichtern / aus Milzöl und aus Kalbsblutöl: Lavendel / und Rosmarin, das Gras des Maulwurfs, / das uns erblinden läßt, um eine tiefere Sonne zu sehen, und das Zähneknirschen / und die Helligkeit des Maulwurfs, der jetzt die Sonne zernagt auf / dem Grund der Augen.
In dem artifiziellen poetischen Kosmos Gimferrers finden sich kaum noch Motive, die von den geschichtlichen Erschütterungen der Franco-Ära zeugen. Damit verkörpert sein Werk den absoluten Ausnahmefall in der katalanischen Dichtkunst.
Ganz anders dagegen der Gründervater und Säulenheilige der katalanischen Moderne, der Dichter Salvador Espriu (1913-1985). Der zentrale Ort seiner Inspiration und poetischen Bildgebung ist zeit seines Lebens ein kleines Fischerstädtchen an der Mittelmeerküste geblieben, etwa 80 Kilometer nördlich von Barcelona. Das geliebte Avenys de Mar blieb für den Dichter stets das "ideale Vaterland", der Friedhof des Ortes erwies sich als Produktionsstätte seiner poetischen Einbildungskraft. In gleich zwei seiner insgesamt zehn Gedichtbände hat Espriu seinen Sehnsuchtsort in anagrammatischer Verschiebung zum lyrischen Schauplatz "Sinera" erhoben. In Cementiri de Sinera ("Friedhof von Sinera") von 1946 und Libre de Sinera ("Buch von Sinera") von 1963 hat er nicht nur die landschaftlichen Besonderheiten des katalanischen Hinterlandes - ausgetrocknete Bäche und Flüsse, Seewind, Bäume und Gärten - besungen, sondern immer auch die Existenzialien eines Menschenlebens in der Abgeschiedenheit der Provinz.
In Katalonien wurde Espriu, der im Brotberuf als Notar arbeitete, zum Volkshelden, als er sich nach 1960 sich immer stärker einer Poesie des "Engagements" zuwandte und sich der schöpferischen Rettung der katalanischen Sprache verschrieb. Während der Franco-Diktatur war das Katalanische zum "befremdenden Dialekt" degradiert und als Amtssprache verboten worden. Esprius Poesie repräsentierte dagegen den poetischen Glanz des Katalanischen - wobei der größte Teil seines Werks das explizit Politische abweist und stattdessen metaphysische Meditationen und elegische Betrachtungen zur Vergänglichkeit ins Zentrum stellt.
Es gehört zu den traurigsten Kapiteln der europäischen Literaturgeschichte, dass der Weltpoet Espriu, der wichtigste katalanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, außerhalb seiner Heimat fast gänzlich ignoriert worden ist. In Deutschland bemüht sich der Übersetzer Fritz Vogelgsang seit fast 30 Jahren mit nicht nachlassender Leidenschaft um das Werk Esprius. In den achtziger Jahren hatte er den Frankfurter Vervuert Verlag zu zwei Espriu-Publikationen bewegen können. Dann kam lange nichts mehr. 1991 legte dann Axel Sanjosé, der Übersetzer Pere Gimferrers, in einem Heft der Literaturzeitschrift Sirene einige exemplarische Espriu-Übersetzungen vor. Nun hat Vogelgsang mit Hilfe des Ammann Verlags seine poetische Pionierarbeit vollendet: Das lyrische Gesamtwerk Esprius wird in einer zweisprachigen Ausgabe und mit einem umfangreichen Kommentarteil präsentiert. So viel Entdeckerwucht und verlegerische Risikobereitschaft hat es lange nicht mehr gegeben. Wer sich dazu noch das Vergnügen leistet, die Espriu-Übertragungen Vogelgsangs und Sanjosés zu vergleichen, dem fallen enorme Abweichungen im Ton und im Sprachgestus auf. Wo Vogelgsang eine emphatische und romantisierende Sprechweise favorisiert, da interpretiert Sanjosé seinen Espriu als kargen und schnoddrig-ironischen Lakoniker. Dass ein Dichter so unterschiedliche Lesarten provoziert, schmälert seine Faszinationskraft nicht, im Gegenteil.
"Meditation über den Tod" hat Espriu als das Grundmotiv seines Schreibens benannt. In dieser motivischen Obsession hat ihn der 1938 geborene Joan Margarit beerbt, der seine Gedichte ursprünglich in Spanisch schrieb, bevor er 1978 das Katalanische zu seiner Dichtersprache erkor. Die Stuttgarter Edition Delta, der wir einige schöne Übersetzungen iberoamerikanischer Literatur verdanken, hat nun ein herzzerreißendes Requiem Joan Margarits auf seine Tochter Joana vorgelegt. Margarits Tochter litt an einer schweren körperlichen Behinderung und starb nach langer Pflege im Alter von 30 Jahren. Nun vergegenwärtigt der traumatisierte Dichter die letzten Augenblicke ihres dahinschwindenden Lebens. Es ist ein bewegendes Exerzitium der Trauer: Um den Schmerz zu ertragen, versucht sich Margarits Ich in nüchterner Selbsterkundung, probiert allerlei Stilmasken des elegischen Sprechens aus, bis es doch von der furchtbaren Erfahrung des Verlusts überwältigt wird. Poesie kann den Tod aufhalten, aber nicht besiegen. Was bleibt, ist eine paradoxe Pointe: "dies ist der Trost: es wird keine größere / Verlassenheit mehr geben als meine."
Pere Gimferrer: Die Spiegel. Der öde Raum. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Katalanischen von Axel Sanjosé. Hanser, München 2007, 142 S., 14,90 EUR
Salvador Espriu: Obra Poètica - Das lyrische Werk. Katalanisch und deutsch. Aus dem Katalanischen von Fritz Vogelgsang. 3 Bände im Schuber. Ammann, Zürich 2007, 800 S., 34,90 EUR
Joan Margarit: Joana und andere Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Edition Delta, Stuttgart 2007, 176 S., 17,50 EUR
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