Als er am Ende seines kurzen Dichterlebens immer mehr von schizophrenen Schüben zermürbt wurde, gelangen ihm auch jene herzzerreißenden Liebesverse und patriotischen Selbstermahnungen nicht mehr, mit denen er sich aus dem seelischen Dunkel zu befreien pflegte. "Starr, schmerzschwer, abgestürzt in Kot / lieg ich im Abgrund, hebt mich keiner./ Nimm mich, nimm deinen Sohn, mein Gott,/ ich will nicht Waise sein, kein Ärger." Es waren keine religiösen oder politischen Götter mehr da, die den ungarischen Dichter Attila József retten konnten. Zurückgewiesen von seiner großen Liebe, verlassen von seinen literarischen Freunden und abgestürzt in tiefe Armut, warf sich der gerade mal 32jährige Dichter am 3. Dezember 1937 in der ungarischen Provinzstadt Balatánzarszó vor einen Güterzug.
Ein derart vom unglücklichen Bewusstsein zerquälter Dichter eignet sich in der Regel nicht zum literarischen Nationalhelden. Aber im Falle von Attila József hat der anhaltende Ruhm sehr viel mit der selektiven Wahrnehmung des Publikums zu tun. Inständig verehrt wird der Liebeslyriker, der begeisterte Verkünder des "Ungarntums" und teilweise auch der wortmächtige Plebejer und der bildreich der Armut trotzende Dichter der Existenz-Mühsal. Dass selbst im modernen Ungarn alle Wege zu Attila József führen, stellte auch Gerhard Falkner fest, als er sich 1999 eine erste flüchtige Durchsicht der jungen ungarischen Lyrik-Szene (in der DuMont-Anthologie Budapester Szenen) vornahm. Falkner stieß auf sehr westlich anmutende Bewusstseinshaltungen, die in ihren lyrischen Resonanzen und Verfahrensweisen sehr an die mittlerweile eher schlecht beleumundete "Prenzlauer Berg-Connection" erinnerten. Folgt man Falkners Befund, dann sind die neuen Repräsentanten eines modernen poetischen Bewusstseins in Ungarn von exakt jener Sehnsucht nach Underground, metropolitanen Reizen und cooler Morbidität erfasst, wie sie einem hierzulande in jedem zweiten "Poetry Slam" vorgeführt werden. Indes: "Das Neue, das Zeitgemäße, das hip ist oder high macht, wird von der Sprache des kleinen Landes verschlungen. Am Ende hat es dann doch mehr zu tun Attila József als mit der Acid-Party."
Die fortdauernde Popularität des Dichters József in seiner Heimat korrespondiert aber kaum mit einer vergleichbaren Wertschätzung im Westen. Obwohl ihn Hans Magnus Enzensberger 1960 in sein Museum der modernen Poesie aufgenommen hatte, sprang der ästhetische Funke zumindest in der westdeutschen Rezeption nicht über. Die literarische Einbürgerung des Dichters József ist einigen DDR-Lyrikern zu verdanken. An erster Stelle ist hier Stephan Hermlin zu nennen, der bereits 1954 und 1958, in zwei Ausgaben von Sinn und Form, nachdrücklich auf die Gedichte Jozsefs hingewiesen hatte und dessen "große proletarische Dichtung" in den Kanon einer sozialistischen Literatur integrieren wollte. Die von Hermlin 1960 im Verlag Volk herausgegebene Gedichtauswahl prägte denn auch das Bild vom "plebejischen Dichter" Attila József der aus den Elendsvierteln der Budapester Vorstadt bis in den Olymp einer volksnahen marxistischen Poesie aufstieg.
Hermlin hatte dem "ungarischen Majakowski" eine proletarische Muster-Biographie auf den Leib geschrieben. Tatsächlich hatte der 1905 geborene Sohn eines Seifensieders und einer Wäscherin zeit seines Lebens unter bitterster Armut zu leiden. Sein Vater verließ die Familie, als der Junge gerade drei Jahre alt war. Mit seinen Schwestern wurde er zu Pflegeltern aufs Land geschickt, wo er Schweine zu hüten hatte und brutalen körperlichen Züchtigungen ausgesetzt war. Für eines seiner ersten Gedichte unterzog man den hochbegabten Schüler, der mit siebzehn Jahren seine ersten Texte veröffentlichte, einem Gotteslästerungsprozess. Auch später provozierten seine Gedichte immer wieder härteste Maßnahmen schulischer oder polizeilicher Instanzen. Was Hermlin aber besonders an József schätzte, war sein lange Jahre unerschütterlicher Marxismus, mit dem sich der Dichter gegen die präfaschistische Staatsordnung des Horthy-Regimes zur Wehr setzte. Was Hermlin in seiner biographischen Skizze vernachlässigt, ist Jozsefs konstitutionelles Ketzertum, begründet unter anderem in seiner Passion für die Psychoanalyse, die ihn nach einigen Jahren in schwerste Konflikte mit der damals verbotenen KP brachte.
