Papier für die Armen, Perón für die Arena

Wahl in Argentinien Ex-Präsident Menem weiß nicht nur Fußballgott Maradona auf seiner Seite

Nach anderthalb Jahren Amtszeit will Argentiniens peronistischer Übergangspräsident Eduardo Duhalde am 25. Mai seinem Nachfolger das Amt übergeben. Ein riskanter Zeitplan. Denn nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 27. April, bei der für keinen der Bewerber eine absolute Mehrheit erwartet wird, fällt ein zweiter Wahlgang erst auf den 18. Mai. Pikant an diesem Votum ist der Umstand, dass mit Carlos Menem ein ehemaliger Präsident antritt, der das Land bis 1999 zehn Jahre lang regiert hatte. Ihm wird von seinen Gegnern eine Mitschuld an der desolaten Wirtschaftslage gegeben. Menem, einst in schwere Korruptionsaffären verstrickt, war und ist es immer wieder gelungen, sich als liberaler Erneuerer zu verkaufen.


Die Calle Sarmiento liegt im Zentrum von Buenos Aires. Um sechs Uhr abends spiegelt sich gerade noch die frühherbstliche Sonne in den glitzernden Fassaden ausländischer Bankhäuser. Männer in Anzug und Krawatte strömen auf die Straße und winken einem der unzähligen schwarz-gelben Taxis. Einen Häuserblock weiter führt die Straße weiter hinunter zum Río de la Plata und damit auch zur Sporthalle Luna Park - an diesem Abend der Schauplatz für einen Auftritt von Carlos Menem, des derzeit aussichtsreichsten Bewerbers um die nächste Präsidentschaft. In baufälligen Bussen aus den fünfziger Jahren sind Tausende aus den Vororten der Kapitale herbeigeschafft worden. Die Hautfarbe der Menschen ist dunkler, viele kommen barfuß, manche ohne Hemd. Sie schwenken blau-weiße Fahnen, Transparente und Plakate mit den Herkunftsorten ihrer Träger: La Matanza, Avellaneda, Berazátegui - für die Banker aus der Calle Sarmiento Codes aus einer anderen Welt, die es unter allen Umständen zu meiden gilt.

Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, weshalb bei dieser Wahlkampagne im April 2003 ausgerechnet die Slums von Buenos Aires Carlos Menem enthusiastisch zujubeln. Schließlich war der 72-Jährige schon einmal Präsident und verfolgte dabei nicht eben eine Politik, die den Armen zugute kam. Vor 14 Jahren, als er sich zum ersten Mal um das höchste Staatsamt bewarb, hatte sich der Kandidat noch als klassischer Peronist gebärdet - ökonomischem Nationalismus und Anti-Imperialismus verpflichtet. Doch kaum an der Macht, begann er, die rigiden Strukturanpassungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) durchzusetzen. Er liberalisierte die Arbeitsgesetze, drängte die Gewerkschaften zurück und privatisierte genau jene Unternehmen, die Juan Perón, die sakrale Galionsfigur der peronistischen Bewegung, einst verstaatlicht hatte.

Wer seinerzeit von Menems Politik profitierte, lebte zumeist in der Oberschicht. Man sollte also glauben, seine Anhänger nicht nur im Luna Park, sondern auch in einem mondänen Restaurant auf der Avenida Santa Fe zu finden. Als dort zur Dinner-Zeit ein Menem-Spot im Fernsehen läuft, stößt das sofort auf einhelliges Missfallen. »Diesem Mafioso verdanken wir, dass Argentinien nicht mehr ist, was es war«, ereifert sich eine ältere Dame, »dass der wieder auftaucht - eine Zumutung.«

Menems Konkurrenten bei dieser Wahl haben es allerdings bisher auch nicht verstanden, einen wirklichen Ausweg aus der Misere des Landes zu weisen. Prompt wissen mehr als 50 Prozent der Argentinier eine Woche vor der Abstimmung noch nicht, für wen sie votieren sollen. Letzten Umfragen zufolge können die fünf profiliertesten Kandidaten (s. Übersicht und Interview) jeweils einen Stimmenanteil zwischen zehn und zwanzig Prozent erwarten. Damit wird eine Stichwahl unausweichlich.

Zur Normalität zurück

Neben Menem werden Néstor Kirchner, Gouverneur der Südprovinz Santa Cruz, die größten Chancen eingeräumt, auch wenn unklar ist, ob ihm die Protektion des jetzigen Staatschefs Eduardo Duhalde etwas nützt. Im Unterschied zu Menem setzt Kirchner weiter auf einen schwachen Peso, um die Agrarexporte zu stimulieren, sowie auf einen moderaten Nationalismus, mit dem er in den Verhandlungen mit dem IWF zu reüssieren gedenkt. In den mafiösen Netzwerken der politischen Klasse ist er ebenso unterwegs wie Carlos Menem.

