Es ist lange her, schon ein halbes Jahrhundert, als zum ersten Mal die Stimme dieses Dichters vernehmbar wurde. Manfred Peter Hein lebte als Student bereits in Helsinki, als er 1955 ein Gedicht an den Literatur-Wirbelwind und Anthologie-Anstifter Walter Höllerer nach Berlin schickte. Ein Jahr später, 1956, erschien dann Transit, Höllerers höchst originell konzipiertes Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, das die Bewegungen "des modernen deutschen Gedichts nach dem Expressionismus" protokollieren wollte. Die Kühnheit dieser Anthologie hat unlängst Robert Gernhardt in einem seiner letzten polemischen Essays in Zweifel gezogen. Aber Höllerers Entwurf war wagemutig, entschied er sich doch dafür, seine lyrische Bestandsaufnahme auf junge und vor allem auf noch nicht literaturbetrieblich inthronisierte Autoren zu stützen.
Einer dieser unbekannten Jungen war der damals 25jährige Student aus Helsinki, der sich nach einem kurzen Intermezzo in Deutschland 1958 endgültig in Espoo niederließ, einer Nachbarstadt von Helsinki. Nacht in der Kaserne hieß das Transit-Gedicht des Manfred Peter Hein, und es enthielt schon all die motivischen Ingredienzien, aus der dann in den folgenden Jahren die unverwechselbare sprachmagische Textur des Dichters Manfred Peter Hein geflochten wurde. In dieser frühen Stilübung schwingen noch hohe, feierliche Töne mit, Ausrufe wie "Schlafdunkle Nacht, oh deine Tiefe zu finden", die sich Hein in späteren Jahren verbot. Auch gibt es da noch konventionelle Satz-Strukturen, die der Dichter später in seinen enigmatisch gefügten Versen eliminiert zugunsten der schroffen Fügung mythisch aufgeladener Substantive. Aber zugleich ist das Gedicht schon Resonanzkörper von Geschichtsereignissen. Das lyrische Ich durchwandert Hallräume der Historie, "wo sich Kommandos und Trauer sinnlos vermengen". Hinzu kommt der für Hein charakteristische, traumwache Blick auf katastrophische Ereignisse.
Die finsteren Engel der Geschichte bevölkerten schon früh die Alpträume des Dichters, geflügelte Kuriere des Schreckens, die auch im aktuellen Gedichtband Heins als "Folterengel" ihre grausamen Prophetien verkünden. Seit dem Band Taggefälle von 1962 erzählen Heins Gedichte vom "Dies irae", dem großen Tag des Zorns, und von geschichtlichen Verwerfungen in jenen osteuropäischen Landschaften, die der Autor auf seiner langen Fluchtfährte - so der Titel einer autobiografischen Erzählung von 1999 (Freitag 48/1999 ) - durchquert hat. Heins Vater war Aktivist der nationalsozialistischen Ostland-Träume, als Angestellter beim Königsberger Institut für Osteuropäische Wirtschaft folgte er völkischen Wahnideen. Der in einer westpreußischen "Napola" ("Nationalpolitische Erziehungsanstalt") gedrillte Sohn träumte davon, sich nach dem "Endsieg" auf einem Ostlandwehrhof im Baltikum niederzulassen und als Forstmeister in Litauen für deutsche Zucht und Ordnung zu sorgen.
Mit solchen Erfahrungen geschichtlicher Verblendung sind die Gedichte Heins auch heute noch befasst. An sein lyrisches Ich hat er die Aufgabe delegiert, "Registrator von Brandmalen" zu bleiben. In den 100 neuen Gedichten aus den Jahren 2000 bis 2005 gerät er oft an Schauplätze eines politischen Verhängnisses: Am Hindukusch beobachtet er Kampfflugzeuge, die "im Namen der Freiheit" ihre mörderische Fracht ausklinken, die Vorgänge des 11. September 2001 entziffert er distanziert auf einem "Votivbild", in Palästina gelangt er an ein "MärtyrerKreuzfahrerPortal". Von diesen politischen Konstellationen zu sprechen, ohne den gängigen Stereotypien anheim zu fallen, kann nur gelingen, weil sich Heins Poetik der "Schattenrede" für jedes Gedicht ein strenges System poetischer Chiffren erarbeitet. Schlüsselwörter im poetischen Alphabet von Manfred Peter Hein sind so kühne Substantive und Wortbildungen wie "Sturzackerschwärze" oder "Abgrundgewässer", dunkle Metaphern für gewesenes und künftiges Unheil. Das gibt diesen Gedichten in einigen Fällen etwas Verschlossenes, Unzugängliches.
Zur poetischen Topografie Heins gehört wesentlich auch jenes Terrain in Nordosteuropa, das in der Spätantike den Namen "Sarmatia" trug. Es ist das Sehnsuchtsland von Heins großem Vorbild Johannes Bobrowski (1917-1965), der jene Landstriche zwischen der Memel, der Weichsel und dem Ural poetisch kartografieren wollte, in denen sich einst litauische, russische, polnische und jüdische Traditionen kreuzten und überlagerten. Ein Gedicht in Heins neuem Band nimmt direkt Bezug auf ein Bobrowski-Gedicht: Kaunas 1941. Am 28. Juni 1941 inszenierte die deutsche Sicherheitspolizei in der litauischen Stadt ein Pogrom gegen 3800 Juden. Bobrowskis erschütterndes Gedicht hält die Augenblicke der Vernichtung fest: "Das hüftkranke Mädchen / trat vor die Dämmerung damals, / sein Rock aus dunkelstem Rot." Hein blickt nun aus der Perspektive des "zu spät gekommenen" Reisenden auf die Vorgänge in Kaunas. Zunächst scheint das Ich die Sprache zu verlieren angesichts dieses Verbrechens. Am Ende des Gedichts folgt dann ein noch größerer Schock: Denn die Schlusszeile spricht von der persönlichen Verstrickung des Vaters: ich kam zu spät / stöbre am Weg nach Namen von Schatten / die Kazys Binkis / der Dichter der vier Winde / im Ahornblätterfall des Kauener Schreckens / Herbsts der Gelben Sterne / schwinden sah / neunzehnhunderteinundvierzig während / mein Vater Quartier bezieht / im judenfreien Haus. Deutsche Gedichte des 21. Jahrhunderts sprechen kaum mehr von solchen Schrecknissen. Mit einer fast altmodischen Beharrlichkeit sucht dagegen Manfred Peter Hein immer wieder den Weg ins "Schattenland" der Geschichts-Menetekel. Seine lyrische Zeugenschaft wird noch gebraucht.
Manfred Peter Hein: Aufriß des Lichts. Späte Gedichte 2000-2005. Wallstein, Göttingen 2006, 134 S., 18 EUR
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