1
Ich will hier eine Weile über die Andere Gesellschaft nachdenken, von der immer mehr Menschen glauben, sie sei notwendig und müsse herbeigeführt werden. Die Geschichte, so sagen diese Menschen, zu denen ich mich selbst zähle, sei eben doch noch nicht zu Ende, wie dies 1990 vorschnell behauptet wurde; jetzt zeige die Weltfinanzkrise, dass man schon viel früher mit dem Nachdenken über das ganz Andere hätte beginnen sollen.
Wie kann man darüber nachdenken? Am besten indem man darüber redet, ist die erste Antwort, weil dann andere zuhören, mitreden, das eigene Nachdenken auf eine breitere Basis stellen, natürlich auch korrigieren. Die zweite Antwort ist, dass es, wenn wir von der Anderen Gesellschaft reden, nicht nur um eine Hoffnung geht. Diese Hoffnung bliebe kraftlos, redeten wir nicht über die Probleme, die heute untrennbar mit der Vorstellung der Anderen Gesellschaft verbunden sind.
Denn sie wurde jüngst schon einmal versucht, und was herauskam, war nicht befriedigend. Bei vielen war es eben diese historische Enttäuschung, die dazu führte, dass sie nicht noch einmal ihre Energie in eine Hoffnung zu investieren wagten. Wer heute über die Andere Gesellschaft nachdenkt, muss sich unweigerlich mit diesem ersten Versuch befassen, auch wenn er vielleicht lieber nur "nach vorn denken" würde. Denn er muss sich fragen, ob etwa diejenigen recht haben, die behaupten, der Weg in eine Andere Gesellschaft könne immer nur auf dieselbe Weise enden wie beim ersten Mal.
Man kann dieser Behauptung nicht rundweg die Plausibilität absprechen, wenn sie sich als Polemik gegen Menschen versteht, die weiterhin im Werk von Karl Marx eine Fundstelle oder den Schlüssel zum Begreifen des Wegs in eine Andere Gesellschaft sehen. Die Frage, ob Marx für die Entwicklung hin zum realen Sozialismus einschließlich des Stalinismus verantwortlich gemacht werden kann, ist unumgänglich. Sie ist auch fruchtbar. Denn Marx war ein Theoretiker: Wenn diese Frage gestellt wird, ist ein Raum der theoretischen Durchdringung des Gangs eröffnet, den die Geschichte der realsozialistischen wie unserer eigenen Gesellschaft genommen hat und sich anschickt, noch weiter zu nehmen. Womit allerdings nicht behauptet werden soll, als Theoretiker sei allein Marx interessant.
Im Gegenteil: Wenn wir den theoretischen Raum betreten, steht die Marxsche Theorie auf dem Prüfstand. Vielleicht kommt man zu dem Schluss, sie müsse gänzlich ad acta gelegt werden. Oder man findet weiterführende neben überholten Theorie-Elementen. Marx auszublenden wäre jedenfalls unredlich. Auch wer "nur" über ökologische Alternativen oder emanzipatorische Netzwerke nachdenkt, müsste sich das sagen, denn die Marxsche Behauptung, alle noch so gut gemeinten Alternativen müssten stets von Neuem am Kapitalismus scheitern, steht nun einmal immer noch im Raum, sie hat nicht ausgerechnet in der Finanzkrise an Plausibilität verloren.
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Man muss auch fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich über die Andere Gesellschaft im Voraus Gedanken zu machen. Manche sagen, besser sei es, sich nur auf Prinzipien des Wegs zu ihr zu einigen und alles Sonstige der selbstbestimmten Tat der Beteiligten zu überlassen. Denn wer die Elemente des Neuen konkret ausmale, fordere praktisch zur Unterordnung unter sie auf, handle also autoritär. Ich teile die Auffassung nicht. Sicher soll die Bestimmung dieser Elemente nicht von einer Stelle aus erfolgen, sondern an vielen Orten. Aber dann müssen Vorschläge zur Debatte gestellt werden, und ein Austausch muss beginnen. Möglichst viele sollten ihre Beiträge zur Konstruktion einer Anderen Gesellschaft veröffentlichen, damit alle Interessierten auf Vieles zurückgreifen können.
Überhaupt ist "zurückgreifen" ein wichtiges Stichwort. Es ist geschichtliche Erfahrung, dass in Momenten politischer Umwälzung auf Beiträge zurückgegriffen wird, die schon seit einiger Zeit vorliegen. Weil die Zeit dann immer auch drängt. Es wäre zu spät, würde Grundsätzliches dann erst entdeckt, begänne dann erst eine Debatte darüber; vielmehr hat ein solcher Moment den Charakter eines Zeitfensters, in dem das Grundsätzliche schnell umgesetzt werden muss.
