Vor 40 Jahren tauchte ein junger Dichter aus Leipzig zum ersten Mal in der literarischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik auf - und blockierte damit endgültig seine literarische Karriere in der DDR. Als jüngster Beiträger in Peter Hamms wagemutiger Lyrik-Anthologie Aussichten von 1966 "kabelte" der damals gerade 20-jährige Andreas Reimann sein "Credo in die Welt": "Hier leb ich. Such ich. Finde mich dabei. / Ich lieb dies land. Ist hier nicht denken pflicht?/ Und dies ist höchster menschlicher genuß." Sein grimmiges Bekenntnis zum "Tätig sein" in der DDR-Wirklichkeit markierte als Schlussgedicht dieser Anthologie einen leidenschaftlichen lyrischen "Realismus", den damals der junge Peter Hamm zur zentralen Antriebskraft der modernen Lyrik erhoben hatte.
Reimanns "Credo" kam bei den Literaturpolitikern der DDR ausgesprochen schlecht an. Einige Monate vor seinem Auftritt in Aussichten hatte man den hochbegabten Studenten am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig vorzeitig exmatrikuliert. Georg Maurer, der Spiritus Rector des Instituts, hatte den 19-jährigen Reimann 1965 ans Institut geholt, weil er in ihm den hochbegabten "Benjamin" der "Sächsischen Dichterschule" erkannte. Da aber das Talent schon früh eine gewisse Renitenz gegenüber den literaturpolitischen Dogmen der Partei erkennen ließ, war seine Karriere schon am Ende, ehe sie richtig beginnen konnte.
Reimanns Lyrikdebüt mit dem Band Kontradiktionen wurde 1966 verhindert, angeblich auch wegen des "ungenehmigten" Vorabdrucks in Aussichten. Der Dichter wurde fortan zum Objekt staatssicherheitsdienstlicher Observation. Als er offen seine Begeisterung für den Prager Frühling kundtat, wurde er im Oktober 1968 verhaftet und verschwand zwei Jahre wegen "staatsfeindlicher Hetze" im Untersuchungsgefängnis. Den Lebensweg des verfolgten Renegaten mochte er dennoch nicht gehen.
Reimann reagierte auf die Repression der Literaturpolitiker mit einem nachhaltigen lyrischen Beharrungstrotz. Was dem 19-Jährigen einst die Bewunderung Georg Maurers eingetragen hatte, versucht auch noch der 60-Jährige immer weiter zu verfeinern: die Verbindung von klassischer Formenstrenge, enthusiastischem Hölderlin-Ton und derb-sinnlicher Anrufung unmittelbarer Lebenswirklichkeit. Und von 1961 an, von seinen ersten Gedichten mit Kunstanspruch bis zu den heutigen weit ausgreifenden Oden und Elegien hat er an seiner Passion für den hymnischen Ton festgehalten. Und selbst noch die sarkastischsten und derbsten Verse Reimanns verraten eine Begeisterung für die Elegie - für eine Elegie im Schillerschen Sinn, in der ein Dichter die "Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit" in einer Weise entgegensetzt, dass die Natur und das Ideal zum "Gegenstand der Trauer" werden.
Man darf den Lyriker Reimann guten Gewissens als Traditionalisten bezeichnen - er ist freilich ein Traditionalist, der das klassisch Lyrische von innen her aufbricht, mit grimmiger Ironie und provokativer Idiomatik. Auch den Realismus hat er sich seit seinem Gedicht Wegsuche, das 1966 die Aussichten beschloss und nun das erste Kapitel seiner aktuellen Gedichtauswahl Der trojanische Pegasus eröffnet, nicht austreiben lassen. Schon als Reimann 1978 in einer boshaften Polemik (in literatur konkret) die geschwätzige Alltagsdichtung der westdeutschen Kollegen geißelte, berief er sich auf einen Realismus, der es dem Lyriker zur Richtschnur macht, "Probleme dialektisch, also Widersprüche als lösbar anzusehen".
Freilich hielt diese Maxime schon den jungen Reimann nicht davon ab, die politische Unerträglichkeit als solche zu benennen, ohne sich mit der "Lösbarkeit" sozialistischer Alltagsprobleme trösten zu wollen. In einem seiner bissigsten Gedichte, dem Aufmarsch von 1964, verabschiedet Reimann das Ritual der Demonstration und mit ihr jeden sozialistischen Bekenntnis-Kitsch: "Ich kann diesen tag nicht mehr feiern, / die schillernde pfingstochsenpracht. / Gibt´s sozialistisches gammeln ? / Es schläfert die demonstration, / wenn gähnend das credo wir stammeln / zur fortschrittsimitation."
Solche respektlosen Verse konnte Reimann im paranoischen SED-Staat natürlich nicht veröffentlichen. Von den 150 Gedichten aus 50 Jahren lyrischer Produktion, die er nun in seiner Werkauswahl versammelt hat, konnte ein gutes Drittel im SED-Staat nicht gedruckt werden. Zwar gestattete man dem Außenseiter Reimann, nach einer langen Odyssee durch das Literatursystem der DDR zwei Gedichtbände publizieren. Einer davon, 1975 erschienen und von der offiziellen DDR-Literaturkritik ignoriert, zeigte schon im Titel eine markante ästhetische Abweichung an: Die Weisheit des Fleisches. Dieser Band enthält zarte, aber auch vitalistisch-zupackende Liebesgedichte des Dichters, der hier, wie eine Selbstauskunft im neuen Buch anmerkt, "die befreiende Erkenntnis der homosexuellen Prägung" in formvollendete Verse umzusetzen versucht.
Immer dann aber, wenn er sexuelle und politische Befreiungswünsche im Vers zu verschmelzen trachtete, geriet Reimann bei den ängstlichen Sachwaltern des ästhetisch Korrekten in Schwierigkeiten. Wenn der Dichter nach allen Seiten austeilte und sein "Deutschland täuschland" als schwankendes Genital ins Bild setzte, dann verschloss man die Ohren vor so viel Frivolität: "Überfällt / china, der chiliast, cuba? Kapabel ists kaum. / Steil staut sich´s blut: errektion. Glied und rakete / zwischen extremen, konträr, zünglein der waage. Da schwankt...., / Klein auf amerika liegt deut-land und china zerdrückt / cuba. - Und ich bin bei dir. - Häufig begattet sich was...."
Nicht alle dieser lästerlichen "Begattungsphantasien" sind von poetischem Reiz. Bei überzeugten lyrischen Traditionalisten, die im Gedicht mit steiler Gebärde ins Politische drängen - neben Reimann sind da noch Rainer Kirsch oder Karl Mickel zu nennen - findet man oft eine Neigung zum Rhetorischen und zur üppigen Arabeske. So auch bei dem "trojanischen Pegasus" Andreas Reimann. Dennoch imponiert dieser Autor mit seiner unbeirrbaren Leidenschaft für den klassischen Vers, der auch bei der Evokation winzigster Alltäglichkeiten angewendet wird. Dieser Dichter hat in seinem oft klassizistischen Gestus keine Scheu davor, démodé zu sein. Im Zweifelsfall hält er sich an ein "Rezept aus dem Altertum": "Doch scharf gewürzt, vermutlich recht apart."
Andreas ReimannDer trojanische Pegasus. 150 ausgewählte Gedichte 1957-2006. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006, 262 S., 20 EUR
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