Quint Buchholz hat zu Benjamin Prados erstem Jugendbuch Was glaubst du eigentlich, wer du bist? ein sehr schönes Cover gemalt. Es zeigt ein Seestück - wenig Strand, viel Himmel -, auf dem ein Ozeandampfer dahinfährt und offensichtlich die Küste ansteuert. In dieses Bild sind übereinander drei weitere, immer kleiner werdende Bücher mit verschiedenfarbigen Rücken gemalt, durchsichtig zwar, doch mit neuen Details, so dass sie dem Bild gleichzeitig etwas nehmen und hinzufügen. In diesem Cover ist Prados Buch als Schachtelerzählung auf wundersame Weise eingefangen, es ist deren malerische Entsprechung.
An Bord des Schiffes dürfen wir den fünfzehnjährigen Ich-Erzähler vermuten, der nach dem Tod seines Vaters, zu dem er eine sehr eng
e sehr enge Beziehung hatte, eine völlig neue Erfahrung macht: "Jeder Ort, wo du hinkommst, ist ein verlassener Ort. Und du entdeckst zu früh, dass jeder Verlust aus dir einen anderen Menschen macht. Jedenfalls war es FÜR MICH so. Danach geschah all das andere . Danach glaubte ich, mein Name sei Stevenson und ich wäre in Thailand. Davon werde ich euch erzählen. Und außerdem, wie ich an Bord dieses Schiffes gekommen bin."Der Junge ist ein Einzelgänger, ein Feigling, der sich nichts zutraut, immer wieder den Schikanen und Quälereien einer Jugendbande ausgesetzt. Aber am Ende wird er sich genug Mut angelesen haben, dass er deren Anführer "eins aufs Maul" gibt. Jedenfalls behauptet er das. Am Ende fließen Wunsch und Wirklichkeit unauflösbar ineinander. Und sollte der Junge nur in seiner Fantasie in Thailand gewesen sein, nun: "Manchmal ist der Ort, wo du nie gewesen bist, der schönste, an dem du jemals warst."Eines Nachts hat er auf dem Schreibtisch seines Vaters ein Buch mit dem Titel: "Was glaubst du eigentlich, wer du bist?" gefunden. Damit hat er sozusagen die zweite Schachtel geöffnet. Mit ihm als Leser lernen wir einen gleichfalls fünfzehnjährigen Jungen kennen, der wiederum in der Ich-Form erzählt. Er nennt sich Stevenson und ist ein ebenso süchtiger Leser wie der namenlose Junge. Seine Lieblingsautoren sind Jack London, Rudyard Kipling, Joseph Conrad und natürlich Robert Louis Stevenson. Dazu ein gewisser Alberto Turpín.Stevenson, "in der Hoffnung, dass du glauben kannst, was ich dir zu erzählen habe", kommt in den Besitz eines Koffers, in dem er unter anderem einen Schlüssel und wiederum ein Buch findet. Es trägt den Titel "Die Tür mit den drei Schlössern" und ist geschrieben von Alberto Turpín, dem nunmehr dritten Ich-Erzähler. Der fordert Schweres: "... wenn du auch nur ein Wort dieser Geschichte nicht glaubst, sind wir alle verloren."Turpín, ein Spanier wie Prado, hat sich auf der "Capitán Cartagena" eingeschifft und ist unterwegs nach Odense, der Geburtsstadt Hans Christian Andersens. Er beginnt, an einem neuen Roman zu schreiben, der seine eigene Reise schildert. Kernstück des Buches ist schließlich ein Traum, in dem Turpín in Dickens' Geburtshaus die Schriftsteller Andersen, Dickens und Walter Scott trifft. Sie behaupten, dass ihre Werke Die kleine Meerjungfrau, Oliver Twist und Ivanhoe ursprünglich negativ endeten. Diese unveröffentlichten Urfassungen hätten sie in einer Art Tresor mit drei Schlössern hinterlegt. Die Schlüssel dazu seien schließlich alle in Andersens Besitz gekommen. Im Lauf der Jahrzehnte und infolge krimineller Machenschaften zweier Professoren seien sie aber auseinander geraten, so dass die Manuskripte immer noch an ihrem Platz lägen.Benjamin Prado liefert hier ganz umstandslos ein Plädoyer fürs Happy End. Niemals wieder, lässt er Dickens verkünden, wolle der seine Bücher dazu benutzen, den Lesern ihre Hoffnung zu rauben. Wahrheit und Gerechtigkeit sollten siegen. Auch wenn das, derart verkürzt, sehr naiv klingt, spricht ja wirklich manches dafür. Dann nämlich, wenn das Happy End nicht bloßer Zuckerguss ist, sondern in ihm sich eine Korrektur schlechter Wirklichkeit verbirgt, Hoffnung als "Prinzip Hoffnung" verstanden werden kann, über alles Triviale hinaus.Lesen, so unterstellt Prado, ist eine Reise durch ein Buch, eine Reise durch eine Geschichte, in der Fiktion und Wirklichkeit eins geworden sind. Das Lesen selbst ist ein Abenteuer, der Leser ein Abenteurer. Prados kleiner Roman ist der Versuch, relativ abstrakte Erkenntnisse über die Rezeption von Literatur, und zwar im Augenblick des Lesens, in eine konkrete Geschichte umzusetzen.So ist Was glaubst du eigentlich, wer du bist? auch ein Buch über das Abenteuer Schreiben geworden. Ein ziemlich vertracktes, seine drei Erzählebenen immer wieder verschachtelndes, zum Ende hin etwas kurzatmiges Buch. Das man aber durchaus spannend finden kann. Auch da noch, wo die Konstruktion gelegentlich störend vor die Geschichte tritt. Und obwohl der Autor eine Menge voraussetzt, zumindest für jugendliche Leser.Benjamin Prado: Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Aus dem Spanischen von Katrin Fieber. Hanser Verlag, München 2000, 144 S., 26.- DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.