Es ist ein sehr einsamer Dichter, der hier seine Lebensstrecke vermessen will. Als Melancholiker starrt er auf die immergleiche Leere, in der das Leben verrinnt. Die gelebte Biographie schrumpft zu Spiegelungen der eigenen Verlassenheit. So verläuft die Suchbewegung des Einsamen auf einem gefährlichen Terrain: auf den Albtraumpfaden "zwischen einsam und allein", gebannt in ein ewig währendes Unglück. Dort, im Gehäus seiner Isolation, sitzt er fest, dort spürt er das Herannahen der eigenen Vergänglichkeit, dort sehnt er sich für einige poetische Augenblicke nach einem Aufbruch in ein neues Leben, in dem er sein eigenes Ich zu spüren vermag: Was ist das zwischen einsam und allein / als wär ich nur vergangen wie im Flug / rings um die Erde doch ein Stein / bin ich mir nicht geworden. Ach genug // für einen zweiten andren Flug hab ich / noch Kraft und Lüfte auch. // Dass ich mich endlich selber brauch. In diesen sieben Zeilen hat der Dichter Thomas Brasch das Lebensprogramm seiner letzten Jahre zusammen gefasst.
Der einst als "Ulysses aus Charlottenburg" umjubelte Dichter besichtigt den Rest seiner künstlerischen Existenz. Das Resultat dieser poetischen Selbsterkundung sind bewegende, tief anrührende Gedichte eines Mannes, dem die Welt zerbrach und der schon bald nach Beginn seiner literarischen Karriere vom Vorgefühl des Untergangs zu sprechen begann.
Das Aufbegehren gegen die "Sozialistische Tragödie der Dummheit", als die er die Niederwerfung des Prager Frühlings apostrophiert hatte, hatte dem jungen Brasch in der DDR eine einjährige Haftstrafe eingetragen. Nach seinem öffentlichen Protest gegen die Ausbürgerung des "sich für einen Kommunisten haltenden, singenden Arschlochs" Wolf Biermann war sein literarischer Kredit im paranoiden SED-Staat aufgebraucht und er vollzog "die Übersiedlung vom Braunkohlendeutschland ins Steinkohlendeutschland": "Ein politischer Fall erst und dort ein klinischer Fall/ jetzt und hier."
Der als Anarchist und Rebell Gefeierte, dem die Erfolge auf allen künstlerischen Bühnen nur so zuflogen, war ab Mitte der achtziger Jahre ein Verlassener, der in heilloser Traurigkeit seine Einsamkeit und sein literarisches Eremitendasein besang. Hatte Brasch auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in allen Kunstgattungen brilliert und als Lyriker und Übersetzer, Dramatiker und Filmemacher die Kritik begeistert, so zog er sich seit Mitte der achtziger Jahre immer mehr auf die Arbeit an einem Roman über den Erfinder und Mädchenmörder Karl Brunke zurück. Sein Opus magnum hatte er auf 14.000 dicht beschriebene Manuskriptseiten vorangetrieben, von denen der Suhrkamp Verlag freilich am Ende nur die auf 99 Seiten komprimierte Novelle Mädchenmörder Brunke drucken wollte (Freitag 13/99). Am Ende eines selbstzerstörerischen Umgangs mit der eigenen Gesundheit stand im November 2001 der plötzliche Herztod Braschs, im Alter von gerade mal 56 Jahren.
Von der obsessiven Beschäftigung mit dem Brunke-Stoff hatte sich Brasch indes zu neuen Gedichten anregen lassen, mit denen er an seine fatalistischen Balladen und Lieder aus dem 1980 erschienenen Band Der schöne 27. September anknüpfen wollte. Aus den rund 500 Gedichten, die in den 20 Jahren seit dem phänomenalen 27. September-Buch entstanden sind, haben Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz rund 150 Exempel ausgewählt, die der Dichter zu Lebzeiten schon in Mappen geordnet und zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Vieles davon ist noch unfertig, lyrischer Rohstoff, dem die formale Durcharbeitung fehlt. Aber selbst in den Fragment gebliebenen Texten ist das Vibrieren des existenziellen Verhängnisses zu spüren, von dem der Autor sich niedergeworfen fühlte.