3
Worauf richtet sich die Hoffnung, welche Probleme sind aufgeworfen? Was ist "grundsätzlich"? Mit welcher ersten Frage fangen wir an?
Für mich ist die Ausgangsfrage die, ob sich das gefährliche Chaos, das die kapitalistische Produktionsweise ökonomisch in Abständen, ökologisch in zunehmender Progression anrichtet, durch gesellschaftliche Selbstbestimmung in den Griff bekommen lässt - ohne dass die gesellschaftliche Komplexität, die Dynamik, die Freiheit darunter leiden -, wobei ich unter "gesellschaftlicher Selbstbestimmung" die Selbstbestimmtheit einer Gesamtheit von Individuen, ja von "Individualisten" verstehe. Ich will die Frage der Anderen Gesellschaft keineswegs auf diese ökonomisch-ökologische Dimension verkürzen, halte sie aber für grundlegend, jedenfalls für konstitutiv.
Mit ihr sind wir in den Problemen schon mitten drin. Denn eine gängige Antwort lautet ja, wer eine Gesellschaft von Individualisten wolle, könne nicht gleichzeitig eine Andere Gesellschaft erstreben, weil Individualismus und Kapitalismus untrennbar voneinander seien. Besonders wenn noch der Ausdruck "Kapitalismus" durch den Ausdruck "freie Marktwirtschaft" ersetzt wird, ist das eine Auskunft, die hochplausibel scheint. Und nun glaubt man doch, Marx habe nicht nur diese Antwort bekämpft, sondern schon die Frage nach ihr. Er habe nicht nur den Kapitalismus, sondern ineins damit auch den Individualismus ersetzen wollen - die Ausdrücke scheinen es schon anzuzeigen: - durch "Sozialismus", "Kommunismus".
Das ist ein Irrtum. Man soll sich - laut Marx! - einen "Kommunismus" vorstellen, der weiter nichts als eine Assoziation freier Individuen wäre, die ihre Freiheit als ihr Recht betrachten und praktisch zur Geltung bringen, die also Individualisten sind. Wobei es diesen Menschen aber gelänge, ökonomisches Chaos, ökologische Destruktion und alle sich damit verbindende Ungerechtigkeit gemeinsam in den Griff zu bekommen und schrittweise zu beseitigen.
Eine krassere Form, sich der Anderen Gesellschaft als eines Problems bewusst zu sein, wird es kaum geben.
Wurde Marx im realen Sozialismus, der gewiss keine auf Individualismus gegründete Gesellschaft war, nur missverstanden? Wahrscheinlich nicht. Nicht in jeder Hinsicht! Aber vielleicht gerade im Grundsätzlichsten? Der DDR-Dichter Stephan Hermlin hat das geglaubt. In seinem 1979 veröffentlichten Prosaband Abendlicht macht ein ungefähr Fünfzigjähriger "eine unheimliche Entdeckung":
"Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren" - Hermlin spricht von seiner Marxlektüre -, "befand sich einer, der folgendermaßen lautete: 'An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: '... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.'"
In der Tat, das war Marx' Programm. Allerdings hat der von Hermlin erst falsch, dann richtig zitierte Satz noch keine große Beweiskraft, denn er ist sinngemäß von Rousseau übernommen und diente nicht nur Marx, sondern auch dem Liberalismus zum Leitfaden. Aber Marx war es ernst damit. Der Beweis ist, dass er daran weiterdachte. In den Grundrissen (dem Rohentwurf zu seinem Hauptwerk Das Kapital) formuliert er den Gegensatz von kapitalistischer und kommunistischer Ökonomie folgendermaßen: "Der private Austausch [...] steht im Gegensatz [...] zu dem freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind [...]." (S. 76 in der gängigen MEW-Ausgabe.)
"Privat" sind die Akteure im kapitalistischen Warentausch, "Assoziation" bezeichnet die kommunistische Alternative. Marx sagt also, einen privaten Individualismus gebe es zwar und er präge die Akteure im Kapitalismus, aber Individualismus sei nicht das Gleiche wie Individualismus. Und Austausch nicht das Gleiche wie Austausch. Das klingt, als ob er gar kein Gegner der "Tauschgesellschaft" gewesen ist.