Wie wenig sich József als heldenhaft plebejischer Dichter vereinnahmen lässt, zeigt nun die erste umfassende und wunderbar bibliophile Auswahl seiner Gedichte, die der Übersetzer Daniel Muth mit Hilfe der ungarischen Dichterin Zsofia Balla ins Deutsche gebracht hat. Zum erstenmal liegt hier eine József -Übersetzung vor, die in akribischer Arbeit am Originaltext entstanden ist. Die von Hermlin publizierte Auswahl hatte sich - wie alle anderen Ausgaben -noch auf Interlinear-Versionen gestützt. Welche übersetzerischen Abgründe zwischen den Nachdichtungen Hermlins und den dem Original verpflichteten, gleichwohl auch mit "sporadischer Untreue" operierenden Übertragungen Muths liegen, sei an einem prominenten Gedicht-Beispiel gezeigt. Ein und dieselbe Strophe in Jozsefs Gewinn-Ballade (bei Hermlin marxistisch akzentuiert: Ballade vom Profit) führt auf völlig unterschiedliche Wort-Bahnen. Muth versucht der Wörtlichkeit und der rhythmischen Bewegung treu zu bleiben: "Schmiede nur schmachtend dein Gedicht; / pökle getrost dir Prager Schinken; / sammle Heilpflanzen, leg Gewicht / auf die Buchhaltung, auf das Zinken; / trage Mützen mit goldenem Gepränge; / leb in Paris, leb in Hinterwald- / eh du den Lohn bekommst am Monatsende, / stehst du hier, und dort sitzt der Gewinn." Rhythmisch wesentlich eleganter und bildkräftiger kommt die Hermlin-Nachdichtung daher. Der Preis, den sie dafür entrichtet, ist die willkürliche Entfernung vom Text. Was Hermlin an Pathos gewinnt, entnimmt er mitunter dem eigenen Bildervorrat, nicht dem Jozsefs. So lautet bei ihm die identische Strophe: "Ob du Gedichte voller Galle baust, / Ob du Prophet bist oder Löwenbändiger, / Ob du im Hauptbuch fälschst oder, noch wendiger, / Einem, ders hat, ganz schnell die Börse klaust, / Ob mal das Glück an deiner Seite schritt, / Ob du in Fetzen gehst, Mitleiderreger, / Ob Hirnmensch, Händler oder Straßenfeger: / Da stehst du - doch bequem sitzt der Profit."
Als des Ungarischen unkundiger Leser wird man sich Muths Übertragungen anvertrauen - auch wenn sie durch ihre mitunter etwas spröden Fügungen Mühe haben werden, sich gegen den Nachhall der geschmeidigen Hermlinschen Pathetisierungen zu behaupten.
Aber welche Nachgeborenen haben an die wortmächtigen Existenz-Erkundungen eines Jozsef anknüpfen können? In Deutschland kennt man nach dem Tod György Petris kaum noch ungarische Dichter, denen der Rang eines Weltpoeten zukommt. Den Altmeister Otto Tolnai vielleicht, den ironisch-weltläufigen Endre Kukorelly oder Zsofia Ballas Verse einer "Schicksallosen". Von den jungen ungarischen Lyrikern, die Gerhard Falkner in seiner Anthologie vorstellte, hat einzig der 1964 geborene István Vörös eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt. Im vergangenen Herbst hat die Wiener edition korrespondenzen, der derzeit inspirierteste Ort für die Vermittlung avancierter europäischer Poesie, eine erste Gedichtsammlung dieses Autors veröffentlicht.
