Wolken ziehen vorüber

Geschichtsschreibung Was die Kunst des Romans mit dem wissenschaftlichen Anspruch auf Objektivität zu tun hat. Das Beispiel Siegfried Kracauer

Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Theodor Adorno und Max Horkheimer – die heute weithin bekannten geistigen Väter der 68er waren eigentlich Außenseiter des deutschen Wissenschafts- und Kulturbetriebes. Sie alle mussten, als der Heilswahn des Dritten Reiches begann, aus Deutschland fliehen und zu Exilanten werden, konnten aber später dennoch hineinwirken in die geistige Entwicklung der Bundesrepublik. Siegfried Kracauer besaß alle Voraussetzungen, zu dieser Gruppe der Intellektuellen gezählt zu werden. In den sechziger Jahren brachte der Suhrkamp-Verlag einige seiner Werke neu heraus, was durchaus Beachtung fand. Doch war stets ein Unbehagen spürbar in der Rezeption dieses Autors, dessen Klugheit und Fähigkeit zu schreiben zwar niemals in Frage stand, der jedoch ein Fremder blieb.

Das hat vor allem mit Kracauers Art der Problemstellung zu tun. Diese war als schroffe Herausforderung im Untertitel seiner 1964 auf Deutsch erschienenen Theorie des Films formuliert, welcher Die Errettung der äußeren Wirklichkeit lautete. Dass diese Zusammenschau von Kunst und Errettung als im höchsten Maße anstößig und auch unphilosophisch empfunden werden musste, liegt auf der Hand. Kracauer nahm mögliche Einwände gleich zu Beginn des Buches auf in seinem Gedankengang: „Das Buch befasst sich fast ausschließlich mit dem normalen Schwarz-Weiß-Film, wie er sich aus der Fotografie entwickelt hat. Kurz, mein Buch entspringt der Absicht, Einblick in die besondere Natur des fotografischen Films zu gewinnen.“

Keineswegs also sollte es eine Erfassung des gesamten Kinogeschehens sein, sondern lediglich eine von vielen Möglichkeiten des Films herausgestellt werden. Reduzierung des Gegenstandes, dazu der Zweck der Errettung. Das konnte nur eine höchst merkwürdige Theorie eines merkwürdigen Denkers sein.

In seinem Buch Die Ringe des Saturn berichtet der Schriftsteller W. G. Sebald von dem französischen Vicomte Chateaubriand, der in der Zeit um 1800 beschloss, sein bewegtes Leben aufzuschreiben. Wobei der Vicomte an manchen Stellen seiner Autobiografie in tiefe Melancholie fällt und den Sinn seines Unternehmens bezweifelt: „Wird mein Geschriebenes hinausreichen über mein Grab? Wird überhaupt jemand es noch begreifen können in einer von Grund auf veränderten Welt?“ Fragen, zu denen aus Sicht der Nachgeborenen eine weitere hinzuzufügen wäre: Gibt es tatsächlich Brücken, auf denen in die Vergangenheit hinüber zu gelangen wäre, in eine Zeit also, die es nicht mehr gibt?

Proust als Historiker

Solchen Problemen widmete Siegfried Kracauer Jahre der Beschäftigung, die einmündeten in sein unvollendet gebliebenes Buch Geschichte – Vor den letzten Dingen (neu erschienen bei Suhrkamp). Eines der vielen Themen darin ist die gewissermaßen unvermeidbare Begrenztheit eines jeden Historikers. Nicht allein, dass die oftmals sehr wenigen erhaltenen Zeugnisse immer bloß ein bruchstückhaftes Bild einer vergangenen Epoche liefern. Oftmals ist ein Geschichtsschreiber den Denkweisen seiner jeweiligen Zeit derart verhaftet, dass Geschichtsbetrachtungen mehr Projektionen denn realistische Wiedergaben sind. Schwierigkeiten, die Kracauer – ähnlich melancholisch wie Chateaubriand – kon­statieren ließen: „Wenn es Geschichte nicht gebe, möchte man fast sagen, sie sei ein unwahrscheinliches Unternehmen.“ Dennoch sucht er nach der Möglichkeit einer realistischen Geschichtsschreibung. Wobei Kracauer Marcel Proust als Vorbild anführt. Proust – ein Historiker? Was bloß mag die Kunst des Romans mit der zur Objektivität verpflichteten Wissenschaft zu schaffen haben?

