"Ist Mandelstams Leben ein Leben gewesen?", hat Pier Paolo Pasolini einmal gefragt. Das war keine rhetorische Formel, sondern eine Manifestation der Ratlosigkeit angesichts eines Dichterlebens, das mit wundersamem "Gedichtfieber" und genialischen Versen begann und nach furchtbaren Entbehrungen und Demütigungen in der Hölle eines sibirischen Zwangsarbeiterlagers endete. Pasolinis Frage ist nur allzu berechtigt. Denn wer Ossip Mandelstams Leben erzählen will, wer sich gar als Biograph der Gestalt des Dichters mit der gebotenen Distanz nähern will, muss zuerst die ehrfürchtigen Hagiographien abschütteln, die sich an Mandelstams Person angelagert haben. Zu wirkungsmächtig sind noch die 1970 erschienenen Memoiren von Mandelstams Witwe, Nadeschda Mandelstam (Das Jahrhundert der Wölfe), die das Bild des von der Staatsmacht verfemten, gejagten und am Ende bettelarm in den Tod geschickten Dichters entscheidend geprägt haben. Die von der Wucht des Authentischen und außerordentlicher Erzählkraft beflügelten Erinnerungen der Dichterwitwe brachten nicht nur Licht in das Dunkel um einen verschollenen Poeten, sondern avancierten alsbald zur politischen Offenbarungsschrift, da der Fall Mandelstam auch die mörderische Natur des real existierenden Kommunismus demonstrierte.
Gleich im ersten Kapitel seiner minuziösen, detailbesessenen Rekonstruktion des Dichterlebens von Ossip Mandelstam hat daher Ralph Dutli, der in den 20 Jahren seiner intensiven Beschäftigung mit dem Dichter zum kongenialen Übersetzer Mandelstams gereift ist, die Gefahren für sein biographisches Projekt benannt. Die Versuchung einer erneuerten Heiligenlegende um Mandelstam ist für seine Biographie mindestens ebenso groß wie die einer spektakulären Entzauberung - einer Entzauberung des Dichters, wie sie in Russland nach 1990 mit einer Melange aus Halbwahrheiten und übler Nachrede betrieben worden ist.
Um all diesen Versuchungen zu entgehen, schlägt Dutli einen Weg ein, der nicht frei ist von methodischen Waghalsigkeiten. Die Konzentration auf das lyrische Werk Mandelstams, das Eintauchen in die immanente "Ereignishaftigkeit der Gedichte, ihrem Sprache gewordenen Wunder" soll hier die konventionelle Biographik ersetzen. Keine "voyeuristische Chronik" eines Dichterlebens soll entstehen, sondern eine emphatische Lebenserzählung entlang den Motiven und Topoi von Mandelstams Dichtung: "Die Gedichte bestimmten dieses Leben, nicht die sturen Gesetze der Chronologie." Ein Biograph kann aber - selbst bei größtem Diskretionsbedürfnis - nicht ohne weiteres in den Bezirken des Ästhetischen verschwinden, ohne zuvor die pragmatischen Einzelheiten und zeithistorischen Umstände der von ihm aufgeschlüsselten Lebensgeschichte geklärt zu haben. Gerade im Fall Mandelstam sind es doch die "sturen Gesetze" der zaristischen und - später - der kommunistischen Gesellschaftsordnung gewesen, die den "modernen Orpheus" (Brodsky über Mandelstam) in die Isolation trieben. Aber Dutli gelingt das Kunststück, Leben und Werk des Dichters in ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung zu bringen, ohne die Gedichte Mandelstams auf biographische Momente zu verkürzen.
Aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus, das sich den Traditionen der liberalen Aufklärung und der intellektuellen Emanzipation der Juden verpflichtet fühlte, kannte der junge Mandelstam nur eine Bewegungsrichtung: hin zur Sprache und Kultur Russlands, hin zur europäischen "Weltkultur". Um in Petersburg studieren zu können - jüdische Studienanwärter waren im Zarenreich nicht zugelassen -, ließ sich der 20-jährige Mandelstam im März 1911 nach christlich-methodistischem Ritus taufen. Damit war der Weg frei in die Hauptstadt der russischen Poesie.