Seine Gedichte setzen oft mit sehr beiläufigen Alltagsszenen ein, scharf konturierten Details, die dann durch eine leichte Verschiebung ins Phantastische Gleichnischarakter gewinnen. Fast private Beobachtungen - einer leeren Grapefruitschale, eines Avocadostücks oder eines Strudelteigs - verwandeln sich dann plötzlich in Offenbarungen schicksalhafter Zusammenhänge oder auch in Epiphanien eines geschichtlichen Verhängnisses. Der geknetete Strudelteig erweist sich im Eröffnungsgedichts des Bandes als geschichtliche Skulptur: Der Blick auf die Urszenen der Familiengeschichte wird freigelegt. An einer anderen Stelle erprobt Vörös den kalten anatomischen Blick auf menschliche Fatalität: Eine Szene in der Pathologie nimmt eine makabre surreale Wendung. Und in einer wunderbaren Variation auf ein berühmtes Gedicht des Amerikaners Wallace Stevens (Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten) verwandelt sich eine "Schwarzamsel" in einen magischen Vogel, der die Wahrnehmung fesselt und zum Menetekel wird: "Der Krieg ist eine Schwarzamsel. / Die Dichtung eine Gelbamsel. / Die Gelbamsel singt schöner. / Die Schwarzamsel kann jeden / Vogel nachahmen."
Innerhalb der älteren Generation ungarischer Lyriker rangierte der 1934 geborene Márton Kalász lange Zeit als einer der bedeutendendsten Autoren - bis man ihn vor einem Jahr als Schlüsselfigur eines antisemitischen Skandals desavouierte. An einer wütenden Demonstration aufgebrachter Christen mit unverhohlen antisemitischen Untertönen hatte sich im Januar 2004 auch ein Funktionär des ungarischen Schriftstellerverbands beteiligt. Aus Protest gegen dessen antisemitische Tiraden waren 160 der wichtigsten ungarischen Schriftsteller aus ihrem Verband ausgetreten. Auf ihre Forderungen, man müsse sich von den antisemitischen Äußerungen dieses Literaturfunktionärs distanzieren, reagierte Márton Kalász - in seiner Funktion als Vorsitzender des Autorenverbands - mit der kühlen Bemerkung, es sei nicht seine Aufgabe, als "Gedankenpolizei" gegen die freie Meinungsäußerung tätig zu werden. Seither gilt er unter den ungarischen Liberalen als Unperson. Kurz vor dem Skandal ist nun ein Gedichtband von Kalász erschienen, der den Autor als inspirierten Lyriker ausweist.
Kalász bedient sich hier in einer Reihe von Rollengedichten der Maske Hölderlins, um an ästhetische Grenzerfahrungen heranzukommen. Über fünf Jahre hinweg hat dieser Dichter, der in einem deutschen Dorf in Südungarn aufgewachsen ist, die "excentrische Bahn" des Hölderlinschen Lebens erforscht und hat sich in dieser Zeit an die Urszenen dieser Biographie herangeschrieben. Daraus entstanden sind lyrische Monologe über das Unglück, halblaute Selbstgespräche eines Autors, den die "innere Not" zu glühenden Bildern getrieben hat: "am Ende / bliebe nur die Gemeinsamkeit unserer zögernden Hände in deiner Hand / niemandes Seele in unserer Seele - schau, du würdest täglich so im Ersticken/ liegen, unter unserer wunden, bekümmerten inneren Not".
"Es trafen mich aber", so hat einst Attila József in seinem anrührenden Lebenlauf (Curriculum vitae) geschrieben, "so unerwartete Schläge, dass ich es - so sehr mich das Leben durch die Mangel drehte - nicht mehr aushielt." Die Wucht dieser Schläge bekommen ungarische Dichter auch heute noch zu spüren.
Attila Jozsef: Ein wilder Apfelbaum will ich werden. Gedichte 1916-1937. Aus dem Ungarischen übersetzt, ausgewählt und herausgegeben von Daniel Muth. Mit einem Vorwort von Ferenc Fejto und einem Nachwort von György Dalos. Ammann, Zürich 2005, 506 S., 29,90 EUR
István Vörös: Die leere Grapefruit. Gedichte. Ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Zsuzsanna Gahse. Edition Korrespondenzen, Wien 2004, 106 S.,
17,40 EUR
Márton Kalász: Dunkle Wunde. Hölderlin-Gedichte. Aus dem Ungarischen übersetzt von Julia und Robert Schiff. Wunderhorn, Heidelberg 2003, 48 S., 13,50 EUR
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