Am 31. März 2005 hat die 37. Kammer des Sozialgerichts Berlin das JobCenter Berlin-Mitte, Müllerstr. 146, per einstweiliger Anordnung dazu verpflichtet, einem Obdachlosen den Regelsatz des Arbeitslosengeldes II von 345 Euro in voller Höhe zu zahlen. In der Müllerstraße hatte man geltend gemacht, da ein Obdachloser keine Energiekosten habe, könne man ihm pauschal 30 Euro streichen. Das JobCenter habe damit - so das Gericht - gegen das Pauschalisierungsgebot des ALG II und den Grundsatz verstoßen, dass davon nur nach oben, durch Aufstockung, aber nicht nach unten, durch Absenkung, abgewichen werden dürfe.
Am 1. April 2005 schnitt sich eine Dialyse-Patientin im Sozialamt einer deutschen Stadt die Pulsadern auf. Der ALG II-Antrag, den sie gemeinsam mit ihrem arbeitslosen Lebenspartner gestellt hatte, war nicht bearbeitet worden - sie konnte daraufhin die Miete nicht mehr bezahlen und bekam zu hören: "Uns interessiert ihre Miete nicht und im Übrigen sind sie ein Schmarotzer der Gesellschaft wie ihr asozialer Partner auch." (s. www.soziale-bewegungen.de/Aktionen. htm). Am folgenden Montag ging dieser Lebenspartner "bewaffnet" - wie er berichtet - mit "einem Schreiben des Bundesbeauftragten für Datenschutz, dem Grundgesetz, dem BGB und der Visitenkarte eines Anwalts" zur Agentur für Arbeit. Nach fünf Stunden hatte er Erfolg, wenn man die Auszahlung des ALG II einen Erfolg nennen kann.
Am 10. Dezember 2003 verwarf die 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn die Klage von serbischen Opfern eines NATO-Luftangriffs auf den Ort Varvarin am 30. Mai 1999 und verpflichtete die Kläger, die Verhandlungskosten zu zahlen (s. Seite II). Obwohl es sich seinerzeit um eine völkerrechtswidrige Intervention gegen Jugoslawien gehandelt hatte, die man durch den Vergleich mit dem Mord an den europäischen Juden zu legitimieren suchte, wurde die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass Individuen auch bei (offensichtlicher) Verletzung der Haager Landkriegsordnung durch die NATO keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung hätten. Es gäbe kein "Verfahren, das dem Einzelnen die Durchsetzung etwaiger individueller Ansprüche ermöglichen würde", so die Richter in Bonn. Die 16-jährige Sanja Milenkovic´ - von ihrer Mutter aus dem bombardierten Belgrad nach Varvarin geholt - war unter den Opfern. Sie starb noch am Tag des Luftangriffs, schwer verletzt durch Bombensplitter im Hinterkopf und in der Lunge.
Wir können diese und viele andere Geschichten verdrängen. Wir können sie als bedauerliche, aber leider unvermeidliche Konsequenzen notwendiger Reformen der nationalen oder internationalen Ordnung akzeptieren. So wie es Madeleine Albright tat, als sie auf den Tod Hunderttausender Kinder hingewiesen wurde, die an den Folgen des gegen den Irak verhängten UN-Embargos starben. Wir können bei diesen Geschichten auch von der Verantwortung des "Kapitalismus" oder "Imperialismus" reden und die "Revolution" ausrufen, von der alle zu wissen meinen, dass sie doch nicht kommt.
Die Maxime "Du sollst nicht töten!" ist die Grundlage jeder Zivilisation. Spätestens seit Auschwitz wissen wir, dass organisierter Massenmord schon dort vorbereitet werden kann, wo die Würde von Menschen durch staatliches oder staatlich geduldetes Handeln verletzt wird. Am 7. April 1933 hatte die deutsche Reichsregierung das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" erlassen, in dem es hieß, "Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8 ff.) zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen" (§ 3, Abs. 1) - der legale Weg nach Auschwitz begann mit diesem "Gesetz".
