Lob des Schwarzmarkts

Chronist Karl Schlögel wirft einen neuen Blick auf Osteuropa. Ein weiteres Meisterwerk nach „Terror und Traum“
Ausgabe 45/2013

Seit März diesen Jahres ist er 65, ein Autor im Rentenalter. Aber nicht das macht Karl Schlögels neues Buch Grenzland Europa zum Alterswerk, sondern der Umstand, dass sich dieser Historiker bewusst der älteren Generation zurechnet. Meint: Einer Generation, welche die Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989 bewusst miterlebte und deren Wahrnehmung wesentlich daraus resultiert. Erwähnenswert auch, wie dieser Historiker Erinnerungsarbeit leistet. Er ist nämlich ein passionierter Reisender, fuhr schon während des Kalten Kriegs regelmäßig ostwärts, erkundete und porträtierte Orte wie Vilnius, Nishnij, Czernowitz oder Lemberg. Osteuropäische Städte und Landschaften sind für Schlögel das, was Moskau für Walter Benjamin war: ein Spaziergangsgebiet.

1929 hatte Benjamin, neugierig auf eine kommunistische Gesellschaft, eine Reise in die sowjetische Hauptstadt Moskau angetreten und unablässig ihre Straßen durchwandert, Architekturformen genauso studiert wie die Gesichter und Gesten der Menschen oder den winterlichen Schneefall. An solchen Zeichen, meinte Benjamin, könne man die Geschichte eines Ortes gut ablesen. Walter Benjamin hielt diese Stadtwanderungen in seinem Moskauer Tagebuch fest, das für Schlögel eine wichtige Inspirationsquelle ist. Und so verwandelt auch der Historiker Schlögel all jene Lebensgeschichten, Wünsche und Träume, die Orte dem geübten Auge ohne Unterlass erzählen, in Geschriebenes.

Im Strom der Gestalten

Dabei überschreitet er immer wieder die Grenze, die Wissenschaft und Poesie voneinander trennt. Karl Schlögels historische Werke sind, zum Glück für den Leser, mit großer Empfindsamkeit und Fabulierlust geschrieben. Vielleicht möchte Schlögel seinen wissenschaftlichen Blick manchmal einfach ausknipsen und sich dem Zauber einer osteuropäischen Stadtlandschaft hingeben. Aber es geht nicht. Nicht in unserer Zeit. Wer reist und die Augen nicht verschließt, stößt überall auf Geschichte. Und die fordert, mutet zu, quält auch.

Schlögels bisher größtes und bedeutendstes Werk ist Terror und Traum (2008), ein Buch, das allein mit den Mitteln des Flaneurs, eines Meisters der Beobachtungskunst, nicht geschrieben werden kann. So etwas vermag nur, wer das, was hinter Kulissen geschieht, was in Seelen und Archiven versunken ist, hervorzuholen versteht. Terror und Traum handelt von einem kurzen, aber bezeichnenden Zeitabschnitt im Leben einer Stadt, dem Jahr 1937 in Moskau, einem Höhepunkt der stalinistischen Diktatur. Doch es gibt keine Chronologie, es strömt dahin, Seite um Seite. Wer sich darauf einlässt, wird mitgezogen in dem Strom der Gestalten und Ereignisse. Mal stehen glanzvolle Sportveranstaltungen im Mittelpunkt, mal Folterungen und Liquidierungen vermeintlicher Gegner Stalins, mal visionäre Architekturprojekte, mal verzehrende Ängste, die Stalin und die Seinen in der Stadt verbreiten.

Bild für Bild entsteht ein Film. Ja, Terror und Traum ist ein Geschichtsbuch, das kunstvoll wie ein Film (oder Roman) komponiert ist, mit Rückblenden, Vorgriffen, Perspektivwechseln, avancierten Schnitt- und Montagetechniken. Weit gefehlt jedoch, hier von einem radikal modernen oder postmodernen Werk zu sprechen. Denn im Grunde macht Schlögel nichts anderes als Menschen seit bereits Tausenden von Jahren, wenn sie sich Geschichten erzählen. Erzählen heißt bannen, Arbeit an einem Verstehen. Nur hat die unfassliche Dynamik der modernen Metropole Moskau alles das, was gleichzeitig „im selben Jetzt“ (Ernst Bloch) geschieht, das Erzählen zerfetzt. Wollte man der Realität wirklich gerecht werden, so der Historiker, müsste man die Kapitel seines Buches nicht hintereinander weg, sondern simultan lesen.

Svetlana Geier, die große Übersetzerin Dostojewskis, zeigte sich einmal sehr betrübt über das Russlandbild Goethes. Der Weimarer, stellte sie fest, zählte den Osten nicht zum Abendland; er hielt Westeuropa für sehr viel höher entwickelt und wollte daher von russischer Kultur nichts wissen. Einem solchen Hochmut wurde – durch unselige Propagandabilder zunächst des Dritten Reichs, dann des Kalten Krieges – bis in die jüngste Zeit hinein Geltung verschafft. Hierfür sind Karl Schlögels Bücher ein Gegengift. Erkundungen osteuropäischer Orte, Milieus und Mentalitäten, die westlichen Chimären die Luft ablassen, Bewusstsein an ihre Stelle setzen.

