Mit dem politischen Messianismus von einst wäre der Mann mit der Gitarre heute nur noch ein Auslaufmodell. Denn die Zeit für politische "Liedermacher", die unverrückbare Gewissheiten predigen oder gar Erlösungsmodelle sozialistischer Couleur anbieten, ist schon lange abgelaufen. "So oder so - die Erde wird rot!": Nur hartgesottene Utopiker werden diesen kategorischen Imperativ des jungen Wolf Biermann noch heute trotzig wiederholen wollen. Mit frohen Botschaften aus der Sphäre des Politischen will uns der altmeisterliche Poet des Bandes Heimat denn auch verschonen. Obwohl: Wer genauer hinsieht, entdeckt hinter dem sich altersweise gebenden Heimat-Dichter noch immer den eitel-stolzen Polit-Haudegen, der den staubig gewordenen Weltverbesserungsprogrammen abschwört und nun eben die Weisheiten des Renegaten hinausposaunt: "Mein Liebchen, wir brauchen die Botschaft nich / vom Paradies uff Erden / Marx war kein Messias und nie Marxist / Ob Christ kommt, oder gekommen ist / - wir bleiben doch die die wir werden!" Mit dem "welt-re-volu-tionären Rabatz" will der alte Biermann nichts mehr zu tun haben. Aber es besser wissen, will er immer noch. Und doch bleibt Wolf Biermann, der als Ikone des linken Dissidententums berühmt geworden ist, ein Poet von Rang.
Wieso dies? Es gab immer und gibt immer noch zwei Facetten des Künstlers Biermann: in der Öffentlichkeit präsent war immer der "Liedermacher" und politische Lautsprecher, der es mit seinem Image als "antikommunistischer Krakeeler" zu internationalem Ruhm brachte - eher im Verborgenen arbeitete dagegen der Dichter von zarten Liebesliedern und herzzerreißenden Balladen. Die Karriere des linken Ketzers ist bekannt: Der Sohn eines von den Nazis ermordeten kommunistischen Werftarbeiters aus Hamburg war 1953 in den "ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden" übergesiedelt und hatte schon 1961/62 mit seinen ersten Liedern und Gedichten die SED-Oberen in große Unruhe versetzt. Als linker Märtyrer mit Ketzer-Bonus erreichte Biermann spätestens um 1968 Kultstatus - in Ost und West. Sein zweistündiges Konzert in Köln am 13. November 1976 genügte, um die Fundamente der DDR ins Wanken zu bringen. Nachdem das SED-Politbüro drei Tage nach dem Kölner Konzert den fatalen Fehler beging, dem eigensinnigen Musensohn Biermann die Staatsbürgerschaft der DDR zu entziehen, geriet das ganze Kulturleben der DDR außer Kontrolle. Den unbequemen Sänger hatte man zwar außer Landes geschafft, aber in der DDR damit eine Protest-Lawine losgetreten, die den Anfang vom Ende des SED-Staats einleiten sollte.
Unter den heute 50-Jährigen, sofern sie in ihrer Jugend mit libertärem Gedankengut aufgewachsen sind, zirkulierten die ersten Biermann-Bücher und -Schallplatten, die in der Bundesrepublik von Klaus Wagenbach publiziert wurden, als heilige Schriften beziehungsweise Hörwerk-Evangelien. "Die technischen Errungenschaften der DDR sind Wolf Biermann nicht zugänglich", lautet die in unverkennbarem Abweichler-Stolz verfasste Notiz auf der Kult-Platte Chausseestraße 131 (1968), die mit einem eingeschmuggelten Grundig-Tonbandgerät in der Privatwohnung des Sängers aufgenommen wurde. Die auf dieser Platte zu hörenden Außengeräusche, vor allem das Quietschen der Straßenbahn, verleihen dieser Aufnahme eine Aura, die suggestiver kaum sein kann. In diesem akustischen Ambiente des Eigensinns hebt die Stimme des Sängers an, der in der Nachfolge seiner großen Vorbilder Villon, Heine und Brecht frohe Botschaften vom Kommunismus verkündet. Noch in seiner großen Heinrich Heine-Kontrafaktur Deutschland, ein Wintermärchen (1972) weiß er Gut und Böse in treffsicheren Sarkasmen zu scheiden: Die DDR, mein Vaterland, / Ist sauber, immerhin/ Die Wiederkehr der Nazi-Zeit/ Ist absolut nicht drin./ So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen,/ Dass rot verschrammt der Hintern ist,/ Der vorher braun gewesen.
Es hat einige Jahre gedauert, bis sich Biermann von dieser linken Besserwisserei emanzipieren konnte. Dann aber verwandelte sich der Kommunist zum Entsetzen seiner linken Freunde zum zweiten Mal in einen Renegaten. Die Wende von 1989 erlebte der sozialistische Anarch als Ruin aller linken Ideale. Biermann besann sich auf seine jüdische Herkunft (sein Vater und seine Tante wurden einst in Auschwitz umgebracht) und erklärte sich zum Freund Israels, propagierte den Golf-Krieg und die Intervention im Irak und entlarvte die widerspenstigen Genossen von einst als Antisemiten.
