Vor wenigen Jahren galt das inmitten von Hamburg gelegene Schanzenviertel noch als „Schandfleck“. Heute hingegen reihen sich dort Babykleidungsboutiquen, Design- und Bioläden für den gehobenen Geschmack dichtgedrängt aneinander. „Die Schanze“ ist zum Quartier der Jungen und Hippen mutiert. Im Frühling und Sommer halten etliche dortige Läden ein Zusatzangebot bereit: kleine Mengen Obst und Gemüse, von den Inhabern selbst im Garten oder auf dem Balkon angebaut, die trotz der gesalzenen Preise immer rasch verkauft sind. Anders nämlich als das um vieles günstigere Obst und Gemüse im Supermarkt wird dieses nicht chemisch aufgemotzt; ihm ist wieder jener Geschmack eigen, den unsere Lebensmittelindustrien ihm zu großen Teilen ausgetrieben hatten. Kurzum, im hippen Hamburg ist derzeit eine Hinwendung zur Gartenlaube und ihren Erzeugnissen beziehungsweise zur Natur überhaupt zu beobachten.
Brutverhalten der Grabwespe
Das Phänomen treibt auch in anderen Metropolen und selbst auf dem deutschen Buchmarkt Blüten. Jüngst schafften es der schreibende Förster Peter Wohlleben mit Das geheime Leben der Bäume und die englische Naturpoetin Helen Macdonald mit H wie Habicht, bis ganz an die Spitze der Bestsellerlisten zu klettern. Und längst haben Buchhändler, die auf sich halten, einen eigenen Regalbereich freigeräumt für die von der Literaturkritik gefeierte und sogar von einem beachtlichen Leserkreis geschätzte Naturkunden-Reihe des Berliner Verlags Matthes & Seitz.
Der Naturbuchboom bringt es mit sich, dass Themen wie die Kommunikationsweisen jahrhundertealter Bäume oder das raffinierte Brutverhalten der Grabwespe inzwischen selbst bei ausgemacht urbanen Bohemiens an der Tagesordnung stehen. Doch was für Haltungen brechen sich da eigentlich Bahn? Erlebt das Zurück-zur-Natur-Denken, das sich in unseren Breiten ja immer durch einen unseligen ideologischen Kampf gegen alles Städtische und Technische hervortat, eine erneute Wiederauferstehung? Antwort auf diese Fragen kann womöglich Alte Wege geben, das neue Buch des britischen „Nature Writer“ Robert Macfarlane. Er ist mit 39 ein noch junger Autor und repräsentiert genau jene Generation, die den neuen Naturboom wesentlich trägt.
Der Arbeit an Alte Wege gingen lange Fußwanderungen in Britannien, Palästina, Spanien und sogar im Himalaya voraus. Wobei Macfarlanes Aufmerksamkeit nie nur der Gegenwart gilt; stets nutzt er seine Exkursionen dazu, herauszufinden, wie eine bestimmte Landschaft die Existenzweise ihrer Bewohner formte, welches Verständnis diese von der Landschaft mit ihren Tieren und Pflanzen einst ausgebildet haben. Die Erzählungen darüber fesseln ungemein, insbesondere jene über die Menschen, die viele tausend Jahre vor der Zeitrechnung aufbrachen, um Wege über Meere und Kontinente hinweg zu erkunden, zu erschließen und schließlich Handel zu treiben. Der Leser Macfarlanes lernt, dass selbst allerfrüheste Kulturen eines ganz gewiss nie waren: primitiv.
Des Autors Liebe zur Landschaft ist familiär vorgeprägt. Sein Großvater Edward Peck arbeitete seit den 1930er Jahren als Diplomat und nutzte seinen Job dazu, in vielen Weltgegenden ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen. Der Aufenthalt in der Landschaft half ihm, Widerstandskräfte gegen die Zumutungen, den Druck der Zeit, in der er lebte, auszubilden. Für Robert Macfarlane ist das Schreiben eine Möglichkeit, mit der Vergangenheit, dem geliebten Großvater etwa, in Gespräche einzutreten. Auch mit toten Kollegen wie Edward Thomas (1878 – 1917), einem Dichter, der vor seiner mühseligen, nur kargen Lohn einbringenden Schreibarbeit sowie seinen schweren Depressionen in Britanniens Landschaften regelrecht floh. Dann war er selbst für Frau und Kinder über Wochen nicht zu sprechen. Die Früchte dieses eigenwilligen Tuns sind Prosastücke und Gedichte, die als Klassiker des sogenannten Nature Writing gelten. Diese Literaturgattung, die im angloamerikanischen Raum eine lange und wahrlich beeindruckende Tradition besitzt, wird von dem Glauben angetrieben, dass die sich durch ihre unermessliche Weite eigentlich entziehende Welt in Form der Dichtung doch zu erfassen sei. Viele Poeme von Edward Thomas, schreibt Macfarlane, bringen zum Ausdruck, dass in diesem Mann zwei gleich mächtige Sehnsüchte fortwährend gegeneinander gearbeitet hätten: die nach Veränderung und die nach Stabilität. Eine Zerrissenheit, wie sie typisch sei für die moderne Mentalität insgesamt.
