Vor ihrem großen Exodus versammelten sich die Dichter noch einmal in ihrem privaten Refugium. Ein Hauch von Bohème und utopischem Hochgefühl lag über der kleinen Schar der rumäniendeutschen Schriftsteller, die da in den späten Siebzigern in einem improvisierten literarischen Salon zusammentrafen. Von diesen Augenblicken einer kühnen Zuversicht berichtet ein Gedicht Rolf Bosserts, der suggestivsten poetischen Stimme aus diesem Lyriker-Kreis. "gerhardt hatte uns kaffee versprochen, er /hielt ihn auch". So beginnt das Gedicht, ein Text in sehr kolloquialem Ton, der das gesellige Gespräch der Dichter ästhetisch fortsetzen will.
Hinter Gerhardt, dem Gastgeber des Salons, verbirgt sich offenbar der Kritiker und Lektor Gerhardt Csejka, der seine rumäniendeutschen Dichterfreunde mit einem in der Mangelgesellschaft seltenen Getränk versorgt. Nicht nur der Kaffee, auch die neuesten Pläne werden herumgereicht: Übersetzungs-Projekte, Dichter-Anekdoten, Märchen, Jazz-Musik weht heran. Schließlich verlässt einer die Dichterrunde, um Wein zu organisieren. Die Schlusszeile des Gedichts lautet: "Später tranken wir auf die Zukunft in Bukarest". Diese Zukunft, die hier einem Trinkspruch anvertraut wird, konnte dann nicht mehr stattfinden. Das Kollektiv literarischer Dissidenten, das den Autoren der so genannten "Aktionsgruppe Banat" für ein paar Jahre Zuflucht und Perspektive geboten hatte, zerfiel, die Reste wurden durch staatliche Intervention gesprengt. Der Traum vom Dichter als "sanftem Guerillero", wie ihn Bosserts Kollege Richard Wagner in Umlauf gebracht hatte, war zu Ende. Was blieb, waren demütigende Ausreiseprozeduren. Herta Müller, Richard Wagner, Werner Söllner, Johann Lippet verließen als "Reisende auf einem Bein" (Herta Müller) ihr Land und gingen in die Bundesrepublik. Rolf Bossert trat die lange Reise im Dezember 1985 an. Ein Foto aus diesen Tagen zeigt ihn in fröhlicher Ausgelassenheit auf einem Schriftsteller-Colloquium in Berlin, an dem er im Februar 1986 teilnahm. Wenige Tage später sprang er, gerade mal 33 Jahre alt, in Frankfurt aus dem Fenster eines Aussiedlerheims.
Als die Namen der so genannten rumäniendeutschen Schriftsteller Anfang der achtziger Jahre in westdeutschen Feuilletons auftauchten, lag die deutsche Minderheitenkultur in Südosteuropa schon in tiefer Agonie. Bei der deutschsprachigen Bevölkerung in Rumänien, rund 300.000 Menschen, hatte in den Jahren zuvor eine große Emigrationswelle eingesetzt, auch große Teile der literarischen Intelligenz, Autoren wie Oskar Pastior, Dieter Schlesak und Ernest Wichner, hatten das Land bereits verlassen. Rolf Bossert, der Deutschlehrer aus der Kleinstadt Busteni im Karpatengebirge, war als Poet noch 1980 von den literarischen Institutionen des rumänischen Sozialismus hofiert und mit Preisen ausgezeichnet worden. Kaum war er nach Bukarest gekommen, um zunächst die Programmleitung im Kulturhaus "Friedrich Schiller" und danach das Lektorat in den Literaturverlagen der deutschen Minderheit zu übernehmen, tat sich schmerzhaft jener Riss zwischen Staatsästhetik und poetischem Autonomieverlangen auf, der nicht mehr zu kitten war.
Rolf Bossert, der in seinen ersten Texten viel mit traditionellen Liedformen und Kinderreimen experimentiert hatte, trieb nun den poetischen Fatalismus immer weiter voran. Mit fortschreitender Differenzierung seiner ästhetischen Mittel kam es zum großen Crash mit den Instanzen der Macht. 1984 stellte Bossert für sich, seine Frau Gudrun und seine zwei Kinder den Antrag auf Ausreise - und es begann der große Spießrutenlauf durch die Korridore der Despotie. Bossert verlor seine Arbeit als Lektor, seine Bücher wurden aus den rumänischen Bibliotheken entfernt, sein Name aus den Annalen der ansonsten verdienstvollen Zeitschrift Neue Literatur gestrichen. In den nicht mal zwei Jahren, die ihm noch blieben, schrieb er seine intensivsten und verstörendsten Gedichte: Gedichte, die sein Verfahren der schroffen Fügung, elliptischen Verknappung und poetischen Engführung immer mehr radikalisierten.