Die UN-Menschenrechtsdeklaration, die am 24. Oktober 1945 ratifiziert wurde, wollte die Wiederholung dieser und jeder anderen Barbarei für immer ausschließen. Ihr erster Artikel lautete: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Staatliches Handeln sollte fürderhin streng dem Gebot untergeordnet sein, die Wahrung der Menschenrechte vom Folterverbot bis zum Recht auf Arbeit, Bildung und Gesundheit zu garantieren. Zivilisiertes Handeln sollte Credo jeder Politik sein.
1966 formulierte Theodor W. Adorno in einer Rundfunkrede: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die aller erste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. (...) Sie zu begründen, hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern."
Diese Bedingungen werden heute nicht mehr zurückgedrängt, wie man das noch in den Nachkriegsjahrzehnten in Ost wie West teils hoffen, teils beobachten konnte, sondern durch einen entfesselten Kapitalismus und dessen imperiale und repressive Absicherung in immer stärkerem Maße neu geschaffen.
Europa folgte schon einmal einer Politik, mit der die Barbarei immer mehr an Boden gewann - bis Millionen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Erlösung feierten. Die brutalen Kolonialkriege, die Spirale der Militarisierung, die schamlose Bereicherung der Oberschichten, die ideologische Segnung des chauvinistischen und rassistischen Gefühls, als Träger einer überlegenen Kultur auserwählt zu sein - scheinbar änderte sich nichts in den Jahren vor 1914, und doch änderte sich alles hin zur Kenntlichkeit im Inferno von Verdun. Wie sagte einer der Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts später vor Gericht über den 15. Januar 1919? "Die Ereignisse dieses Abends spielten sich wie im Rausch ab. Wir hatten vier Jahre einander getötet, es kam auf einen mehr nicht an."
Wer sich der Barbarei erst entgegenstellt, wenn ihre Vorherrschaft total ist, handelt zu spät. Die dünne und empfindliche Haut der Zivilisation, die Menschen daran hindert, einander zu töten, muss im Alltag verteidigt werden, solange es noch möglich und wirksam ist. Der Paragraph des Entwurfs einer Europäischen Verfassung, der Aufrüstung zur Pflicht macht, ist ein Paragraph der Barbarei. Und ein Gesetz, das Zwangsarbeit und Niedriglohn verordnet, wenn zugleich eine ungehemmte Umverteilung von unten nach oben und wirtschaftsliberaler Dogmatismus Arbeitsplätze zum knappsten Gut werden lassen, schafft Vorkehrungen für eine totale Herrschaft über die Lohnabhängigen - es sorgt für die neue Klasse der Überflüssigen. Auch im Bewusstsein dieses Skandals bereiten wir das Sozialforum in Deutschland vor, das erstmals vom 21. bis 24. Juli in Erfurt stattfinden wird.
Hannah Arendt verwies auf die Jahre zwischen 1884 und 1914 als der eigentlichen Brutstätte jener Elemente, die sich in späterer totaler Herrschaft zum System der Barbarei verdichteten: "In der trügerischen Ruhe und Sicherheit, die diesen Jahrzehnten eignet" - schreibt sie - "zeichneten sich bereits einige grundsätzliche Aspekte ab, die den totalitären Phänomenen des zwanzigsten Jahrhunderts so nahe kommen, dass man versucht ist, die ganze Epoche nur als Ruhe vor dem Sturm, als vorbereitendes Stadium kommender Katastrophen anzusehen." Was die europäischen Eliten vor 1914 teils duldeten, teils förderten, teils gegenüber afrikanischen oder asiatischen "Barbaren" exekutierten, wurde Jahrzehnte später zur bestimmenden Politik in Deutschland.
Es gab kein Gesetz, das von der völkermordenden Niederschlagung des Herero-Aufstandes zum Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und nach Auschwitz führte. Aber es gibt ein Gesetz der schiefen Ebene - jeder Schritt, der Bedingungen von totaler Herrschaft und Barbarei hervorbringt, macht es schwerer, den Absturz aufzuhalten. Deshalb ist der Kampf für den Erhalt von sozialer Sicherheit und Selbstbestimmung, für die Würde jeder und jedes einzelnen und gegen jede noch so "kleine" Verletzung des Gebots "Du sollst nicht töten!" so entscheidend. Es geht nicht um ein Mehr oder Weniger an zivilisatorischer Normalität. Es geht um die Alternative Gerechtigkeit und Demokratie oder totale Herrschaft und Barbarei!
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