Betrachtet man Zeichnungen von Manfred Deix oder Werke des Filmemachers Ulrich Seidl, meint man, bei unserem Nachbarland Österreich handele es sich um eine Art Vorhölle; die Schlechten müssten dort unendlich viel schlechter, die Verrückten unendlich viel verrückter, die Korrupten unendlich viel korrupter sein als in jeder anderen Weltregion.
Diesen Eindruck unterstreichen weite Passagen im neuen Buch des Salzburger Schriftstellers und Essayisten Karl-Markus Gauß. In dem Kapitel „Vom Sex und seiner Besserung“ etwa berichtet er von seinen Besuchen der Internetseite net.doctor.at, wo Themen wie „die bequemsten Stellungen für Männer mit Übergewicht“ oder „Wie lange muss ich nach einer Mandeloperation mit dem Oralverkehr
it dem Oralverkehr warten, um die Heilung nicht zu beeinträchtigen?“ heiß diskutiert werden. Gibt Gauß seine Eindrücke wieder, weiß man nie genau, ob es ihn vor den extreme Blüten treibenden Neurosen der österreichischen Mehrheitsmenschheit graust oder sie ihn insgeheim faszinieren. Dieser paradoxe Umgang mit einem Seelenklima mag seinen Ursprung womöglich wirklich im Österreichischen haben.Ganz andere Töne, wenn Gauß Nachrufe auf bekannte und unbekannte Kollegen verfasst. Beim Lesen oder Sehen von Nachrufen hat man ja oft das Gefühl, die pathetischen Formulierungen glichen sich aufs Haar, nur die Toten würden ausgewechselt. Nicht so bei Gauß, keine Floskel und keine abgestandene Wendung quälen den Leser. Mehr noch: Selbst derjenige, der nie eine Zeile von beispielsweise Gerhard Amanshauser gelesen hat, ist beim Lesen froh, dass dieser, trotzdem er vom großen Publikum unentdeckt blieb, nie zu schreiben aufhörte, spürt sogar den Verlust. Es bedarf, um so etwas mit wenigen, aber sensiblen Worten zu bewirken, einer beträchtlichen schriftstellerischen Fertigkeit.Vermischte Nachrichten Lob der Sprache, Glück des Schreibens heißt das neue Buch von Gauß. Glossen, Vorwörter und Vorträge sind darin versammelt. Im Charakter ähnelt es den „Vermischten Nachrichten“, jener Zeitungsrubrik, die allerlei Merkwürdigkeiten, Unglücksfälle oder Vorkommnisse bei der Prominenz auf engstem Raum bündelt. Oft schon waren die „Vermischten Nachrichten“ Vorbild für große Bücher, die nicht lediglich eine Geschichte, sondern das Leben in seiner staunenswerten, verstörenden Fülle darbieten wollen.In einem der Kurztexte erzählt Gauß von Jean Améry, dem großen, als Hans Mayer in Wien geborenen Intellektuellen. Dieser hätte so arg darunter gelitten, von der Öffentlichkeit als Essayist, nicht aber als Prosaiker geachtet zu werden, dass er seinem Leben wohl auch deswegen ein Ende setzte. Gauß merkt dazu an: die Literatur sei keine Hierarchie mit dem Roman in der Königsposition; Journalismus verlange dieselbe literarische Passion wie ein Romanwerk. Diese Auffassung prägt jeden Text in diesem Buch. Gauß’ versierte und funkelnde Sprache und der stets offen ausgebreitete subjektive Blickwinkel machen den Unterschied zum meisten, was sonst so als Zeitungstext oder Vortrag firmiert. Warum nur, stoßseufzt der Schriftsteller einmal, fühlen sich so viele Menschen pudelwohl im Fitnessstudio, wo sie, zum Anhängsel einer sie fortwährend gängelnden Maschinerie geworden, laufen und laufen, um dann nirgendwo hinzugelangen? Die (österreichische) Realität – Gauß’ Buch macht es sichtbar – ist unendlich viel surrealer und unendlich viel gemeiner, als es unser Alltagsbewusstsein wahrhaben will.Weswegen einer Jahr um Jahr einsam am Schreibtisch sitzt? „Schreibe ich nicht“, bemerkt Gauß, „werde ich schon über kurz ein dümmerer und über lang auch ein schlechterer Mensch.“ Dies das „Glück des Schreibens“, von dem der Buchtitel spricht. Aktuell ist aber einiges los im Schriftstellerleben. Gauß feiert, vielgeehrt, 60. Geburtstag, und er wird mit dem hochdotierten österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. Erfreulich, wenn es auch einmal einen wie ihn trifft, der keinen Hehl daraus macht, ein anderes als dieses kapitalhörige und kapitalgetriebene Europa lieber heute als morgen verwirklichen zu wollen. Jetzt schon betrachtet er nicht Brüssel als Europas Hauptstadt, auch nicht Straßburg. Kurzerhand erklärt er die winzige Ortschaft Sejni dazu, die irgendwo in der von blutigen Kriegen gezeichneten Grenzregion zwischen Litauen und Polen liegt. Weißrussen, Litauer, Ruthenen, Ukrainer, Russen, Polen leben dort, und einige leidenschaftlich Engagierte versuchen mit Kulturarbeit, die Gegensätze zu überwinden. Ob es gelingt? Die großen historischen Fragen, sagt Gauß, werden nicht dort entschieden, wo Geld, Macht und Mode zusammenfinden, sondern in solchen Orten am Rande, im vermeintlichen Niemandsland. „Überall ist Weltmitte“ lautet ein in diesen Zusammenhang gut passender, leider wenig ernst genommener Satz des sächsischen Lyrikers Wulf Kirsten.
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