Die Kommentare zur Wahl sind deshalb eindeutig: »Schrecken«, »Desaster« oder »Operette« sind die häufigsten Schlagworte. Dabei lebte das Land noch vor kurzem in der Hoffnung, der Krise könnte eine essentielle politische Erneuerung folgen. Als Ende 2001 die Regierung des Präsidenten Fernando de la Rúa (Radikale Partei/UCR) nach landesweiten Proteste abdanken musste, entstanden unzählige Bewegungen, die sich nach Jahren des Ausverkaufs und der Korruption als Alternative anzubieten schienen. Als »neue Art der Revolution« deutete die Globalisierungskritikerin Naomi Klein die Lage noch vor drei Monaten. Mittlerweile ist die Aufbruchsstimmung schwelender Resignation gewichen. Vor Jahresfrist gab es unter den Wahlberechtigten noch 20 Prozent, die trotz Wahlpflicht ungültige Stimmzettel abgeben wollten - heute sollen es noch fünf Prozent sein. Man will endlich zur Normalität zurück, und Carlos Menem scheint diesen Wunsch am besten aufnehmen zu können.

Von Beruf Peronistin

Wie er dabei vorgeht, lässt sich mit der Wahlveranstaltung im Luna Park recht anschaulich erleben. Ein symbolischer Ort, denn der Präsidentenpalast liegt nicht weit entfernt, vor allem aber hielt hier Juan Perón, neben sich seine legendäre Frau Evita, einst seine berühmten, aufrüttelnden Reden, die Argentinien veränderten. Am Rednerpult hängen denn auch kleine stilisierte Fotos des einstigen Caudillo. Als dann Bilder aus dem Leben Peróns auch noch auf einem riesigen Monitor erscheinen, bricht frenetischer Jubel aus. Trommeln geben einen monotonen Rhythmus vor, zu dem Tausende ein energisches »Viva Perón!« skandieren. Ein Lehrstück peronistischer Polit-Folklore, denn gleich nach Perón erscheint Diego Maradona auf dem Schirm, um als Argentiniens Fußballgott seinen Schulterschluss mit Menem bekannt zu geben. Wieder bebt die Halle, bevor der Kandidat selbst sein »Compañeras y compañeros!« ins Mikrofon schmettert. »Presente!« - hallt es zurück. Die Anhänger hüpfen rhythmisch auf den Rängen, der Lärm lässt Menem kurzzeitig verstummen und hinter einem Fahnenwald verschwinden. Dann setzt er von Neuem an: »Es gibt genügend Idioten, die Perón völlig falsch interpretieren«, ruft er in Anspielung auf seinen peronistischen Rivalen Kirchner, doch nur er allein habe 1972 Anweisungen des »großen Juan Perón« erhalten, wie das Land in Zukunft zu regieren sei. Mit messianischem Eifer verspricht er dann den Einsatz der Armee gegen Straßenkriminalität, auch die Wiedereinführung der Todesstrafe wird nicht ausgeschlossen, bald könnte es kostenlose Medikamente geben und 10.000 Kilometer Autobahn dazu - die Vision von der Auferstehung der vaterländischen Wirtschaft und dem besseren Leben für alle geistert durch den Saal.

Eine etwa 40 Jahre alte Menem-Jüngerin mit blond gefärbten Zöpfen und einer dicken Schicht Make-up auf dem Gesicht erklärt mir nach der Rede, sie sei »von Beruf Peronistin«. Mit ihren Compañeras komme sie von der unidad básica, dem peronistischen Partei- und Wohlfahrtslokal in La Matanza. Dort, im absolut ärmsten Wahlbezirk Argentiniens, habe der peronistische Kandidat zuletzt die Kommunalwahlen mit über 90 Prozent gewonnen. Auf die Frage, warum sie Menem wähle, wiederholt sie gebetsmühlenartig den Slogan: »Mit Menem hatten wir zu essen, mit Menem hatten wir Kredit.« Mein Argument, das heutige Wirtschaftsdesaster hänge auch mit Menems früherer Präsidentschaft zusammen, lässt sie nicht gelten lassen. »Die jetzigen Probleme gehen auf das Konto der Nachfolger!«

Gegen Ende der Veranstaltung flüstert mir eine andere Menem-Sympathisantin zu: »Sie müssen das verstehen. Die meisten Leute sind aus Verpflichtung hier. Ich bin arbeitslos und die einzige Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen, sind Gelegenheitsjobs, die von der unidad básica verteilt werden. Wenn ich hier fehle, gehe ich bei der nächsten Jobrunde leer aus.«

Nach zehn Uhr abends, als das Spektakel vorüber ist, wird der größte Teil des Menem-Anhangs an die Banlieue zurückgebracht, während die Ärmsten der Armen in die Gegenrichtung ziehen. Sie nennen sich cartoneros und sammeln jede Nacht schweigend Papier und Kartons, um durch ein paar Centavos ihr Überleben zu verdienen. Nicht weit vom Luna Park, auf der Avenida Corrientes, reißt ein Junge ein Wahlplakat von Néstor Kirchner herunter. Auch das ist schließlich Papier.


Prognose für den ersten Wahlgang (in Prozent)

KandidatGruppierungWert

Carlos Saúl MenemFrente de la Lealtad / Peronist18,5

Néstor KirchnerFrente para la Victoria / Peronist16,8

Ricardo López MurphyMovimiento Federal Recrear.16,3

(Früher: Radikale Partei/UCR)

Adolfo Rodríguez SaáMovimiento Nacional y Popular /15,1

Peronist

Elisa CarrióAcción por una República de12,6

Iguales, Abspaltung der Radikalen

Partei (UCR)

Quelle: Ipsos - Mora y Araujo, La Nación, 17. April 2003

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