Das Gegenteil des Privaten ist der nicht private Individualismus - eine wahrlich feine Unterscheidung! Wer darauf kommt, muss vorher viel nachgedacht haben, und es muss ihm am Herzen gelegen haben. Aber so fein ist die Unterscheidung gar nicht, sie ist es nur im Moment ihrer Entdeckung. Es kommen ja neben privaten Individuen auch private Kollektive vor. Eine Nation zum Beispiel, die nur für sich selbst sorgt und den Hunger in anderen Nationen ausblendet, ist eine private Nation. Oder nehmen wir eine Aktiengesellschaft, die von der "Privatisierung" profitiert: So spricht man nicht nur deshalb, weil Gewinne an Individuen ausgeschüttet werden, sondern auch weil die Aktiengesellschaft als Gesellschaft Sonderinteressen hat. "Privat" heißt nicht "individuell", sondern "abgesondert". Daher gilt umgekehrt, dass "individuell" nicht "privat" heißen muss.
Wir lesen weiter: "Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt." (S. 513 f.)
Was kann das sein: ein nicht "privates", sondern "assoziiertes" Individuum, das in gesellschaftlicher Verantwortung agiert - sogar dann, wenn es als homo oeconomicus auftritt - und gleichwohl für sich als Individuum frei ist? Ist das auch nur logisch möglich? Ist es praktisch möglich? Warum gelang es nicht beim ersten Anlauf? Warum wurde es nicht einmal angestrebt? Eine gute Hoffnung ist es auf jeden Fall.
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22:06 19.02.2009
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Geschrieben von

Kommentare 40
Lieber Herr Jäger,
Sie sprechen so viele Themen an, dass ich Mühe habe, Ihnen zu folgen, ich picke mir also etwas heraus und das ist die Überschrift Ihres Blog, und ich antworte auch nur kurz. "Eine andere Gesellschaft" - benennen Sie doch ruhig kurz und konkret den Mangel, den Sie in unserer Gesellschaft empfinden, der müsste ja der Auslöser Ihrer Gedanken sein und der erschöpft sich doch nicht in der Beobachtung, dass das kapitalistische Finanzsystem hälftig irreale Profite verbucht hat und es künftig darum geht, wer die gute Hälfte bekommt?
Mit einer anderen Gesellschaft verbinden Sie, soviel merke ich bis jetzt doch schon, einen wirtschaftlichen Kurswechsel, Sie hätten sonst Marx nicht herangezogen und nicht vom Kapitalismus gesprochen. Sie wollen nicht autoritär sein, warnen vor unseren geschichtlichen Erfahrungen mit dem autoritären Sozialismus, die Sie nicht wiederholen möchten. Sie wünschen sich aber gleichzeitig einen Kanon von möglichst breit diskutierten Zielen - ich vermisse neben einer Skizzierung des Mangels ebenso eine Anerkennung bestehender Werte.
Also für mich ergibt sich schon aus etwas sehr Konkretem, den ersten Artikeln des Grundgesetzes, ein permanentes Recht auf Veränderung. In dem ich anfange, einen Plan für die neue Gesellschaft zu machen, komme ich wohl um die Position "Avantgarde" schlecht herum - auf diesem Weg fallen mir schon seit vor dem Mauerfall nur autoritäre, wenigstens besserwisserische Lösungen ein. Darauf habe ich keine Lust.
Der derzeitige Weg, soziale Unterschiede abzufedern (natürlich ist hier die Linke dauernd gefragt, den Sozialstaat erstens zu erhalten, zweitens nicht autoritär werden zu lassen wie durch unsinnige und entwürdigende Arbeitseinsätze bereits geschehen) und die Eigenverantwortung zu betonen (es geht nicht nur um Eigentumsverhältnisse, sondern um Möglichkeiten des Einzelnen, selbst Macht auszuüben, "Macht" weder zu ignorieren noch zu missbrauchen) erscheint mir der normalste von der Welt zu sein. Auf diese Weise geschieht Veränderung. Es werden auch unsere Begriffe sich verändern, denn die Globalisierung lässt uns hier mehr Stimmen empfangen als zur Zeit der Kommunistischen Internationalen, deren Strategie von heute aus betrachtet der deutlichste Imperialismus nach dem "echten" war.
Lieber Herr Goldkorn,
unsere Gesellschaft hat in meinen Augen so viele Mängel - keineswegs nur solche der Verteilung -, daß ich Mühe habe, ihnen zu folgen; ich kann sie nicht gleich am Anang nur mal so nebenbei "kurz" benennen. Anders verhält es sich mit ihren Werten, da habe ich einen gleich anfangs dick unterstrichen und unterschrieben, nämlich den der individuellen Freiheit.
