Zwei Sprengkörper soll Richard Reid in seinen Turnschuhen deponiert und versucht haben, die Ladung am 22. Dezember 2001 an Bord einer Boeing 767 zwischen Paris und Miami mit einem Streichholz zu zünden. Bei einer Verurteilung drohen dem von US-Medien "Schuh-Bomber" getauften Reid bis zu 20 Jahre Haft. Noch immer ist unklar, ob es sich bei dem seit seiner Geburt in England lebenden Jamaikaner um einen Einzeltäter handelt oder Verbindungen zum terroristischen Untergrund bestehen.
Die Moschee des Südlondoner Stadtteils Brixton residiert in einem unscheinbaren viktorianischen Reihenhaus. Sie hat kein Minarett und hebt sich durch nichts von den Häusern der Umgebung ab. Ein karges Schild neben den Stufen zum Eingang bedeutet dem Besucher, dass es sich um ein Gotteshaus handelt. Seit bekannt wurde, dass zwei mutmaßliche islamische Terroristen hier viel Zeit verbracht haben sollen, übt die Brixton Mosque eine magische Anziehungskraft auf die britische Presse aus. Richard Reid - bekannt als "der Schuhbomber" - und Zacarias Moussaoui - am 11. September angeblich als 20. Flugzeugentführer vorgesehen - sollen hier in der Gresham Road ein- und ausgegangen sein.
Brixton-Moschee "Brutkasten für Abarten des Islam" - Realität und Mythos
Muhammed Yussuf, verantwortlich für die Auslegung des Koran in der Brixton Mosque, erklärt im Gebetsraum mit melodramatischer Stimme und heftigen Gesten die Vorzüge seines Glaubens gegenüber anderen Religionen. Der grüne Teppich, auf dem er gerade sitze, sei Zeuge, dass er nichts als die Wahrheit über den Islam verkünde. Als das Gespräch allerdings die Welt der Politik draußen vor dem Tempel berührt, wiegelt er ab: "Wenn ich heutzutage Nachrichten sehe, spüre ich, nichts davon zu verstehen. Mohammed hat uns gesagt, man dürfe niemals über Dinge sprechen, von denen man nichts wisse ..."
Kurz nachdem Richard Reid im Dezember versucht haben soll, auf dem Flug von Paris nach Miami eine Bombe zu zünden, gab die Brixton Mosque eine Erklärung ab: "Reid und Moussaoui vertreten Auffassungen, die unserem Glauben diametral entgegengesetzt sind. Extremisten, die weiterhin solche Ansichten propagieren, wird unsere Gemeinde nicht dulden." Das hinderte die Presse nicht daran, den Heiligen Ort als "Brutkasten für Abarten des Islam" zu beschreiben.
Es war kurz nach dem 11. September, als sich britische Muslime kurzzeitig einer Sturzflut des Hasses zu erwehren hatten. In Westlondon wurde ein afghanischer Taxifahrer zusammengeschlagen, der seitdem vom Hals abwärts gelähmt ist. Die Polizei vermutete seinerzeit sofort, es habe sich um einen Racheakt für die Anschläge von New York gehandelt. In Southend-on-Sea, 80 Meilen östlich von London, wurde ein Brandsatz in einer Moschee entdeckt, deren Wände mit rassistischen Sprüchen beschmiert waren. In Swindon verhaftete die Polizei zwei weiße Jugendliche unter dem Verdacht, eine 19-jährige Muslimin mit einem Baseballschläger krankenhausreif geschlagen zu haben.
Als Aufregung und Hysterie abklingen wollten, kam der Fall "Richard Reid und die Brixton Mosque", und die Angst vor islamistischer Gewalt konnte sich zusätzlich auf das zwielichtige Image eines Viertels berufen, das seine Bewohner nicht unbedingt mit einem Karrierebonus versorgt. In den Augen der Londoner Mittel- und Oberschicht gibt es in Brixton alles, wovor man sich fürchten muss: hohe Kriminalitätsraten, ein obskur-irrlichterndes Nachtleben, Drogen, Schwarze, Muslime - mit einem Wort Quai South West. Der liberale Observer entdeckte die "Brixton connections" von al-Qaida und insistierte, hingebungsvoll fragend: "Wie war es möglich, dass so viele bedeutende al-Qaida-Figuren in Großbritannien unbehelligt arbeiten konnten, nachdem ihnen politisches Asyl gewährt wurde. Ist die britische Politik der aufmerksamen Toleranz das Leck?" Der Unterton befindet: ja.
Derzeit soll das Innenministerium darüber nachdenken, für jamaikanische Staatsbürger eine Visumpflicht einzuführen, nachdem Phil Sinkinson, der Hochkommissar für Jamaika, im Januar wissen wollte, jeder zehnte Passagier der Flüge von Kingston nach London schmuggle Kokain oder Crack, und die Londoner Polizei mit der Auskunft nachlegte, sie glaube, die Hälfte des in England verkauften Cracks stamme aus Jamaika. Sollte Innenminister David Blunkett mit dem Visumzwang Ernst machen, wären davon etwa 400.000 Jamaikaner betroffen, die regelmäßig Verwandte im Vereinigten Königreich besuchen.