In insgesamt acht Abteilungen werden die zentralen Motive und Obsessionen des Dichters Brasch versammelt. Das erste Kapitel bilanziert Versuche trotziger Selbstbehauptung, in denen sich das lyrische Ich gegen die Vorahnung des eigenen Untergangs auflehnt. Der hier mit der Formel "Es gibt mich noch" in den Spiegel blickt, vermag sich oft nur schattenhaft, als Gespenst seiner selbst wahrzunehmen. In einem zweiten Kapitel werden einige meisterhafte Balladen und Lieder zur Utopie und zur Tragödie der Liebe präsentiert. Liebe erscheint in diesen Gedichten als blutiger Krieg der Geschlechter, der die Verletzung des Körpers einschließt. In einer dritten Abteilung artikuliert sich die Erwartung einer nahen Katastrophe, in lyrischen Probebohrungen in einer nahen Endzeit. Eine berühmte lyrische Zueignung an Uwe Johnson schlägt hier den Ton an, dem auch die übrigen Texte folgen: Immer wieder verirrt sich die lyrische persona in der Finsternis des eigenen "Schädelhauses" und beschwört die Zeichen des nahenden Todes: Und wie in dunkle Gänge / mich in mich selbst verrannt, / verhängt in eigne Stränge / mit meiner eignen Hand: / So lief ich durch das Finster / in meinem Schädelhaus / da weint er und da grinst er / und kann nicht mehr heraus...
Seine lyrischen Sprechhaltungen und Gesten hat Thomas Brasch bei drei übergroßen Vorbildern entlehnt: Da wird der Habitus des jungen Brecht, der des wilden Vaganten und Liebes-Berserkers, ebenso adaptiert wie die milde Weltweisheit des späten Brecht. Da wird der zynische Sarkasmus Heiner Müllers herbeizitiert. Wichtigste Vorbildfigur ist freilich Heinrich Heine, dessen Volksliedstrophen und politische Balladen Brasch konsequent ins Düstere wendet. Wie Heine ist auch Brasch um den Schlaf gebracht, wenn er an Deutschland denkt. Das Haltlose, Getriebene, Todes-Vernarrte, das schon die Gedichte des jungen Brasch auszeichnete, wird hier ins Extrem getrieben. "Ein gewisser Hang zur Maßlosigkeit ist nicht zu übersehen; hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen." Mit diesen warnenden Sätzen wurde der junge Brasch 1975 mit seinem Poesiealbum dem DDR-Publikum nur unter Vorbehalt anempfohlen. Auf dem von Einar Schleef gezeichneten Titelbild des Poesiealbums war damals ein gesichtsloser Brasch zu sehen, umzingelt von chaotisch wuchernden Verkehrs- und Schriftzeichen. Die einzig verlässliche Perspektive fand der Dichter auch in späteren Jahren nur in der poetischen Subjektivität. An die Stelle der "Maßlosigkeit" tritt bei dem späten Brasch ein tiefer Fatalismus; eine Lebens-Müdigkeit, die sich bei Matthias Claudius oder Heiner Müller die Lizenz zur Todes-Besessenheit holt. Neben den formal wunderbar gefügten Balladen von der Vergeblichkeit der Liebe und neben den Liedern von der Heimatlosigkeit eines deutsch-deutschen Nomaden finden wir auch ganz tonlose und ganz verzweifelte Verse, die von den Qualen der Schreiblähmung handeln. Im Viereck seines Zimmers wandert der Autor unruhig auf und ab und buchstabiert das Alphabet seines langsamen Verstummens. Am Ende eines dieser Gedichte erinnert sich der Dichter an die Urszene seiner Verlassenheit. Es ist der Abschied von der Mutter, ein Trennungsschmerz, der den Dichter noch nach Jahrzehnten immer wieder einholt. Mit diesem Abschied beginnen die Schrecken des Selbstverlusts: Weil ich das Eigene verloren habe / kann ich nichts mehr schreiben. / Jeder meiner Gedanken ist mir ganz fremd / und unnütz. Deshalb lasse ich ihn / gleich versinken, wenn er auftaucht. / Zu viel geredet. / Zu selten geschwiegen./ Und immer der Gedanke an Sterben.
Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, 208 S., 16,90 EUR
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