Es ist die Zeitauffassung in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Kracauer für wegweisend hält. In dem der moderne Autor Proust seinen Roman aus oftmals unverbundenen Einzelheiten und Bruchstücken zusammensetze, werde er neuen Erkenntnissen von der komplizierten Gestalt der Wirklichkeit gerecht. Zudem sei die Zeit bei Proust kein kontinuierlicher Prozess, sondern bestehe vielmehr aus lauter diskontinuierlichen Situationen, wie Wolken, welche sich auf zufällige Weise ballen und zerstreuen. Mit diesen aus der aufmerksamen Lektüre eines Romans gewonnenen Einsichten wird eine scharfe Absage an all jene Historiker formuliert, die, in der Nachfolge Hegels, Geschichte als etwas Ganzes erachten, das vorbestimmten Gesetzen folge.

Jedoch stellt Kracauer klar: Trotz aller Fähigkeiten Prousts besteht ein Widerspruch zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch der Wissenschaft und dem Umstand, dass im Erzählen vergangener Tatbestände immer Lücken bleiben, immer etwas umstrukturiert oder vielleicht gar erfunden werde. Am Ende seines Ganges durch all die Probleme der Historiker erachtet Kracauer diesen Widerspruch als unauflösbar. Um sich dann vehement auf die Seite von Erzählern wie Proust oder dem Schweizer Historiker Jacob Burckhardt zu schlagen. Diese Autoren haben moderne, der Kompliziertheit der Wirklichkeit angemessene, Möglichkeiten ersonnen, Vergangenes erzählend zu bergen und zu bewahren. Das bedeutete nichts anderes – und dies dürfte das tiefe deutsche Befremden gegenüber dem Denken und Schreiben Kracauers erklären –, dass Geschichte eben keine reine Wissenschaft sei, sondern ein Zwitter, der immer auch etwas von Kunst habe. „Wer erzählt“, schreibt Kracauer in einem Brief an Ernst Bloch, „der verweilt; er umfährt liebend auch das, was nur ist und verändert werden soll. So erfahren wir es.“ Wir haben das erzählende Vergegenwärtigen von Vergangenheit oder wir haben keine Geschichte.

Mit dem Auge der Kamera

In seinem Geschichtsbuch geht Kracauer so weit, seine in der Beschäftigung mit dem Film gewonnenen Einsichten auf das Geschichtsschreiben zu übertragen. Was abermals großes Befremden auslösen dürfte. Handelt es sich beim – wissenschaftlichen – Denken und Schreiben nicht um etwas ganz anderes als beim Fotografieren mit einer Kamera?

Der heute dominierende Standpunkt ist es, die Kamera als ein Instrument der Einbildungskraft zu erachten, als einen Apparat also, mit dessen Hilfe sich künstlerische Phantasien realisieren lassen. Kracauer stellt etwas anderes fest: „Schon in den frühen Tagen des Mediums wurden scharfsinnige Kritiker auf sie aufmerksam, indem sie die außergewöhnliche Fähigkeit der Kamera bewunderten, die sichtbare oder potentiell sichtbare physische Realität sowohl aufzuzeichnen als auch zu enthüllen.“ Zwar ist Kracauer bewusst, dass jede Kamera lediglich Ausschnitte der Wirklichkeit zu sehen gibt, Momentaufnahmen, Bruchwerk. Doch seien ihre Möglichkeiten, eine gegebene Wirklichkeit so zu erfassen wie sie tatsächlich aussieht, ungleich größer als diejenigen der Schrift.

Damit ist ein Ideal formuliert. Der Historiker und Schreiber solle ähnlich agieren wie ein Apparat, also sich und sein Weltbild zurücknehmen, um eine gegebene Wirklichkeit oder geschichtliche Zeugnisse gleichsam neutral zu registrieren. Dieses Ideal haben Marcel Proust oder Jacob Burckhardt in hohem Maße verwirklicht, die beide „auf die uneinheitliche Struktur der Welt mit der Genauigkeit eines Seismographen reagierten“.

Diese Feststellung dürfte ein geheimes Selbstporträt Kracauers enthalten, der in den 1920er Jahren mit unaufhörlicher Neugier auf Entdeckungsreise gegangen war. Bloß lag dessen unbekannte, zu erschließende Welt weder in der Ferne noch in der Vergangenheit. Vielmehr war es die Gegenwart seiner Stadt Berlin, deren Arbeitsämter, Notunterkünfte, Straßen, Orte er erkundete und beschrieb – dazu die Mentalitäten von neuen, großstädtischen Gesellschaftsschichten wie den Angestellten. Wobei Kracauer sich von allen anfänglichen expressionistischen und philosophischen Einflüssen löste, so dass sein Freund Ernst Bloch ihm „zunehmende Theorielosigkeit“ vorwarf. Darum handelte es sich aber nicht, sondern um ein neues Verständnis von Möglichkeiten der Literatur. Kracauer schrieb dokumentarisch, wofür es in Deutschland keine literarische und geistige Tradition gab. Er musste alles erst richtig lernen und erlernen.