Es gibt inzwischen viele Menschen, denen die Mängel zu groß geworden sind:, und ich gehöre eben zu ihnen Bitte entschuldigen Sie, daß ich in dieser (in meiner eigenen) Perspektive schreibe. Das heißt nicht, daß ich nur oder auch nur vorwiegend für diese Menschen schreibe, aber es führt dazu, daß ich ihre Fragestellung ohne weiteres an den Anfang setze, statt mich am Anfang erst einmal dafür zu rechtfertigen, wie ich denn dazu komme, unsere Gesellschaft grundlegend zu kritisieren. (Beachten Sie auch dies: Nicht ein Axiom, sondern eine Frasgestellung setze ich an den Anfang.)
Nicht was die Mängel dieser Gesellschaft sind, aber was in meinen Augen ihr grundlegender Mangel ist, darüber werde ich in einem späteren Blog noch schreiben.
Das marxsche Programm war vor allem Kritik. Wir können viel lernen, was eine "andere Gesellschaft" nicht sein soll. Marx hat aber leider nicht einmal die drei Bände Kapital selbst vollendet. Nur den ersten Band. Auf die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise sollten weitere Kritiken folgen - vor allem eine Kritik der Politik. Kritische und materialistische Staatstheorie hat inzwischen viel Brauchbares zusammen getragen. Vor dem Hintergrund der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik der Politik müsste man sich die sozialistischen Versuche nochmals kritisch aneignen. Ich glaube mit einer solchen Perspektive könnte man viel zu Tage bringen, was gründlich diskutiert werden müsste. Und im Sinne Ernst Blochs wäre das dann auch eine notwendige "Erinnerung an die Zukunft".
verehrter Herr Jäger, über das ganz andere nachzudenken ist großartig, immer sinnvoll. Aber dazu muss man nicht auf den autoritären Saustall, der sich DDR nannte, eingehen. Den witzigen, polemischen LIteraten Karl Marx mit diesen grauenhaften Greisen und Typen wie Honecker und Krenz zusammen zu bringen, fand ich immer schon sehr absurd. -
Die dürfen wir also getrost ganz vergessen. Auch die Begriffsklauberei, Individualismus habe stets kapitalitische Wurzeln und Zusammenhänge, ist Unsinn, säkulare Scholastik, keinesfalls das andere Element, das viel radikaler gedacht werden kann.
In einer anderen Gesellschaft müssten sich sogar Solipsisten wie Max Stirner wohl fühlen können. In der gerontokratischen DDR aber hätte selbst ein sanfter Rebell wie Bob Dylon nicht frei atmen und singen können. In einer anderen freieren Welt stände auch die Kunst nicht unterm Diktat von roten Feldwebeln und Spießbürgern. Dort wäre die Komödie, die Kunst der Freude (A.W. Schlegel) erwünscht, nicht von Polizisten verfolgt.
Auch der Begriff der "geschichtlichen Erfahrung", den Sie ziemlich roh und unbeschrieben einbringen, ist phrasenverdächtig. Denn wer steht für diese Erfahrung ein, wer hat sie machen können, ein Kollektiv, kann ein Kollektiv Erfahrungen machen? Wie wäre das zu denken? Geschichtliche Erfahrungen haben einzelne, die über diesen Begriff Auskunft geben können, aber auch sie brauchen gute Gründe und einen plausiblen Stil, diese
Erkenntnisse glaubwürdig darzustellen.
Ich denke, die "andere Gesellschaft", wenn es so etwas nur ansatzweise gegeben haben sollte, hing stets mit dem Problem des autoritören deutschen Charakters zusammen. Er hat alles stets zunichte gemacht. Ist der überwunden? Glauben Sie das, Herr Jäger? Hier gälte es anzusetzen, wie kriegen wir die Konsenszwänge aus der Welt, den schlechten Geschmack, das Mobbing überall ? Die Seinsvergessenheit, die deutsche Ideologie, diese Seuche schlechthin?
Die richtige Analyse genügt nicht, Fantasie brauchte man, echte Poesie, die geliebt und gepflegt würde, usf. in der DDR wie in der BRD heute wird die Poesie feisten Oberlehren unterstellt. Ist Ihnen das nicht bekannt?
Die Sehnsucht der Rechtgläubigkeit nach sicheren Theorien ist mir verdächtig.
Theorien sind bestenfalls gute Leitern, die man wegwirft, wenn man auf ihnen weiter hinaufkommt, keineProthesen des Machtwillens ehrgeiziger Männer, Frauen und Junggreise. Sonst ist alles wieder von vornherein Betrug.
