Freiheit ist immer die Freiheit der Anderen

GERECHTIGKEIT ODER BARBAREI Rosa Luxemburgs Entdeckung eines radikal sozialen Freiheitsbegriffs

Es gehört zu den bestürzendsten Vorurteilen der westlichen Gesellschaften, Freiheit stünde im Gegensatz zur Gerechtigkeit. Vor die Alternative gestellt, so die herrschende Meinung, zwischen Freiheit oder Gerechtigkeit entscheiden zu sollen, müsse der Freiheit die Priorität gegeben werden. Nur hoffnungslose Traditionalisten, verbohrte Kommunisten oder totalitäre Fundamentalisten würden noch anders denken. Der Zeitgeist nickt zu solchen Selbstverständlichkeiten.

Misstrauen kommt nur deshalb auf, weil die heutigen Freiheiten in so wundersamer Weise mit den Privilegien weniger zusammenfallen. Wir sollten wissen, dass auch wir in vielerlei Hinsicht zu diesen Privilegierten gehören und vielleicht auch deshalb instinktiv in diesen Chor einstimmen. Mit großer Selbstverständlichkeit setzt die Politik der Globalisierung Freiheiten durch, die wenige privilegieren und viele diskriminieren. Wir sind dafür - buchstäblich - bestens gerüstet. Und wo es fehlt, werden schnelle Eingreiftruppen und globale Aufklärungssysteme noch angeschafft. Der Rache wollen wir mit Raketenabwehrschirmen begegnen.

Diese Legitimation der Privilegien weniger als Freiheit aller könnte als gewöhnlicher Zynismus jeder Herrschaft abgetan werden, wenn nicht die unverschämte Einvernahme Rosa Luxemburgs für diese herrschaftssichernde Freiheitsideologie hinzukäme. Dies in Deutschland, dem Land ihrer niemals wirklich zur Rechenschaft gezogenen Mörder, hinzunehmen, geht zu weit.

Bevor Freiheit ein Recht ist, ist sie eine Pflicht

"Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden", schrieb Rosa Luxemburg im Sommer 1918 in kritischer Auseinandersetzung mit den Bolschewiki in ihrer Schrift Die russische Revolution. Freiheit dürfe nicht zum "Privilegium" werden. Kein Satz von ihr wird öfter und lieber von (fast) allen Seiten zitiert als dieser. Und keiner wird dabei seichter entsorgt als gerade dieser. Es ist, als hätte er seine Sprengkraft in der Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus, an dessen Beginn wie Ende er stand, erschöpft. Das aber ist ein fataler Irrtum.

Man führe sich noch einmal die Umstände, unter denen Rosa Luxemburg diesen Satz schrieb, vor Augen: Sie, die zwischen 1915 und 1918 über 1.200 Tage in deutschen Gefängnissen eingesperrt ist, sie, deren teuerster Freund, Hans Diefenbach, im Krieg fällt - sie, die gegen die Barbarei des Militarismus mit in Deutschland unerhörter Schärfe protestiert hatte und dafür wie eine Kriminelle verurteilt wurde, sie, die sich gegen die Barbarei des Weltkrieges mit ihrer ganzen Persönlichkeit gewandt hatte, fällt ein hartes Urteil über ihre engsten politischen Freunde, die gerade eine Revolution gewonnen und den Krieg für sich beendet haben.

Obwohl die Diktatur der Bolschewiki eine Diktatur der mit Rosa Luxemburg "Gleichgesinnten" war, obwohl die sozialen Ziele dieser Diktatur auch ihre Ziele waren, obwohl sie hoffen konnte, durch derartige Gewalt befreit zu werden, obwohl sie durch diese Diktatur begünstigt zu sein schien, lehnte Rosa Luxemburg diese ab. Höheres als ihre eigenen Interessen sah sie auf dem Spiel. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben unterdrückte Rosa Luxemburg aus politischen Rücksichten ihr eigenes Andersdenken in der Öffentlichkeit. Vielleicht war dies ihr größter politischer Fehler. Erst drei Jahre nach ihrem Tode - viel zu spät - erschien diese Schrift.