Überspannung des Denkens

Hier nun müssen die im Untertitel des Geschichtsbuches genannten „letzten Dinge“ bedacht werden. History – The last Things before the last, so lautet der englische Originaltitel; es sind also die letzten Dinge vor den letzten Dingen gemeint. Was ein Ausdruck philosophischer Ironie ist. Denn Kracauers Buch rückt in das Zentrum allen Denkens gerade nicht die letzten Wahrheiten der Philosophie oder der Religion, sondern die Alltagswelt.

Die Motive für dieses Vorgehen sind zu seinem Lebensthema geworden. Das lässt sich anhand von Passagen in jenem Filmbuch von 1964 demonstrieren, welche betonen, die heutzutage herrschende Abstraktheit stünde dem Verkehr der Menschen mit den Dingen der realen Welt derart im Wege, dass man sich von dieser Abstraktheit zu befreien habe. Was mag das bedeuten? Hier griff Kracauer Gedanken wieder auf, die er als Chronist der zwanziger Jahre bereits dargelegt hatte. Damals konnte man etwa lesen: „Infolge der Überspannung des theoretischen Denkens sind wir dieser Wirklichkeit, die von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt, in einem entsetzenerregenden Maße ferngerückt.“ Überspannung des theoretischen Denkens. Es wird Kritik geübt an dem in den modernen Wissenschaften vorherrschenden Geist. Das haben viele Leute in Deutschland nicht besonders gern.

Offenbar auch Ingrid Belke nicht, die als Herausgeberin der Neuübersetzung des Geschichtsbuches fungiert. Sie gab dem Band umfangreiche und lehrreiche Dokumente bei, zudem betätigt sie sich im Nachwort auch als Kritikerin Kracauers. So etwa meint sie, bei diesem läge eine „gleichsam religiöse Haltung des Hinhörens auf die Dinge“ vor. Hinhören religiös? Es muss die Frage erlaubt sein, ob die Herausgeberin niemals etwas von Sigmund Freud gehört hat, in dessen Wissenschaft alles darauf ankommt, dass ein Analytiker Ohren (und Augen) öffne, um noch winzigste Details registrieren zu können. All das scheinbar Banale, Nebensächliche darf nicht übergangen werden, ist wichtig, um eine Situation besser zu verstehen. Genauso hat Kracauer es stets gehalten. Nur war ihm in seinen Romanen und sonstigen Schriften weniger an der Biographie eines Individuums als an der einer Gesellschaft gelegen. Ohne Kenntnis der scheinbar banalen, nebensächlichen Dinge des Alltagslebens, darf man folgern, kann kein gesellschaftlicher Vorgang zutreffend gedeutet werden.

In der Tat demonstriert das Kracauers Ansatz in die Nähe des Religiösen rückende Nachwort des Geschichtsbuches, wie entfremdet es im Wissenschaftsbetrieb zugehen kann, wenn jemand ernsthaft, jedoch nicht als Vertreter vom Fach nachdenkt. Doch hat Kracauer aktuelle Denker auf seiner Seite, etwa den Berliner Zeitforscher Wolfgang Kaempfer, in dessen Buch Der stille Sturm der Einfluss der Philosophie auf das Geschichtsdenken kritisiert wird. Dadurch, so Kaempfer, komme es beispielsweise zu der Behauptung, alle Erinnerung sei reine Konstruktion, bloße Erfindung also. Eine solche theoretische Zuspitzung habe jedoch wenig mit den Möglichkeiten menschlichen Erinnerns zu tun. Dass man Erinnerungen in Formen kleide, lasse sehr wohl die Möglichkeit punktuell realistischer Schilderung zu. Andernfalls könne alles Reden und Forschen über vergangene Ereignisse, auch jede Gerichtsverhandlung, umgehend eingestellt werden.

Von einem verwandten Standpunkt aus, hat Siegfried Kracauer dem Geschichtsdenken zahlreiche gangbare Wege abseits der Philosophie gewiesen. Aus diesem Grunde ist sein Buch von 1966 nach wie vor ein zeitgenössisches.

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