Lieber Herr Quenzel, die Fragen, die Sie sich stellen, stelle ich mir auch, besonders die nach dem "Charakter". Welche Art Menschen kämpft für eine andere Gesellschaft? Wodurch unterscheiden sie sich von anderen Menschen - durchaus nicht immer nur vorteilhaft? Wieviel von ihrem Gebaren ist dem sozialen Druck geschuldet, unter dem sie stehen, wieviel ist teils positive, teils negative "Auslese"? Aber ich finde, es ist auch noch viel Analyse erforderlich. Wir brauchen Analyse und Fantasie/Poesie nicht gegeneinander auszuspielen. Die Grunderfahrung meines politischen Lebens jedenfalls ist die ständige Begriffsverwirrung, in der sich selbst Nahestehende nicht wirklich verständigen können, jede gemeinsame Tat ist davon belastet.
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Lieber Michael Jäger,
ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit Ihren Eingangsfragen den idealen Zugang gefunden haben – ich wüsste andere und meiner Meinung nach bessere. Aber das kann sich ja noch in der Debatte ergeben. Dass Sie ein solches Thema hier angehen, begrüße ich – auch wenn die 3.000 Kommentar-Zeichen arg restriktiv sind für einen theoretischen Blog. Sie bekommen jetzt also einen zweiteiligen Kommentar…
Sie schreiben:
"Privat" sind die Akteure im kapitalistischen Warentausch, "Assoziation" bezeichnet die kommunistische Alternative. Marx sagt also, einen privaten Individualismus gebe es zwar und er präge die Akteure im Kapitalismus, aber Individualismus sei nicht das Gleiche wie Individualismus. Und Austausch nicht das Gleiche wie Austausch. Das klingt, als ob er gar kein Gegner der "Tauschgesellschaft" gewesen ist.
„Privat“ sind die Akteure aber bereits in der kapitalistischen Produktion, nicht erst im kapitalistischen Warentausch. Eine Waren produzierende Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die Produzenten als private, eben isoliert von gesellschaftlichen Bedürfnissen und blind für dieselben, Waren herstellen – eine Produktion, deren einziges Ziel darin besteht, beim kapitalistischen Warentausch Wert bzw. Mehrwert zu realisieren, und zwar bei völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem gegenständlichen Inhalt ihrer Produktion – die Gegenständlichkeit ihres Produkts dient lediglich als notwendiger Träger des Werts. Wir haben es mit einem blinden Prozess der Kapitalverwertung zu tun, und blind für ihr Tun sind auch die privaten Akteure.
Gegen „Tausch als solchen“ hätte Marx in der Tat nichts einzuwenden gewusst – weshalb auch, das ganze menschliche Leben ist ein Tausch bzw. Austausch: Zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen selbst. Das macht ja ihre Gesellschaftlichkeit aus. Nur redet Marx halt vom kapitalistischen Warentausch als einer konkreten historischen Erscheinung – und da herrschen Irrationalität und Bewusstlosigkeit.
Eine „Assoziation“ als „kommunistische Alternative“ wäre dagegen die bewusste Kooperation freier Individuen, die frei ihre Bedürfnisse bestimmen und gemeinsam vereinbaren, welche menschlichen und natürlichen Ressourcen in welcher Form und in welchem Umfang zu deren Befriedigung eingesetzt werden sollen, sowohl unter Beachtung menschlicher Möglichkeiten als auch der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen. Damit stünde Gesellschaftlichkeit nicht mehr im Widerspruch zu Individualität, vielmehr wäre Individualität Voraussetzung für eine bewusste Gesellschaftlichkeit.
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„Warum gelang es nicht beim ersten Anlauf? Warum wurde es nicht einmal angestrebt?“
Wenn ich Sie richtig verstehe, betrachten Sie den „Realsozialismus“ als den „ersten Anlauf“. Der „Realsozialismus“ hatte seine Wurzeln im „Arbeiterbewegungsmarxismus“ – und der fußte auf einem verkürzten Marx-Verständnis: Der „Arbeiterbewegungsmarxismus“ hatte das Kapital eben nicht als gesellschaftliches Verhältnis begriffen, in dem „Kapital“ und „Arbeit“ einander bedingen, zwei Seiten einer Medaille sind. So entstand eine Verkürzung, in der die „Arbeit“ nicht als historische Erscheinungsform kapitalistischer Verhältnisse, sondern als positives, überhistorisches Element dem „Kapital“ gegenüber gestellt wurde. In dem aber die „Arbeit“ gerettet werden sollte, wurden damit auch die anderen Kategorien dieses gesellschaftlichen Verhältnisses (Wert, Geld, Staat, Politik, Recht usw.) „gerettet“ bzw. nie in Frage gestellt. Der „Klassenkampf“ der „Arbeiterklasse“ war damit in Wirklichkeit nie ein Kampf zur Aufhebung des Wertverhältnisses, sondern „nur“ ein Kampf um „gerechte“ Teilhabe. Und die sollte immer – das war das Ideal des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ - dadurch hergestellt werden, dass die „Arbeiterklasse“ als „Schöpferin aller Werte“ auch das Eigentum an den Produktionsmitteln übernimmt. Man kann aber die gesellschaftliche Wertkonstitution nicht aufheben, wenn man an ihren Grundkategorien wie Wert und Arbeit festhält. Dann reproduziert man, ganz gleich in welcher „Verkleidung“, immer wieder die gleichen Verhältnisse.
