Schreck und Schönheit

Lyrik Orte, an denen die vertraute Lebenswelt aus den Fugen gerät: In Henning ­Ziebritzkis Gedichtband „Schöner Platz“ erscheinen die Dinge in einem neuen Licht

Mit den idealisierten Landschaften der antiken Dichtung hat man das Wunschbild eines locus amoenus verbunden, eines lieblichen Orts, an dem sich die Sinne öffnen und die Bedrückungen vom lyrischen Subjekt abfallen. Die Koordinaten eines solchen schönen Platzes unter den Bedingungen der Moderne hat kürzlich der in Tübingen lebende Dichter Henning Ziebritzki bestimmt, in dreißig Gedichten, die zu den feinsinnigsten und abgründigsten Poemen gehören, die in den letzten Jahren geschrieben worden sind.

Bei der Besichtigung dieses locus amoenus betreten wir nicht einen paradiesischen Hain oder sonstige Idyllen einer ungefährdeten Friedlichkeit, sondern ausschließlich Orte, an denen die vertraute Lebenswelt aus den Fugen gerät und unsere alltäglichen Erfahrungsmuster zerfallen. So kann ein „umgewandeltes Postgebäude“, in dem Ziebritzkis lyrisches Alter Ego nach einem missratenen Geschäftsabschluss strandet, zur Bühne für eine unerhörte Erfahrung werden. Soeben noch erschöpft von den fruchtlosen Anstrengungen des beruflichen Alltags, erweitert sich plötzlich die Wahrnehmung des Ich, wird offen für das Wunderbare.

In seinem Rückzugsort, einem Lokal oder Panorama-Restaurant weit über der Stadt, registriert Ziebritzkis Protagonist fantastische Dinge: zunächst sind es vorbeischwirrende „Model-Schönheiten“, danach die seltsame Choreographie schwankender, sich nie berührender Kräne. Schließlich kommt es zur mystischen Begegnung mit dem Unbekannten: Fetzen der religiösen Ursprache Aramäisch wehen heran und das Ich gleitet hinüber in den „anderen Zustand“ beziehungsweise „in ein anderes Reich“.

Schockhafte Offenbarungen

Solche Momente des Übergangs, in denen die zweckrationale Vernunft aussetzt und die Dinge in einem neuen, nie gesehenen Licht erscheinen, sind auch in den übrigen Gedichten festgehalten. Es sind mystische Momente, die Ziebritzki hier eingefangen hat, Augenblicke des Heraustretens aus den Routinen unserer Lebenswelt, schockhafte Offenbarungen, in denen plötzlich die eigene Existenz zur Disposition steht.

In einem „dunklen Feld von Treibgut“ der Nordseeinsel Juist fühlt sich das Ich vor ein ominöses „Forum“ gerufen. Davor steht ein markantes Todesbild, die schockhafte Beobachtung eines toten Tümmlers beziehungsweise Schweinswals, der an den Strand getrieben wird. Im fantastischen Gedicht Provinzbild ist es der Schatten eines Vogels „mit rötlicher Kehle“, der das Subjekt jäh mit katastrophischen Szenarien konfrontiert. Selbst der „abendhelle Supermarkt“ wird im Gedicht Rappe in Schraffur zum Schauplatz einer mystischen Begegnung mir der „anderen Welt“. Denn kaum hat das gedankenlose Gedicht-Ich den Supermarkt betreten, vollzieht sich eine fantastische Verwandlung – der visionär imaginierte Auftritt eines schwarzen Pferdes enthüllt die Geheimnisse des Daseins: „Es hebt schwarz deinen Körper, der sich teilt / und schraffiert herabfließt an den Flanken: / einarmig, aus halbem Mund blutet der vergangene Tag, / was dich erwartet – feinste Leere, wie zum Gruß.“

Henning Ziebritzki schreibt Gedichte, die uns mit alltäglichen Szenarien anlocken, aber uns dann unversehens – in einem „stehenden Moment“ – mit dem Horror Vacui konfrontieren. Wer in diesen verstörenden Gedichten einen „schönen Platz“ erreicht, der landet im Unheimlichen.

Schöner PlatzHenning Ziebritzi. Gedichte. Zu Klampen, Göttingen 2008, 48 S., 17

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