Einstieg oder Abstieg in die Normalität?

DIE PDS IN MÜNSTER Auf ihrem Weg in die Gesellschaft muss sich die Partei noch einmal erneuern

Betrachtet man die zehnjährige Geschichte der PDS, so fällt auf, dass es nie an Prognosen fehlte, die ihr baldiges Ende voraussagten: Ob als "Therapieverband für Alt-Stalinisten" oder als "Ost-Milieu-Partei" - immer schienen es nur noch drei, vier Jahre bis zum Untergang. Auf den ersten Blick ist genau das Gegenteil eingetreten. Wenn die PDS an diesem Wochenende in Münster zu ihrem Parteitag zusammentritt, dann auch in dem Bewusstsein, dass sie - gemessen am parlamentarischen Kräfteverhältnis - real zur drittstärksten Partei in Deutschland werden kann. Aber sie bliebe auch nach den in Best-case-Szenarien prognostizierten Werten von acht bis zehn Prozent Wählerstimmen stets eine "kleine" Partei, deren Chancen auf einem weiter erschließbaren Wählerpotenzial im Osten und auf wichtigen Einflussmöglichkeiten im Westen beruhen, die zweifellos vorhanden sind.

Derzeit nimmt die PDS im bundesdeutschen Parteiensystem noch immer einen besonderen Platz ein, geprägt durch einen "Mix" von "überkommenen" und "erworbenen" Konfliktlagen. Zu den "überlieferten" Problemen sind die Mitglieder- und Altersstruktur, die "Ostlastigkeit" sowie die schwierige Verankerung in den alten Bundesländern zu zählen. Hinzu kommt das Weiterwirken zum Teil traditionaler, linksdogmatischer, aber auf jeden Fall stark differenter ideologisch-kultureller Elemente und Sichtweisen. Die PDS ist durchaus eine "pluralistische Partei" - die Vielfalt tritt allerdings oft durch "Graben-" und "Glaubenskämpfe" zutage. Debatten werden nicht selten von überkommenem Dogmatismus überlagert.

"Mikropolitische Machtkämpfe" - Kader und Karrieren

Seit 1998 kam es durch einen von der Wählerschaft getragenen Machtzuwachs zu einer gravierenden "parlamentarischen Fixierung" der Partei und zum Aufbrechen dessen, was man "funktionale Spaltung" nennen könnte - verbunden mit organisatorischen, personalen und politisch-moralischen Konsequenzen.

Auf organisatorischem Gebiet wären hier eine einseitige Ausrichtung auf die "funktionierenden" Strukturen im Umfeld parlamentarischer Institutionen, gewisse informelle Entscheidungsstrukturen und eine teilweise Schwächung von "Basisarbeit" zu sehen. Personal ist die Installierung einer "ersten" und "zweiten Ebene" in den Parteihierarchien ("Spitzen-/Berufspolitiker" und mögliche "Nachfolgekandidaten") zu beobachten, was zu einer relativen Abwertung der dritten Ebene ("Mitgliedschaft") führt, dies besonders bei der Teilhabe an Kommunikation und Entscheidungen. Damit verbunden sind mögliche mentale Veränderungen bei Berufspolitikern (Wahrnehmungsstrukturen, Problembewusstsein, Kommunikationsmuster) - auch die PDS besitzt bereits ihr entwickeltes Feld "mikropolitischer Machtkämpfe". Politisch-moralisch betrachtet, wäre zu konstatieren, die PDS bietet mittlerweile durchaus die Möglichkeiten für planbare "Parteikarrieren". Die Ehrenamtlichkeit - bislang Markenzeichen und Stärke der Partei - gerät in den Geruch des Zweitrangigen. Ohnehin wurden die Reflexion über innerparteiliche Entwicklungen und das Streben nach Einfluss darauf in der PDS jahrelang de facto gering geschätzt.

Nur zögerlich und mit zahlreichen Missverständnissen belastet, begann 1999 die Diskussion über eine Parteireform, bei der es nicht nur um strukturelle Umgestaltung geht, sondern auch um einen erneuerten Grundkonsens über Charakter und Ziel der Partei. Insofern wird die programmatische Debatte weitreichende Folgen haben.

Von existenzieller Bedeutung bleibt dabei die Position der PDS zum Thema "Soziale Gerechtigkeit". Um das zu begründen, reicht ein Rückblick auf die neunziger Jahre. Ohne Leistungen der PDS-Aktivisten (in der Alltagsarbeit, im Parlament, im Wahlkampf) zu schmälern - ein entscheidender Grund für den Erfolg der Partei besteht darin, dass sie - historisch betrachtet - "zur rechten Zeit am rechten Ort" war: Erhebungen, die Mitte der Neunziger versuchten, Konfliktfelder wie "Marktwirtschaft" versus "Soziale Gerechtigkeit" zu beleuchten, attestierten der PDS eine Sonderposition. Sie befand sich "weit links", allein, ganz in der Nähe des Wertes "soziale Gerechtigkeit". Zu dieser Zeit - 1994/95 - begann ein Umschwung im öffentlichen Denken. Die Konfliktlage in Ost und West verschob sich dramatisch, wie andere empirische Studien belegen. Soziale Widersprüche (zwischen "Arm" und "Reich", zwischen "Arbeitgebern" und "Arbeitnehmern") wurden 1996/97 um 20 bis 30 Prozent stärker betont als dies etwa 1993 der Fall war. Eine sich vertiefende soziale Spaltung der Gesellschaft erlangte im Bewusstsein der Menschen ein neue, weitaus gewichtigere Dimension.