In dieser Tradition stand auch der erste Anlauf „Realsozialismus“. Ohne sich dessen bewusst zu sein, wurde nicht die Aufhebung des gesellschaftlichen Verhältnisses (das ja in seiner Konstitution gar nicht erkannt wurde) betrieben, sondern dessen Neukonstitution, also eigentlich Staatskapitalismus, oder – wem das zu weh tut – Staatssozialismus (was die Sache nicht besser machte).
Da man an die gleichen Kategorien gebunden blieb, lief die Entwicklung letztendlich auf einen Wettbewerb mit dem westlichen Kapitalismus hinaus, in dem man von vornherein aus vielen, hier jetzt nicht dargestellten Gründen, hoffnungslos unterlegen war.
Deshalb auch wurde eine „Andere Gesellschaft“ nicht einmal angestrebt, sie war gar nicht im praktischen Horizont der Akteure.
Vielleicht bedurfte es erst des Scheiterns dieses ersten Anlaufs, der bei Lichte besehen „nur“ eine „nachholende Modernisierung“ (Robert Kurz) war.
Lieber copland, dem, was Sie im ersten Teil schreiben, stimme ich in allem zu. Im zweiten Teil würde ich besonders Ihren Hinweis dick unterstreichen, daß (abstrakte) Arbeit und Kapital zwei Seiten derselben Medaille sind, das wird in der Tat gern unter den Tisch gekehrt. Was die Schlußfolgerungen für den realen Sozialismus angeht, bin ich nicht mit allem einverstanden. Ich habe ja im zweiten Blog-Beitrag den Satz von Marx schon zitiert , wo er sagt, auch im Kommunismus werde der Wert eine Grundbestimmung sein. Daß das ein Problem ist, sowohl ein theoretisches als auch praktisches, sehe ich freilich auch. Ih komme darauf noch im Blog selber zurück.
Lieber Michael Jäger,
leider ist Teil 2 falsch verlinkt.
mfg
Lieber Joss Fritz,
danke, ich habe das vorgestern abend auch bemerkt und schon an die zuständigen Kollegen weitergemailt. Votläufig kommt man über Google auf Teil 2.
Nach Marx/Engels ist der letztlich aufzulösende Widerspruch der zwischen dem (welt-) gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten (bornierten) Form des Aneignens, also dem privaten (gegenüber sozial bestimmten Zwecken abgeschotteten) Vermögen (auch Recht) zur Entwicklung und Anwendung der menschlichen (und vom Menschen beeinflussten) Produktivkräfte, dem ein soziales Unvermögen zur rationalen Steuerung der Produktion gegenüber steht.
Zur Frage der Realität von Sozialismus einige Thesen:
1) Alle bisherigen Sozialismusversuche sind gescheitert nicht am Überfluss sondern am Mangel an (Öko-) Sozialismus, d.h. an Möglichkeiten zur gemeinsamen (!) (und ökologisch reflektierten) Zweckbestimmung der Produktion
2)Als ein historischer Prozess ist (Öko-)Sozialismus bzw. Kommunismus Verallgemeinerung der Befähigung zur abgestimmten Entwicklung und Anwendung des menschlichen (und des vom Menschen beeinflussbaren ) Produktivvermögens
3) Reale Existenz (öko-)sozialistischer Gesellschaftsformationen (zwischenmenschlicher Behauptungsordnungen) zeigt sich im Nachweis, dass diese Verallgemeinerung tatsächlich – und zwar unabhängig von der dafür benutzten Begrifflichkeit – der vorherrschende gesellschaftliche Prozess ist.
4) (Öko-)Sozialismus existiert, in so weit Menschen Formen der Arbeitsteilung schaffen, die ihnen das bewusste Zusammenspiel von Produktion, Konsum und Entwicklung (wie von Wissenschaft Entscheidungsfindung und Alltag) ermöglicht und ihnen damit erlaubt, die aus den gegenwärtigen Formen der Arbeitsteilung unwillkürlich hervor gehende Entfremdung von den Voraussetzungen und Folgen der (Wieder-)Herstellung und Mehrung menschlicher Reichtümer aufzuheben.