Auf jeden Fall ist Brixton die größte jamaikanische Stadt in England, etwa 40 Prozent der Bevölkerung des Quartiers sind schwarz. Die meisten kamen in den fünfziger und sechziger Jahren auf der Suche nach einem Job, den sie im mäßig bezahlten Dienstleistungssektor fanden oder nicht. In die Schlagzeilen geriet die Gegend, als Proteste gegen den Rassismus in der Polizei 1981 und 1985 zu blutigen Straßenkrawallen führten. Bis heute halten die Schwarzen und Weißen Brixtons Distanz zueinander und leben auf Abstand.
Angst einflößend und sexy
Das Gebäude der Effra Hall, eines Pubs, der sich rühmt, schwarze und weiße Klienten gleichermaßen anzusprechen, thront weithin sichtbar über den gedrungenen viktorianischen Häusern ringsum, fünf Minuten Fußweg sind es bis zur Brixton Mosque. Der Tresen in der Mitte des Pubs teilt den Raum fein säuberlich in zwei Hälften. Und er trennt auch zwischen schwarz und weiß.
"Es ist verrückt", meint Victoria Room, eine 23-jährige Studentin aus der weißen Hälfte. "Ich bin es gewohnt, dass es Pubs für Schwarze und Pubs für Weiße gibt, aber eine solch merkwürdige Form selbst auferlegter Segregation habe ich noch nie erlebt." Seit einem halben Jahr wohne sie gleich neben der Effra Hall, "man gewöhnt sich daran, dass Schwarze und Weiße aneinander vorbei leben". Angst, in Brixton nachts allein unterwegs zu sein, kenne sie nicht. Die Kriminalitätsstatistik der Polizei belege ja schließlich, dass Weiße fünf Mal seltener Opfer von Gewaltverbrechen würden als Schwarze.
Mit den neunziger Jahren sind auch in diesem Quartier die Mieten drastisch gestiegen, sie zahle 250 Pfund für ein elf Quadratmeter großes Zimmer und liege damit noch unter dem Durchschnitt, erzählt Victoria. Die arme Bevölkerung wird so noch weiter hinaus und in die Londoner Peripherie ohne U-Bahn-Anschluss abgedrängt, während sich junge Bankangestellte zunehmend mit der Postleitzahl SW9 - für das Zentrum von Brixton - auf ihrer Visitenkarte schmücken. Freitag- und Samstagabend überschwemmen Teenager aus den besseren Vierteln die kommerzialisierten Clubs auf der Coldharbour Lane. Der verruchte Klang des Labels Brixton will genossen sein.
Zuletzt bemühte sich Regisseur Richard Parry mit seinem Spielfilm South West Nine, die Westlondoner Upper Class ein wenig aufzuschrecken. Er zeigte hauptsächlich, wie bunt gekleidete Mid-Twens gut gelaunt die verschiedensten Drogen konsumieren und in multikulturellem Miteinander auf die kreativsten Gedanken kommen. Und weil es nun einmal Brixton war, ließ Parry auch einen Hauch Gangster-Grusel durch seine Geschichte wehen. Plakate in der U-Bahn bewarben den Film mit dem Spruch, er sei "genauso Angst einflößend und sexy wie Brixton selbst".
Mit dem ostentativen Purismus der Handkamera zurrte der Regisseur einmal mehr gängige Klischees fest: Brixton ist zugleich hip, groovy und krimineller Sumpf. Ganz Komplizin der Promotion kolportierte die Presse erregt Parrys Beschwerde, dass Drogendealer auf der Coldharbour Lane Todesdrohungen gegen sein Team ausgestoßen hätten, falls es weiter auf offener Straße filmen wolle. Man muss dazu wissen, jenseits von Richard Parry und seiner Tapferkeit wird fast jeder Schritt in Brixton von Überwachungskameras verfolgt.
Brixton-Moschee "An den Jüngsten Tag denken" - Schnitt und Klappe!
Gleich gegenüber der Moschee von Muhammed Yussuf (und Richard Reid) liegt das Revier der Metropolitan Police, aus dem Kameras ihre Fühler in alle Richtungen strecken. Die Moschee habe seit dem 11. September großen Zulauf gehabt, erinnert sich Yussuf. Der Islam sei doch das Einzige, was den jungen Leuten in dieser verwirrten Zeit noch Halt gebe. Zur Frage der Gewalt will er sich nicht eingehender äußern und meint nur: "Der Koran erlaubt, dass man sich selbst verteidigt, wenn man angegriffen wird." Das lasse sich aber weder auf Richard Reid noch auf Zacarias Moussaoui oder die tägliche Realität Brixton anwenden. Man müsse "an den Jüngsten Tag denken und das Fegefeuer für alle", die den wahren Glauben noch nicht gefunden hätten.
Nach dem Verlassen der Moschee, ein Stück weiter nach Süden auf der Brixton Road, hört man plötzlich hektische Schritte: Ein Mann rennt über den Gehsteig, stößt Passanten um, einige blicken sich erschrocken um. Er hat offensichtlich eine Handtasche erbeutet, doch ein Opfer ist nicht auszumachen, es beschwert sich auch niemand. Die Szene erregt nur wenig Aufmerksamkeit. Nachdem er in die Coldharbour Lane eingebogen ist, verlangsamt sich sein Schritt, bis man schließlich eine Frauenstimme rufen hört: "Cut!" Der Mann bleibt stehen, er hat das Blickfeld der Kameras verlassen. Die Klappe fällt - Realität und Mythos haben es wieder einmal miteinander versucht in Brixton.
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