Kerstin Preiwuß
einmal sind von anatomischen tischen
einmal sind von anatomischen tischen
die apokalyptischen reiter durch mein gesicht gezogen
nun ist es verbogen
habe es abgenommen und in eine hand gelegt
kann’s kaum verwinden
dass sie ein stilleben trägt
warte bis mir ein neues wächst
die reiter warten mit mir mit
ihr rückzug steht fest
dann hab ich zwei schalen, eine waage
in die ich mein leben werfen kann
soweit zum niedergang
(In: poet mag No. 5, Poetenladen Verlag, Leipzig 2008)
Im biblischen Mythos firmieren sie als furchterregende Boten des Todes: die apokalyptischen Reiter, die ohne jedes Erbarmen die Menschheit mit furchtbaren Geißeln heimsuchen und mit Donnerstimme den Untergang verkünden. In einem Gedicht der jungen Lyrikerin Kerstin Preiwuß (sie ist 1980 geboren) sind sie zunächst Traumstoff, die das Ich und seine Physiognomik gewalttätig überqueren, ein Ich, das von dieser Phantasmagorie des Untergangs an eine elementare Lebenswende geführt wird. Am Ausgangspunkt steht wohl eine Begegnung dieses Ich mit der Verletzlichkeit des Körpers: Ein Einschnitt in den Leib, möglicherweise ein operativer Eingriff wird als apokalyptisches Ereignis erfahren. Dann vollzieht sich eine Spaltung: Das Subjekt spricht von der Abgetrenntheit des eigenen Gesichts – und von der Erwartung einer neuerlichen Häutung. Das alte, vertraute Gesicht erweist sich als „Stilleben“ – aber was wird nachwachsen? Die apokalyptischen Reiter erweisen sich dabei als Begleiter, die sich zunächst nicht abschütteln lassen.
Kerstin Preiwuß, die am östlichen Rand Mecklenburgs aufgewachsen ist, an „den bewaldeten Seen zwischen Templin und Plau“, und derzeit am Literaturinstitut in Leipzig ein Studium absolviert, vergegenwärtigt in diesem subtil gereimten Traumgedicht eine existenzielle Grenzsituation. Es vollzieht sich eine Art Häutung, eine Neuausrichtung des Subjekts, das vor einer aussichtslosen Situation steht. Zwar wird der „Rückzug“ der berittenen Unheilsboten in Aussicht gestellt. Aber das erschütterte Dasein lässt sich in keine Balance mehr bringen. Denn das Subjekt kann sich ohne schizophrene Zersplitterung nicht gleichzeitig in die zwei Schalen einer Waage werfen. Der angedeutete Rückzug der apokalyptischen Reiter verheißt dem Ich noch keine Rettung. Im Gegenteil: Der „Niedergang“ wird als unabwendbar erfahren.
Im Gewusel des neuen Lyrik-Booms, in dem derzeit viele mediokre Geister auf das Katapult der Talentförderung gelangen wollen, ist Kerstin Preiwuß eine Ausnahmegestalt. Während sich viele Junglyriker in griesgrämiger Erfahrungsarmut einrichten, tastet sich Preiwuß in sinnlichem Kontakt mit den Mythen und Landschaften ihrer Kindheit von einer eigenständigen poetischen Tonsetzung vor zu einer poetischen Stimme, die uns lange begleiten wird.
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