Soweit erst einmal
Gruß hh
Zu den folgenden Fragen:
"Was kann das sein: ein nicht "privates", sondern "assoziiertes" Individuum, das in gesellschaftlicher Verantwortung agiert - sogar dann, wenn es als homo oeconomicus auftritt - und gleichwohl für sich als Individuum frei ist? Ist das auch nur logisch möglich? Ist es praktisch möglich? Warum gelang es nicht beim ersten Anlauf? Warum wurde es nicht einmal angestrebt?"
Unlogisch und jedenfalls unlösbar wird es nur, wenn man mit fixierter Bedeutung aufgeladene Begriffe gegeneinander antreten lässt.
Individuen können mehr oder minder sozial sein. Sozial eingestellte Individuen können sich auch dann als frei(willig) assoziierende Individuen fühlen und wissen, wenn sie sich gegenseitig zum rücksichtsvollen Handeln nötigen (müssen). Was davon dann im Einzelnen zu halten ist, lässt sich auf einer solchen Abstraktionsebene nicht klären - dazu braucht es den konkreten Kontext. ("Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen" Marx: MEW Bd. 1, S. 51)
"Homo-Ökonomikus" ist ja kein Individuum sondern die Konstruktion eines bestimmten Bildes individueller Rationalität dessen Realität soziale Ohnmacht voraussetzt. Ersparnis von Arbeitsaufwand (was anders ist Ökonomie?) mit sozial bestimmten (gesellschaftlich verantwortbaren) Zwecken, Produktionsmethoden oder -orten in Beziehung setzen und abwägen zu können, bedeutet individuelle Macht zum sozial abgestimmten Handeln. Daran fehlt's der freien Marktwirtschaft. Was "den ersten Anlauf" und der Möglichkeit "weiterer Anläufe" angeht, verweise ich auf die Thesen der anderen Antwort.
Dazu zwei Ergänzungen:
1) Wir sollten fürs erste runter vom Gedanken großer Anläufe kommen und die Angelegenheit vorerst als sozialen Entwicklungsprozess betrachten allerdings nicht ohne Vergegenwärtigung dessen, was angesichts zu lösender Probleme wie etwa die Erderwärmung in welchen Zeiträumen zu tun ist
2) Sozialismus funktioniert eben nicht ohne Demokratie.
Gruß hh
Sehr geehrter Herr Jäger,
Wie es mir scheint, konzentrieren Sie sich bei den Gedanken an die "Andere Gesellschaft" vor allem auf das Materielle (ob für oder gegen Marx). Vielleicht teilen Sie auch mit Marx den Gedanken, dass erst mit der Erfüllung materieller Bedürfnisse man die geistigen angehen sollte. D.h. dass das Bewußtsein aus dem materiellen Sein (=Haben) heraus bestimmt wird. Dagegen sagt mir meine Lebenserfahrung, dass im Schnitt gerade viele materiell "unterdurchschnittlich" ausgestatte Menschen viel an positiven geistigen Eigenschaften wie Weisheit, Güte, Anteilnahme, Humor, Kritikfähigkeit, Zurückhaltung, Ideenreichtum etc. besitzen!
Was ich damit sagen will: neben der Veränderungen in materiellen Bereichen, sollte die "Andere Gesellschaft" parallel (und nicht später) auch über die Geistige Veränderung der Gesellschaft erreicht werden.
Lieber Herr Szopa, das ist absolut auch meine Auffassung. Im späteren Verlauf des Blogs hebe ich es deutlich hervor.
Vielleicht habe ich etwas zu schnell gepostet. Sie meinen mehr als das, was bisher an "Geistigem" in meinem Blog vorkommt. Was ich betone, ist ja nur die Rolle des intellektuellen Faktors bei der Überwindung der materiellen Probleme. Tatsächlich habe ich im Grunde ein sehr beschränktes Thema, nämlich das Übel, das von einer ganz bestimmten "Institution", dem Kapital, ausgeht, und wie die Andere Gesellschaft nicht umhinkommt, sie zu beseitigen. Da habe ich einige ganz bestimmte Sachen zu sagen und zu begründen. Trotzdem, ich gebe Ihnen absolut recht: Der Gedanke, "daß man erst mit der Erfüllung materieller Bedürfnisse die geistigen angehen sollte", wäre völlig verkehrt. Im Gegenteil, wenn die geistigen Bedürfnisse nicht entwickelt sind, wird es auch keinen intellektuellen Faktor zur Überwindung der materiellen Probleme geben. Zumal mir bei denen nicht so sehr unbefriedigte materielle Bedürfnisse in unserem sehr reichen Land vorschweben als vielmehr gewisse objektive Katastrophen, die unser Wirtschaftssystem anrichtet.