Sein zweiter Gedichtband Neuntöter, der im Jahr des Ausreiseantrags erschien, spricht schon von der Erstickung des Poetischen im Land des großen Conducators Nicolae Ceausescu: "Wer noch ein Lied hat, / greift sich an den Kehlkopf: ohne / ersichtlichen Grund." Es sind diese Gedichte aus den Jahren 1980-1985, die mit ihrer bitteren Lakonie und schmerzhaften Sinnlichkeit das eindringlichste Bild der rumäniendeutschen Verhältnisse zeichnen, das uns in zeitgenössischer Poesie überliefert ist. Es sind Gedichte, scharf von Erkenntnis und streng im Exerzitium der Form, die auch nach über 20 Jahren keinerlei Patina angesetzt haben. Es sind Verse, die von Verletzungen sprechen, von einer unmittelbaren körperlichen Gewalt, die Bossert und seine Freunde durch die Securitate, den notorisch brutalen Geheimdienst, am eigenen Leib erlebten. Zu Bosserts Gedichten, die bleiben werden, gehört auch das "Verletzte Lied": "Mein Auge blieb weg, so / Gabs keinen Schlag. Wer / Rührte mich an: der / Mitternachtstag. Die Knie // Ein Scharnier sind / sauber geölt. Ich / Stürze aufs Pflaster und / Fall auf die Welt. Die Kälte / Schneidet den Kiefer / Entzwei. Jetzt wohnt mir im Mund / Ein singender Brei. Das Auge". Diese Metapher des Auges bildet zusammen mit den Topiken von Schnee und Eis die Motivkerne seiner späten Gedichte.
Kurz nach Rolf Bosserts Tod war 1986 unter dem trefflichen Titel Auf der Milchstraße wieder kein Licht eine erste Auswahl seiner Gedichte im Rotbuch Verlag erschienen. Da es sich nur um rund 80 Texte hauptsächlich aus dem Band Neuntöter handelte, ergänzt um einige späte Gedichte, legten seine Dichterfreunde alsbald ein Versprechen ab: "Es bleibt noch vieles nachzutragen." Dieses Versprechen ist jetzt, zwanzig Jahre danach, eingelöst worden durch die nahezu vollständige Ausgabe seiner Gesammelten Gedichte, die Gerhardt Csejka für den Verlag Schöffling Co. zusammengestellt hat. Diese neue Ausgabe macht nun die erstaunlichen Entwicklungssprünge und Metamorphosen des Dichters Rolf Bossert fassbar, die er in nur einem Dutzend Jahren vollzogen hat.
Die bislang unveröffentlichten Gedichte des ersten Teils zeigen den Autor als listigen Gaukler, der sich mit Eulenspiegeleien und Wortspielereien in Brechtischer Tradition politisch exponiert. Eine bislang unbekannte Seite des Dichters Rolf Bossert, sein beträchtliches Talent zur Leichtigkeit und Selbstironie, offenbaren die hintersinnigen Kinder-Gedichte, in denen der Autor noch weit entfernt ist von Bitterkeit und Fatalismus. Die wirklich substanziellen Gedichte finden sich dann aber erst ab 1979, wenn Bossert zu harten Bild-Brüchen und Negationen übergeht. Wer sich für die Genese der Bossertschen Poetik en détail interessiert, dem ermöglichen die 340 Seiten der Gesammelten Gedichte viele neue Entdeckungen. Fairerweise muss man aber zugeben, dass bereits die alte, nur noch antiquarisch greifbare Rotbuch-Auswahl die wirklich "hinterlassungsfähigen" Gedichte des Lyrikers Rolf Bossert in konzentrierter Form dokumentiert hat. Den Wendepunkt im literarischen Leben des Rolf Bossert markiert im übrigen das Auftakt-Gedicht des Bandes siebensachen, ein "Selbstporträt" als Zweizeiler, in den sich die Tragödie des Dichters eingeschrieben hat: "Ich schreib mir das Leben / her, schreib mir das Leben weg." Das Ich hat sich an die Schrift gebunden - eine Entscheidung, die in zwei Richtungen führt: auf den Weg der Rettung und den der Selbstauslöschung.
Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds. Gesammelte Gedichte 1972-1985. Herausgegeben von Gerhardt Csejka. Schöffling Co., 352 S., 24,90 EUR
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