Schutzzusprechung durch Poesie

Textgalerie Dorothea Grünzweig

Unser ironisches Zeitalter hat jede romantische Regung und jeden höheren Auftrag an die Dichtkunst unter Ideologieverdacht gestellt. Wer am Glauben auf eine "Zuschirmung durch Worte" festhält, der wird als naiver Spätling der deutschen Kunstreligion belächelt. "Wer heute als Heinrich von Ofterdingen erwacht", so pointierte schon Walter Benjamin, "muss verschlafen haben".

Die Dichterin Dorothea Grünzweig hat sich das allerorten brüchig gewordene Vertrauen in die "wärmenden" Worte der Dichtung bewahrt. 1952 in der schwäbischen Provinz bei Stuttgart geboren, wuchs die Autorin in einem protestantischen Pfarrhaus auf - und knüpft nun in Gestus und Motivik an jene pietistische Gefühlskultur der Empfindsamkeit an, der wir die großen Werke der romantischen Schule verdanken. Seit 1989 lebt Dorothea Grünzweig in Finnland und flicht dort als "Bürgerin zweier Sprachwelten" an einer naturmagischen Textur, in der finnische und deutsche Sprachoffenbarungen eine innige Symbiose eingehen. Seit 1997 hat die Autorin drei Gedichtbände vorgelegt - aber noch nie ist sie ihrem Traum eines "magischen Singens" so nahe gekommen wie in ihrem Gedichtbuch "Glasstimmen lasinäänet" ("lasinäänet" ist die finnische Vokabel für "Glasstimmen").

In sieben großen Kapiteln wird in diesem Band "das Singen in Klanglust und Bilderrede" erprobt. Dass es sich dabei um ein zutiefst romantisches Projekt handelt, erschließt sich auch aus dem zeitgleich erschienenen Essay Die Holde der Sprache (Edition Ulrich Keicher), in dem die Dichterin ihr Nomadisieren zwischen zwei Sprachlandschaften als sprachmystisches Erweckungserlebnis beschreibt. Die Begegnung mit den "bergenden Wörtern" des Finnischen weckt die romantische Sehnsucht nach einer paradiesischen Ur-Sprache. Wie im vorliegenden Gedicht kehrt Grünzweig auch im Essay zu den Wurzeln ihrer Kindheit im protestantischem Pfarrhaus zurück, in dem die Ehrfurcht gebietende Sprache des Vaters, des mächtigen Pastors, die unbezweifelbare Sprache des Göttlichen war. Die intime Nähe dieser Poesie zum Gesang hat ihren biographischen Ursprung im ritualisierten Singen der Pastorenkinder nach dem Gesangbuch, im täglichen Repetieren der Choräle.

Die Erinnerung des Gedicht-Ichs an die "Vaterliebe" bleibt im Gedicht zwiespältig. Zunächst wird sie schroff negiert, um sie gleich darauf wieder ehrfürchtig zu beschwören. Denn der als unfehlbarer "Wortausrichter" in strenger Definitionsmacht über die Welt gebietende Vater vermittelt auch die Sehnsucht nach intimer mystischer Nähe zu den Buchstaben. Die Poesie als Obdach und Rettung, die uns "Schutzzusprechung" gewährt - man muss vermutlich an der europäischen Peripherie leben, um diese poetische Confessio noch formulieren zu können. Wir aber dürfen es einen Glücksfall nennen, dass es noch Gedichte wie die von Grünzweig gibt, die uns - wie es ihr Essay andeutet - am "Nachglühen des Gartens Eden" teilhaben lassen.

Dorothea Grünzweig, geboren 1952 in Korntal, lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Südfinnland. Das vorliegende Gedicht ist dem Gedichtbuch Glasstimmen lasinäänet entnommen, das im Herbst 2004 im Wallstein Verlag erschienen ist.


Dorothea Grünzweig

DIE VATERLIEBE NICHT

gekannt als Kind bei Leib
wenn auch bei Leben es gab
sie ja sie gabs der Vater
Wortausrichter Mann aus
Wort trug sichs so zu dass
diese Lieb auch heut noch in
den Worten bis
zum Buchstab und den
Buchstabenzwischenräumen wohnt
Ich kann mich ja an viele Worte
´s ist Frage nur den rechten
nachzujagen lehnen
wärmen von
meinen unbehausten Zehn bis
zu dem Kopf der diese
Zuschirmung durch
Worte Schutzzusprechung seit
Kindsentsinnen sucht

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