Mandelstams dichterischer Lebensweg beginnt im Gewimmel der literarischen Revolutionen um 1912/13, wo der unablässig Gedichte murmelnde und den Kopf in den Nacken werfende Jungdichter sofort auffällt. Er gründete im März 1912 mit Nikolaj Gumiljow die poetische Bewegung der "Akmeisten", was ihn jedoch nicht daran hinderte, je nach Bedarf gegen die eh nur vage formulierten Doktrinen dieser Dichtergruppe zu verstoßen. Unfähig zum gehorsamen Arbeiten in "Kollektiven", scheiterte Mandelstam auch bei seinen zahlreichen Versuchen, einen bürgerlichen Beruf auszuüben. Schon Paul Celan, 1959 der erste Übersetzer Mandelstams in Deutschland, beschrieb den Dichter als "überempfindlich, impulsiv, unberechenbar". Dieser überempfindliche Poet war - so Celan - zugleich "der einzige unbotmäßige Dichter im revolutionären Russland, der nie nach Canossa ging".
Es gehört zu den großen Verdiensten von Dutlis materialreicher Biographie, dass sie diese mehr poetisch denn politisch motivierte Unbotmäßigkeit, diesen kompromisslosen ästhetischen Eigensinn Mandelstams an vielen Einzelbeispielen anschaulich macht. Als Mandelstam nach dem Oktober-Putsch der Bolschewiki seine Sympathien gegenüber der Partei der Sozialrevolutionäre, der Partei des bis dahin amtierenden Ministerpräsidenten Alexander Kerenskij, erkennen lässt, ist sein Schicksal schon so gut wie besiegelt. Im November 1928 fällt die Antwort des Dichters auf die Umfrage Der Schriftsteller und die Oktoberrevolution noch diplomatisch aus: "Ich fühle mich als Schuldner der Revolution, bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig nicht benötigt." Im Dezember 1929, in der bitteren Lebensbilanz seiner polemischen Vierten Prosa, herrscht schon ein anderer Ton. Hier hat Mandelstam seine exterritoriale Position in wenigen Sätzen beschrieben: "Ganz allein in Russland arbeite ich nach meiner Stimme, doch ringsum schreibt das dickfellige Pack."
Tatsächlich hatte Mandelstam zu diesem Zeitpunkt schon fast alle seiner lyrischen Weggefährten verloren. Bereits im August 1921 war Nikolaj Gumiljow wegen angeblicher Teilnahme an einer "monarchistischen Verschwörung" erschossen worden. Der Futurist Welimir Chlebnikow starb, obdachlos geworden, nach einer monatelangen entwürdigenden Suche nach einer Unterkunft im Juni 1922 den Hungertod. Und nur wenige Monate nach dem Abfassen von Mandelstams Vierter Prosa kapitulierte auch der letzte große Dichter der Sowjetunion: Der vormalige Kubo-Futurist Wladimir Majakowski, der als "Trommler der Revolution" die kulturpolitischen Imperative der Bolschewiki zu erfüllen strebte, verzweifelte ob seiner freiwilligen künstlerischen Selbstknebelung und erschoss sich im April 1930.
Dass Mandelstam zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Kellern der Geheimpolizei verschwunden war, verdankte er einzig und allein den Interventionen Nikolaj Bucharins, der aber bald darauf von Stalin kaltgestellt und später nach einem Schauprozess hingerichtet wurde. Nach der Erschießung Bucharins gab es niemanden mehr, der den Weg Mandelstams in die Verbannung aufhalten konnte. Die Stunde der Denunzianten schlägt, als Mandelstam im November 1933 sein berühmt gewordenes Epigramm auf Stalin verfasst und es bei jeder Gelegenheit wirklichen und vermeintlichen Freunden vorträgt. Die Antwort der willigen Vollstrecker des "Bergmenschen im Kreml", des "Verderbers der Seelen und Bauernabschlächter" lässt nicht lange auf sich warten. Die Kapitel über Mandelstams gespensterhaftes Nomadendasein in Moskau, über seine Verhaftung und die Verbannung zuerst nach Tscherdyn in den Ural und dann ins mittelrussische Woronesch sind die dichtesten und berührendsten in Dutlis Biographie. Am Ende schleppt sich Mandelstam als herzkranker, invalider Bettler durch sein geliebtes Russland: mit gerade mal 46 Jahren ein moribunder Greis, dem außer der beharrlichen Liebe seiner Frau Nadeschda nichts mehr bleibt. In einem seiner erschütterndsten Briefe aus Woronesch, verfasst im April 1937, resümiert Mandelstam lakonisch sein Schicksal, das sich einige Monate später in einem Transitlager bei Wladiwostok erfüllen wird: "Ich bin in die Lage eines Hundes versetzt, eines Köters. Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur das Recht zu sterben."
Ralph Dutli: Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam - eine Biographie. Ammann, Zürich 2003, 634 S., 28,90 EUR
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