Für die PDS bedeutete dies: Die Partei hatte in ihrer Öffentlichkeitswirkung zwei große, sich reproduzierende Widerspruchsfelder - die soziale Frage und in Verbindung damit die "Ost-West-Differenz" - frühzeitig thematisiert und "besetzt". Etlichen "Individualisierungs-" und "Lebensstilisierungs"-Deutungen zum Trotz gab es im Konfliktbewusstsein einer Mehrheit der Bevölkerung eine deutliche Verlagerung in diese Richtung. Salopp ausgedrückt, konnte die PDS - dem Igel in der Furche gleich - bei den Wahlen 1998/99 ausrufen: "Ick bin all hier!"

"Kompetenzorientierte Modernisierer" - Professionalität und Programme

Unter diesen Umständen hat die Partei beste Voraussetzungen (wie auch die Verpflichtung), das Thema "soziale Gerechtigkeit" als Kernpunkt der programmatischen Debatte zu behandeln - verschränkt mit der Frage nach einer neuen "Grundkonstruktion" der PDS, da eine stabile "Öffnung zur Gesellschaft" ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg der "Parteireform" ist. Noch lässt sich nicht abzusehen, ob das gelingt. Als Blockaden werden zumeist die Konflikte zwischen "Modernisierern" und "Traditionalisten" beschrieben. Eine solche Widerspruchslinie ist zweifellos weiter vorhanden, überlagert wird sie jedoch zusehends von dazu "quer" liegenden Konflikten: Einerseits existieren starke Gruppierungen, die als "kompetenzorientierte Modernisierer" bezeichnet werden können. Sie kommen aus dem parlamentarischen Umfeld und insistieren auf erhöhte "Positionsmacht" und mehr Einfluss in den Parlamenten. Sie wollen gedanklichen Vorlauf für Politik-Projekte und Professionalität bei der Wahrnehmung von Verantwortung. Kurz: Sie treten für das "Funktional-Prinzip" und die Machtorientierung der PDS im politischen System ein.

Parallel dazu wirken vom Einfluss her schwächere Gruppen, die sich mit dem Begriff "bewegungs- und wertorientierte Modernisierer" charakterisieren ließen. Sie betonen für die "Wertegemeinschaft PDS" eine verstärkt zivilgesellschaftlich-außerparlamentarische Ausrichtung. In diesem Kontext verlaufen gegenwärtig Debatten über neue Kommunikationsstrukturen und den Ansatz, politische Aktivitäten in Form "gesellschaftsoffener Projekte" zu betreiben. Gleichfalls gibt es Überlegungen zu einem "kritisch-reflexiven Politik-Stil", bezogen auf ein Verhaltensmuster, in das klare Wertorientierungen, eine explizite politische Moral und Kompetenz bei Entscheidungs-, Lern- und Kommunikationsprozessen eingeschlossen sind. Als Kennzeichen dieser Gruppe kann das Bestreben gelten, die "normale" Funktionalität der PDS im politischen System zu sichern und zugleich ihren Charakter als "moderne Bewegung" auszuprägen.

Geht es um die Perspektive der PDS, ließe sich festhalten: In modernisierten, hochkomplexen Gesellschaften haben Parteien nur dann langfristig eine Chance, wenn sie einen besonderen Platz in der politischen "Bedürfnisstruktur" einnehmen. Anders gesagt: Jede Partei muss tatsächlich "gebraucht" werden. Chancen für die PDS sind dann gegeben, wenn sie die Felder "Soziale Gerechtigkeit", "Modernität" und "Handlungsfähigkeit" zu besetzen und zu verbinden versteht. Damit sind keineswegs vereinfachte Image-Bilder im Stil von Wahlkampfslogans gemeint - vielmehr soll dadurch auf ein ganzes Strategiebündel verwiesen werden. Ob und wie es geknüpft wird, dürfte letztlich davon abhängen, welche "Grundkonstruktion der Partei" sich weiter entwickelt. Die PDS muss unter den Anforderungen modernisierter Markt- und Kommunikationswelten effektiv tätig sein, kann aber Gefahr laufen, eine kaltherzige "Funktional-Partei" zu werden, die ihren Wertekonsens verliert. Sie kann die kommende Erschütterung durch größere Mitgliederverluste (sicher nach 2002 bis 2005) auffangen oder auch nicht. Möglich ist, dass ihr das Kunststück gelingt, als eine "normale" Partei im politischen System zu arbeiten und gleichzeitig ein Stück "moderne Bewegung" zu bleiben (oder zu werden). Schließlich haben -und das ist positiv zu werten - diverse Modelle von Mitglieder-, Wähler-, Dienstleistungs- oder Kommunikationspartei neben anderen Varianten bereits Erwähnung in einigen Debatten gefunden.

Michael Chrapa ist Sozialwissenschaftler, Wahlforscher und Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft für Konflikt- und Sozialstudien e.V. Halle.

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