Terror und Traum als Beispiel. Schlögels Buch über ein Russland, das sich die Errichtung einer neuen Welt vornimmt, das von sich selbst überfordert ist, sich mit Paranoia auflädt, überall Gegner ausmacht, Menschen systematisch ausspioniert und viele von ihnen umbringen oder in Lager deportieren lässt – dieses unbequeme Buch betrifft gewiss nicht allein Russen oder Marxisten, sondern führt einen integralen Bestandteil der Geschichte unserer europäischen Moderne vor Augen.

Von Resignation keine Spur

Den Reiz von Grenzland Europa macht aus, dass hier ein Intellektueller mit weitem, durchdringendem Blick über unsere Gegenwart nachdenkt. Der Westen, meint der Historiker, erlebe derzeit Ähnliches wie der Osten vor einem Vierteljahrhundert: die Abwicklung eines unhaltbar gewordenen Zustands. Wir Westler lebten ökonomisch weit über unsere Verhältnisse, aber letztendlich ginge es derzeit gar nicht um Wirtschaftsfragen. Sondern: um eine existenzielle Selbstfindung, darum, wie die Gesellschaft beschaffen sein soll, in der wir Bürger Europas leben wollen. Schlögel beklagt die offenkundige Überforderung und intellektuelle Defizite der politischen Klasse, gesteht angesichts der ungemein komplizierten Lage aber auch offen seine eigene Ratlosigkeit ein.

Ratlosigkeit, nicht Verbitterung oder Resignation. Schlögel will sich sein Vertrauen in die Zukunft nicht nehmen lassen. Eine Haltung, die aus der Erinnerung erwächst. Wiederholt kommt der Historiker auf das zu sprechen, was er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Reisen erlebt hat. Damals fiel der gesamte osteuropäische Wirtschaftsraum zusammen, der Lebenszusammenhang von Abermillionen Menschen zerriss, aber die Entwicklung verlief dennoch überwiegend friedlich. Das, konstatiert Schlögel, sei nicht den gesellschaftlichen Führungsschichten, vielmehr all jenen Männern und Frauen zu verdanken gewesen, die auf Schwarzmärkten handelten.

Dort habe man die Kunst des nicht-monetären Tausches, des Improvisierens und Sichdurchwurstelns eingeübt, worauf man nach dem Ende des Sowjetimperiums zurückgreifen und das eigene Überleben irgendwie sichern konnte. Auch deshalb blieb die Region bei Besinnung und der gesellschaftliche Zusammenhang erhalten.

Das Agieren all der unscheinbaren, namenlosen Alltagsmenschen, sprich: der Zivilgesellschaft ist ein Hoffnungsschimmer, den Schlögel den allgegenwärtigen Krisenszenarien und Alarmstimmungen entgegensetzt. Billigflieger, Gebrauchtwagenhändler oder Erasmus-Studenten, schreibt er, sorgten abseits öffentlicher Bühnen dafür, dass Europa sich trotz allem näher kommt. Bei den Besuchern von Fußballeuropameisterschaften, Public Viewings oder Love Parades macht er ein über allen Kommerz weit hinausgehendes, Grenzen überwindendes Bedürfnis nach einem friedlichen Zusammenleben aus.

Nicht gerade originell, diese Sichtweise, eine intellektuelle Enttäuschung? So zu denken, wäre arrogant. In Wahrheit sind Schlögels Beobachtungen der „kleinen Leute“ von Europa, ihrer Praktiken und Lernprozesse, erste Schritte, einen eklatanten Mangel unserer akademischen Wissenschaften zu beheben: Das Ausbleiben der Aufklärung zu der drängenden Frage, wie man über kulturelle und politische Differenzen hinweg vermitteln, wie man Frieden schließen und diesen haltbar machen kann.

Der tiefe Ernst, mit dem Schlögel diesen Aspekt in den Mittelpunkt all seiner Betrachtungen rückt, resultiert daraus, dass ihm das 20. Jahrhundert Europas mit seinen beispiellosen Zerstörungen gewissermaßen noch in den Knochen steckt. Geschichte, das ist bei diesem Historiker der älteren Generation zu lernen, ist niemals nur Angelegenheit abstrakt-universitärer Betrachtungen, kein Geschehen, das weit weg oder hinter uns liegt – man ist selbst stets aufs engste darin verwickelt.

Man muss Schlögels tiefen Optimismus nicht teilen. Aber was soll es helfen, zu wissen, ob ein Autor kulturpessimistisch oder kulturoptimistisch ist? Sind das nicht oberflächliche Kriterien, Etiketten, die man Autoren oder Werken aufpappt, um so die Anstrengung der Analyse zu vermeiden? Ist es nicht viel wichtiger, wie ein Werk beschaffen ist, ob es beispielsweise historische Wirklichkeit wie in einer Großaufnahme sichtbar machen kann und uns dadurch aus dem Reich der Oberflächlichkeit, der Etiketten und der Schablonen heraushilft? Grenzland Europa ist ein solches Buch.

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent
Karl Schlögel Carl Hanser 2013, 352 S., 21,90 €

Michael Girke schrieb zuletzt über Geert Maks 11.000-Meilen-Reise quer durch die USA

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