In ihrer Auseinandersetzung mit den Bolschewiki und der immanenten Tendenz vieler radikaler Linker zur Diktatur ging es Rosa Luxemburg um mehr als um die Errungenschaften der "formalen" Demokratie. Es ging ihr um die Freiheit in der Gleichheit, es ging um die Verbindung von politischer Freiheit und sozialer Gleichheit, und es ging um einen radikal neuen Begriff von Freiheit überhaupt. Genau dies aber scheint immer wieder "überlesen" worden zu sein.

Rosa Luxemburg macht für sich, eingemauert seit drei Jahren in Gefängnissen, eine fundamentale Entdeckung - Freiheit ist immer die Freiheit der Anderen! Oder anders gesagt: Sie findet für ihre Lebenspraxis eine philosophische Maxime. Dort, wo andere Freiheit als das Recht des Einzelnen auf Willkür sehen, das nur am Recht der anderen auf gleiche Willkür seine Grenze findet - dort, wo andere Freiheit als natürliches Recht des Einzelnen sehen, das nur durch die gleichen natürlichen Rechte anderer beschränkt wird, - dort erkennt Rosa Luxemburg, dass Freiheit ein gesellschaftliches, ein verpflichtendes Verhältnis von Menschen zueinander ist. Und der Kern dieses Verhältnisses ist ein Verhalten, in dem Menschen die Freiheit anderer Menschen ermöglichen.

Gegen jeden Opportunismus gewandt, forderte Rosa Luxemburg, dass Freiheit, damit sie wirkliche Freiheit ist und nicht der verdeckte Zwang zur Anpassung, die Freiheit der anderen als Andersseiende ermöglichen müsse. Das Verhalten als freier Mensch, so versteht und praktiziert sie es, besteht genau darin, anderen die Möglichkeit zu geben, als Andere frei zu sein. Bevor Freiheit ein Recht ist, ist sie eine Pflicht. Die Gleichheit in der Freiheit ist eine Gleichheit der Verschiedenen.

Es hat eben niemand Freiheit von Natur aus oder per Geburt. Die Würde des Menschen wie seine Freiheit sind antastbar. Niemand kann dauerhaft Ansprüche auf Rechte für sich durchsetzen, wenn er nicht wirklich so frei ist, sie anderen zuzugestehen und tätig zu ermöglichen. Freiheit ist kein Gut, das man sich nehmen, rauben oder kaufen kann. Man muss es vor allem geben, für andere erkämpfen und durchsetzen.

Nur die, die anderen ein freies Leben als Andere ermöglichen, handeln gerecht

Freiheit in diesem Luxemburgianischen Verständnis ist unendlich weit vom marktliberalen Egoismus oder dem Selbstverwirklichungs-Kult der "Neuen Mitte" entfernt. Freiheit, wie sie Rosa Luxemburg als soziale Tugend praktizierte, war Kampf für die Freiheit der Anderen. Nicht jene Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Freien, deren Bürgerinnen und Bürger sich nur gegen die eigene Unterdrückung wehren. Zu schnell, so lehrt die Erfahrung, sind sie dabei, andere zu unterdrücken, wenn Machtverhältnisse es erlauben und eigene Egoismen es "fordern". Nur jene Menschen sind wirklich frei, die sich gegen die Unterdrückung anderer auch dann wehren, wenn sie selbst von dieser Unterdrückung profitieren.

Nur jene Gesellschaft ist frei zu nennen, in der tatsächlich die freie Entwicklung einer und eines jeden zur solidarischen Entwicklung aller beiträgt. Und nur Blindgläubige oder Zyniker können glauben, dass dies die "unsichtbaren" Hände des Marktes oder die "sichtbaren" Hände des Staates auch ohne unser Zutun besorgen würden. Dies genau hieße, bequem oder feige auf Freiheit zu verzichten, sie an andere zu delegieren und damit unfrei zu werden.