Wer das politische Orakel Biermann als Nervensäge empfindet, sollte sich an den Dichter Biermann halten, der dann interessant wird, wenn er das Winken mit dem politischen Zaunpfahl unterlässt und zarte Landschaftsbilder und Liebesszenen zu zeichnen versucht. Im Band Preußischer Ikarus von 1978 findet sich zum Beispiel das wunderbare Lied Und als wir ans Ufer kamen. Es ist kurz vor der Ausbürgerung des Dichters entstanden und spricht von der Zerrissenheit zwischen zwei Vaterländern in einer Weise, die für die Trauer und Melancholie des Sprechenden anrührende Bilder findet. Die erste Strophe handelt hier von den Augen- und Sinnestäuschungen derjenigen, die auf ihrer Lebensreise die Orientierung verloren haben. Mit der Kahnfahrt wird dabei ein Lieblingsmotiv von Biermanns Vorbild Heinrich Heine aufgerufen. Während zunächst von zwei Liebenden im Kahn die Rede ist, folgt im zweiten, schwächeren Teil die Politisierung des Gemütszustands: Und saßen noch lang im Kahn/ Da war es, dass wir den Himmel / Am schönsten im Wasser sahn / Und durch den Birnbaum flogen / Paar Fischlein. Das Flugzeug schwamm / Quer durch den See und zerschellte / Sachte am Weidenstamm / - am Weidenstamm. // Was wird bloß aus unsern Träumen / In diesem zerrissenen Land / Die Wunden wollen nicht zugehn / Unter dem Dreckverband / Und was wird aus unsern Freunden / Ich möchte noch was aus dir, aus mir - / Ich möchte am liebsten weg sein / Und bleibe am liebsten hier.
In seinem jüngsten Gedichtband Heimat, mit dem sich Wolf Biermann zu seinem 70. Geburtstag beschenkt hat, finden sich nun durchaus einige Gedichte, die an die ergreifende Melodie des Kahnfahrt-Gedichts und an den kongenial übersetzten Brecht- und Heine-Ton anknüpfen. Wie sich der Dichter hier einen Grabspruch des mittelalterlichen Theologen Martinus von Biberach anverwandelt, ist einzigartig: Ich floh aus einer brennenden Stadt / Ich Glückskind, froh von Anbeginn/ Freß mich durchs Leben hungrigsatt / Mich wundert, dass ich so traurig bin ... Ich bin gewiß - und weiß nicht wer / Ich gehe und weiß nicht wohin / Ich komme und weiß nicht woher / Mich wundert, dass ich so fröhlich bin. In seinen besten Balladen kann der Mann mit der Gitarre noch immer als inspirierter Wiedergänger Heinrich Heines gelten. In den konzentrierten kürzeren Gedichten, die ebenfalls virtuos mit Heines Volksliedstrophe operieren, zeichnet er ein ironisch gebrochenes Porträt vom Dichter als alter Mann, gezeichnet von Vergänglichkeitserfahrungen. Dem gegenüber stehen dann leider einige vertratschte Balladen, in denen das Ich sich in seinem ungebrochenen Vitalismus und seiner Liebesfähigkeit beweisen will. Die späten Vaterfreuden werden hier ebenso narzisstisch-sentimental besungen ("Schlaf Mollie, schlaf ein, du starke Frucht / Meiner schwindenden Kräfte") wie die ungebrochene Potenz des dichtenden Ich, das sich nicht scheut, eine Landschaftsszene mit dem penetranten Hinweis auf "das Tier in meiner Hose" zu verschandeln.
Mit der Textbewegung korrespondiert in den zwei großen Abteilungen des Bandes eine geografische Bewegung von Norden nach Süden. Den Natur- und Landschaftsgedichten auf seine norddeutsche Heimat, vor allem auf die Flensburger Förde, folgen im zweiten Teil Liebeserklärungen an den Mittelmeer-Ort Banyuls und die französischen Pyrenäen - Gedichte, die mitunter doch sehr touristisch und weichzeichnerisch ausgefallen sind. Dazwischen stehen Biermanns lyrische Solidaritätserklärungen an die Adresse Israels - die dritte "Heimat" des Dichters, der einst glaubte, mit dem Wechsel seiner Vaterländer "vom Regen in die Jauche" gekommen zu sein. Aber zwischen den zahlreichen poetischen Selbstgefälligkeiten findet man immer wieder anrührende Verse.
Die politische Lästerzunge Biermann bewegt uns nicht mehr. Aber der melancholische Balladendichter, der vom Anhauch der Vergänglichkeit getroffen wird, um so mehr: "Die Weisheit des Alters - pardon, ich brauch keine: / Ich schaff es auch so durch die letzte Tür / Bald komm ich bestimmt in den Himmel rinn / die Hölle erleb ich ja hier, schon auf Erden/ ..."
Wolf Biermann: Heimat. Neue Gedichte. Hoffmann Campe, Hamburg 2006, 176 S., 17,95 EUR
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