Ein feinsinniger Realist
Wer zu solchen Feststellungen kommt, unterscheidet sich grundlegend von Landschaftsbuchverfassern, wie Hape Kerkeling oder Paulo Coelho es sind. Beide setzen, bewusst oder unbewusst, bestimmte Züge der Romantik um 1800 fort. Typisch für die romantische Weltanschauung war etwa E. T. A. Hoffmanns Ansicht, die Wirklichkeit werde stets bloß hässlicher und böser; und dass die Kunst dazu einen Gegensatz bilde, weil sie es ermögliche, in eine imaginierte heile Welt zu entfliehen. Diesem Denken entsprechen Kerkeling und Coelho, indem sie in ihren Büchern stets nur beschauliche Wege zum Selbst oder die erhabene Größe einer vom Menschen befreiten Natur beschwören. Wie anders dagegen der Realist Robert Macfarlane. Sein Thema sind immer auch jene Risse und Widersprüche, die unsere Wirklichkeit durchziehen. Ja, Natur kann entzücken und betören, zugleich ist sie unerbittlich, bringt selbst den, der die Tiere zutiefst achtet, dazu, sie eigenhändig zu töten und zu essen. Ja, das Wandern öffnet für neue Bereiche und beschenkt mit wertvollen Erfahrungen, es kann aber auch, wie Macfarlanes Abschnitt über das kalifornische Death Valley eindringlich zeigt, schlimme Folgen haben.
Selbstverständlich handelt Alte Wege nicht lediglich von Begegnungen mit der Natur, sondern, das ist das Entscheidende beim Nature Writing, von der Poesie, die man daraus schöpfen kann. Macfarlanes feinsinnige Prosa, die von Schriftstellern wie Rebecca West und eben Edward Thomas, aber auch von dem zauberhaften Wortreichtum uralter Tier- und Pflanzenlexika viel gelernt hat, bleibt nie beim Pittoresken stehen. Vielmehr sind die Landschaftsbeschreibungen stets mit sozialer Wirklichkeit angereichert. Etwa dann, wenn Macfarlane verschiedene Arten von Fußreisenden miteinander vergleicht. Der vor allem der Kontemplation und Bildung zugeneigte Typ Wandersmann, den einst die europäische Romantik ausprägte, und der „Hobo“, der Wanderarbeiter zu Zeiten der Großen Depression in den USA – sie gingen und blieben und sahen völlig verschieden voneinander.
Für Robert Macfarlane ist Landschaft nicht etwas, das sich wie ein Gemälde distanziert betrachten ließe. Schon gar ist sie ganz etwas anderes als eine Idee. Landschaft, stellt er heraus, muss man mit allen Sinnen konkret erfahren. Denn nur so lässt sich diese dynamische „Textur“ mit all ihren jeweiligen Tieren, Pflanzen, Gesteinen, Farben, Tönen, Witterungen und anderen Besonderheiten wirklich erfassen. Diese Haltung teilt der Brite mit anderen. Freunden, die ihn begleiten, wenn er außerhalb seiner Heimat wandern geht. Raja Shehadeh zum Beispiel, ein Palästinenser und früherer Menschenrechtsanwalt, der schon vor dem Sechs-Tage-Krieg damit begonnen hat, zu Fuß das „Heilige Land“ regelmäßig zu durchmessen. Es war damals im Grunde noch genauso beschaffen wie zu Zeiten der römischen Besatzung in der Antike. Heute nicht mehr. Die zahllosen bewaffneten Auseinandersetzungen und Israels Siedlungspolitik veränderten es binnen kürzester Frist total. Grenzen zerschneiden das Land und das Denken der Menschen. Dennoch gibt Raja Shehadeh nicht auf, es weiterhin zu durchwandern und seine Besonderheiten und Schönheiten zu entdecken. Jeder Schritt ein ziviler Akt in einer von Gewaltverhältnissen geprägten Zeit.
Macfarlane und seine über die Erde verstreuten Wanderfreunde sind alle wie dieser Raja Shehadeh. Sie wissen: Man braucht nicht an exotische Orte zu reisen, um berückende Geschehnisse zu entdecken, man findet die Welt vor der Haustür.
Eine ähnliche Auffassung greift auch hierzulande allmählich um sich. So bei der Lyrikerin Sabine Scho, die kürzlich einige Gedichte über das Naturkundemuseum in ihrer Heimatstadt Berlin, genauer: über dort zu sehende Präparate veröffentlicht hat. Eines ihrer mit allen Wassern der künstlerischen Moderne gewaschenen Poeme widmet Scho dem Hammerhai: „what is it like / to be a snarky crackpot / sensationally sick / 360 Grad im Blick / pausenlos pendeln / lorenzinische ampullen / melden impulse, sammeln / elektrische stimuli durch / poren im hammerkopf“.
Was das Ganze mit dem anfangs geschilderten Hamburger Schanzenviertel zu tun hat? Es sind bestimmte Haltungen, die man sowohl bei den jungen, selbstangebautes Gemüse und Naturbücher verzehrenden Metropolenbewohnern als auch bei den schreibenden Naturfreunden unserer Tage ausmachen kann. Haltungen, denen mit unseren althergebrachten Auffassungen nicht beizukommen ist. Keinen der Genannten bestimmt auch nur im Entferntesten die miefige Gartenlaubenmentalität von einst, keinen das Verlangen der Romantik alter Schule, die Reinheit von Natur zu besingen. Man will das Rad der Zeit nicht gewaltsam zurückdrehen, sondern weiß sämtliche technisch-industriellen Errungenschaften der Moderne sehr zu schätzen. Doch ein Zug der heute dominierenden Gesellschaften erschreckt und empört sie alle zutiefst: die nah und fern um sich greifende Naturzerstörung, der man ein im höchsten Maße achtungsvolles, nicht zerstörerisches Naturverhältnis entgegensetzt.
Sollten Naturbücher wie das von Robert Macfarlane breite Leserschichten erreichen, könnten sie sich als ein Segen erweisen. Die uns umgebende Welt, die von illusionären Bildern und abstrakten Begriffen zugestellt ist, würde endlich entdeckt.
Info
Alte Wege Robert Macfarlane , Judith Schalansky (Hg.) Andreas Jandl, Frank Sievers (Übers.), Matthes & Seitz 2016, 400 S., 34 Euro
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