Die Freiheit, Geld in Aktien anzulegen, deren Bewegung zu einer totalitären Kapitalverwertung wird, die die Weltgesellschaft beherrscht und Reichtum wie Armut, Gesundheit und Krankheit, Bildung und Analphabetentum, Frieden und Krieg an gegensätzliche soziale Gruppen, Klassen, Völker und Erdteile verteilt, wäre für Rosa Luxemburg grausame Unterdrückung gewesen. Die Freiheit, die darin besteht, dass jene fünf Prozent der Weltbevölkerung, die in den USA leben, ein Viertel aller Naturressourcen der Erde verbrauchen, und die Westeuropäer dem nur wenig nachstehen, hätte sie als brutale Herrschaft gebrandmarkt. Die hochgerüstete "freiheitliche Weltordnung" der Pax Americana wäre für sie Imperialpolitik gewesen. Die jetzt neu durchgesetzte Freiheit, sich die genetischen Codes und die Wissensbestände als privates Eigentum aneignen zu dürfen, hätte sie als verbrecherischen Raub gegeißelt. Die Vernichtung der biologischen Vielfalt dieser Erde hätte sie, die mit jedem Tier und jeder Pflanze litt, als Barbarei verflucht.

Rosa Luxemburgs Verständnis von Freiheit hat die Gerechtigkeit als Grundlage. Nur die, die anderen ein freies Leben als Andere ermöglichen, handeln gerecht. Ein solcher Begriff von Freiheit, der in der Gerechtigkeit gründet, ist nicht nur extrem kritisch gegenüber der Verwandlung von Freiheit in die Barbarei privilegierter Nutznießung sozialer Vorrechte, sondern gleichzeitig gegen alle gesellschaftlichen Strukturen und die sie garantierenden Herrschaftsverhältnisse gerichtet, die diese Barbarei erst ermöglichen. Das auch von ihr immer wieder gebrauchte Wort "Sozialismus oder Barbarei" könnte auch "Freiheit oder Barbarei", "Gerechtigkeit oder Barbarei" buchstabiert werden. Und der Satz "Freiheit oder Sozialismus" wäre für sie genauso sinnlos gewesen wie der Satz "Freiheit oder Freiheit".

Während der herrschende Neoliberalismus eine Herrschaft als Freiheit feiert, die soziale Chancen zwischen Reich und Arm, Nord und Süd, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen immer weiter polarisiert und Freiheit interessengeleitet mit Privileg vertauscht, während dieser Neoliberalismus Freiheit als Barbarei der gewaltsamen Durchsetzung herrschaftlicher Privilegien praktiziert und dafür WTO und IWF, Weltbank oder NATO einsetzt, führt Rosa Luxemburgs Entdeckung, dass Freiheit immer die Freiheit der Anderen ist, zu der Erkenntnis, dass wirkliche Freiheit in der Gerechtigkeit gründet. Kapitalismus, Militarismus und Nationalismus sowie die politische Diktatur gerade auch der Gleichgesinnten waren für sie Fratzen einer Barbarei, der sie die Freiheit als Freiheit der Anderen, und damit die Freiheit als praktizierte Gerechtigkeit gegenüberstellte.

Vielleicht hat Rosa Luxemburg tatsächlich den auswegslosen Gang in Aufstand und Tod gewählt, weil sie für sich angesichts der Alternativen ihrer Zeit keine Möglichkeit mehr sah, sich der Barbarei zu entziehen und frei zu sein. Weder in einer Sozialdemokratie, die die Grundstrukturen des Kapitalismus auch dann nicht ankratzte, als sie die Möglichkeit dazu hatte, noch in einem Parteikommunismus, der die eigene Diktatur vorbereitete, hätte sie als freier Mensch noch wirken können. Ihr Martyrium entlässt uns nicht aus der Pflicht, neue eigene Wege der Freiheit zu suchen. Ein Schritt dazu wäre es, Rosa Luxemburgs radikal soziales Verständnis von Freiheit wieder zu entdecken.

Prof. Dr. Michael Brie ist Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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