Das wissen wir doch alle, dass wir diese Flügelansätze an den Schulterblättern haben. Wir sind alle verhinderte Engel oder Engel im Wartestand. Und wenn uns Flügel wüchsen, könnten wir fliegen und wären der Not enthoben, wo sie am größten ist. Und wenn wir nicht selber fliegen, kann es sein, dass wir uns nach einem Engel sehnen. Und wenn wir bei jemandem diesen Flügelansatz oder sogar zusammengefaltete Flügel ertasten, wie Michael bei Skellig, wären wir nicht abgeneigt, ihn für einen Engel zu halten.
Ein Umzug ist fast immer ein Einschnitt im Leben, manchmal ein Abenteuer. Jedenfalls, wenn das neue Haus äußerst renovierungsbedürftig ist und der große Garten eine Wildnis, die der Rodung bedarf. Jedenfalls f&
enfalls für einen Jungen in Michaels Alter (um die 12, denke ich). Selbst wenn er in die alte Schule gehen darf. Was er in diesem Frühjahr nicht immer tut - auch wenn sie ihn dann dort beim Fußball vermissen.Frühjahr, Aufbruch. Das Neue könnte locken. Stattdessen nistet sich Angst ein, Angst um das Baby, die zu früh geborene kleine, noch namenlose Schwester. Von dieser Angst erzählt der englische Autor David Almond in seinem ersten Kinderbuch Zeit des Mondes auf zwei ineinander verschränkten Ebenen. Die eine real, die andere irreal zu nennen, griffe zu kurz.Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich ist oder ob es ein Traum ist, sagt Michael, der uns die Geschichte erzählt, einmal (und es ist nicht das einzige Mal, dass er sich darüber Gedanken macht). Und Michaels neue kluge Freundin Mina antwortet: Das macht doch nichts. Wirklichkeit und Träume geraten ständig durcheinander.Die Rede ist von Skellig (so auch der Originaltitel des Buches), den Michael in der baufälligen, mit Schutt, Müll und Trödel vollgestopften Garage gefunden hat, bald nach dem Einzug. Die Neugier hatte ihn hineingetrieben, die Neugier, die dem Verbot folgt. Nicht betreten hätte er sie sollen wegen der Einsturzgefahr, diese so genannte Garage, in deren hinterem Teil, zwischen alten Teekisten, er diesen dürren, bleichen Mann im Anzug entdeckt hat, der gegen die Wand gelehnt sitzt, weil er, von Arthritis geplagt, nicht mehr aufstehen kann; der zunächst nur wenige Wort herausstößt, sich von Schmeißfliegen und Spinnen ernährt, aber auch die Reste des chinesischen Essens nicht verschmäht, die Michael ihm bringt, und sich Aspirin, später Bier wünscht, das der Junge ihm in den Schlund gießt.Allmählich wird er etwas mehr erzählen, zum Beispiel von dem alten Mann, der in dem Haus, das Michaels Eltern gekauft haben, gewohnt hat und gestorben ist - von sich nichts. Irgendwann werden Michael und Mina ihn nachts in das alte, leerstehende Haus schleppen, das Mina von ihrem Großvater geerbt hat. Da wird er ihnen seinen Namen sagen, da werden ihn die Käuze auf dem Dachboden füttern, als seien sie seinesgleichen, und das ist vielleicht auch so. Denn Skellig hat Flügel. Und Mina weiß gleich, dass er außergewöhnlich ist, aber auch Michael und sich selbst, beide zusammen, wird sie außergewöhnlich nennen, so wie Michaels Vater sie außergewöhnlich nennt.Aber Mina ist wirklich außergewöhnlich. Sie lebt mit ihrer Mutter (ihr Vater ist vor ihrer Geburt gestorben) allein in einem Haus ganz in der Nähe. Sie geht nicht zur Schule, sondern wird von ihrer Mutter unterrichtet und weiß das auch zu begründen: Schulen, so glaubt sie, hemmten die natürliche Neugier, das Schöpferische und die Intelligenz der Kinder. Mina, klein mit rabenschwarzen Haaren, hat Augen, bei denen man glaubte, sie könnten durch einen hindurchsehen, weiß eine Menge über die Evolution, die Michael gerade in der Schule durchnimmt, viel auch über Vögel, Amseln und Waldkäuze beispielsweise, aber auch den Archäopterix, kann töpfern und lehrt Michael das genaue Hinhören, so lange, bis er das Piepsen der Amseljungen im Nest erlauscht. So gut, dass er später das Schlagen eines zweiten Herzens in sich spürt, des Herzens seiner kleinen Schwester, und sich quasi zu deren Schutzengel macht. Denn die muss wieder ins Krankenhaus, in den Brutkasten, wird schließlich am Herzen operiert.Minas Motto ist: Wie kann ein Vogel, der zur Freude geboren ist, in einem Käfig sitzen und singen? Das ist ein Wort von William Blake, den sie und ihre Mutter häufig zitieren. Blake, der gesagt habe, wir seien von Engeln und Geistern umgeben, wir müssten unsere Augen nur ein bisschen weiter aufmachen, nur ein bisschen genauer hinsehen. Blake, der geschrieben hat: Das Kind, das unseren Atem atmet. Das ist Liebe. Liebe ist das Kind, das den Tod noch aus dem Tod vertriebe. Aber das zitiert ein reichlich skurriler Arzt im Krankenhaus, ein Arthritis-Fachmann, bei dem sich Michael Rat wegen Skellig geholt hatte. Blake scheint allgegenwärtig. Englischen Lesern mag er ein Begriff sein, vielen deutschen als Erfindung durchgehen: dieser visionäre Schriftsteller und Illustrator eigener Bücher (1757-1827), den die Symbolisten wieder entdeckten. Gleichviel - von ihm hat sich Almond offenbar inspirieren lassen. Bis hin zu jenem Moment, in dem auch Michaels Mutter den wieder zu Kräften gekommenen Skellig sieht, im Krankenhaus, in der Nacht vor der Operation, die dem Baby das Leben rettet. Den Schutzengel hinter Michael.Was bist du? fragt Michael Skellig, bevor der fort geht. Und Skellig antwortet: Irgend etwas. Etwas wie du, etwas wie ein Tier, etwas wie ein Vogel, etwas wie ein Engel. So etwas in der Art..Eins hakt ins andere. Man muss Skellig wohl als Projektion sehen. Tatsächlich ist Almonds Geschichte ein poetischer Entwurf, der in Bildern emotionale Prozesse beschreibt, auch reflektiert, durchgehend ziemlich suggestiv geschrieben, manchmal ein bisschen penetrant und überdeutlich, manchmal für mein Empfinden an der Kitschgrenze balancierend, sie auch überschreitend. Mit Traumkonstruktionen, in denen Almond Motive zu surrealen Geschichten versammelt, wie sie nur in Büchern (und Filmen) geträumt werden. Eine Geschichte zwischen Traum und Tag, Lachen und Weinen, Angst und Hoffnung, die die Fantasie als Teil der Realität in ihr Recht setzt.David Almond: Zeit des Mondes. Roman. Aus dem Englischen von Johanna und Martin Walser. Ravensburger Verlag, Ravensburg 1999, 176 Seiten, 24.80 DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.