Hallo Herr Jäger,
Ich habe erst angefangen, ihr Blog-Werk zu lesen, dennoch werde ich mir erlauben, ggf. zu einzelnen Kapiteln ein Kommentar abzugeben, auch wenn dieser durch einen späteren Text erklärt werden sollte, ok?
Zu "Eigentum und Freiheit" fallen mir noch die Stoiker ein (Diogenes vor allem), die warnten, dass Eigentum auch Freheit einschränken kann. Ob bei großen Gütern (Ländereien, Aktien, Luxusschiffe, etc.), oder bei Ihrem Hund-Beispiel: Dadurch, dass ich einen Hund habe, habe ich auch weniger Freiheiten - denn um den Hund muss man sich ja kümmern. Das betrifft aber leider auch geistige Güter: je mehr Liebe/Anteilnahme ich zu jd. (oder allgemein) fühle, desto weniger kann ich "sorgenfrei" wegschauen.
Lieber Herr Szopa, danke für den Hinweis auf Diogenes, darauf war ich noch nicht aufmerksam geworden. Die Einschränkung der Freiheit durchs Eigentum z.B. an einem Hund würde ich so abbilden, daß es eine Einschränkung des Eigentums ist. Auch da helfen Sie mir weiter: Ich hatte in dem Eintrag, den Sie gelesen haben, nur vor Augen, daß die Gesellschaft den Hundeeigentümer einschränkt, weil sie Tierschutz vorschreibt; aber man muß ja wirklich vorher anfangen, gerade wenn man in der Perspektive der Anderen Gesellschaft denkt: Das Natürlichste der Welt ist, daß ich erst einmal am Hund selber bemerke, daß er nicht einfach mein Eigentum ist, sondern sich selbst gehört; daß er mich also beschränkt, noch bevor es die Gesellschaft tut. Diese natürliche Einschränkung wird von der Gesellschaft nur verdeutlicht und juridisch gefaßt.
Ob es auch eine Einschränkung meiner Freiheit ist, hängt davon ab, was ich für eine Freiheit habe, d.h. was ich will - ich kann ja auch das Eigene des Hundes wollen (wenn ich ihn liebe), dann ist meine "Sorge" um ihn keine Einschränkung meiner Freiheit, sondern im Gegenteil gerade meine freie Tat.
Kommentieren Sie immer spontan, das ist für mich die beste Kontrolle, denn im Idealfall soll alles sofort verständlich sein, auch wenn es vielleicht später noch verständlicher wird.
Lieber Herr Jäger,
Sie schreiben: "Für mich ist die Ausgangsfrage die, ob sich das gefährliche Chaos, das die kapitalistische Produktionsweise ökonomisch in Abständen, ökologisch in zunehmender Progression anrichtet, […]"
Ausgehend von diesem „gefährlichen Chaos“, das sich jüngst in Form der Weltfinanzkrise gezeigt habe, entwickeln Sie Ihre Gedanken über die Andere Gesellschaft. Gleich zu Anfang schreiben Sie: "[..] sie wurde jüngst schon einmal versucht, und was herauskam, war nicht befriedigend."
Wenn ich diese Drähte zusammenhalte, gibt es einen Kurzschluss: Das, was Sie mit „nicht befriedigend“ bewerten, ließe sich mit einigem Recht auch als „gefährliches ökonomisches und ökologisches Chaos“ beschreiben. Das stellt eine Kausalität zwischen „Chaos“ und „kapitalistischer Produktionsweise“ zwar nicht in Frage, macht aber nicht unbedingt Appetit auf einen zweiten Versuch.
Umgekehrt ließen sich ebenso die Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise als „nicht befriedigend“ werten, um von hier aus Gedanken zu einem zweiten Versuch zu entwickeln.
Liebe(r) ISIHAC, wenn ich bei der Abstraktheit dieses ersten Blog-Eintrags geblieben wäre, hätten Sie unbedingt recht. Er ist aber ja nur die Einleitung. Ich werfe der kapitalistischen PW d i e G r ü n d e vor, deretwegen es zum regelmäßigen Chaos kommt, und glaube, daß sie sich nicht beseitigen, auflösen lassen ohne Auflösung der PW selbst. Die Begründung wird ab dem 14. Eintrag entwickelt.
Liebe(r) ISIHAC, wenn ich bei der Abstraktheit dieses ersten Blog-Eintrags geblieben wäre, hätten Sie unbedingt recht. Er ist aber ja nur die Einleitung. Ich werfe der kapitalistischen PW d i e G r ü n d e vor, deretwegen es zum regelmäßigen Chaos kommt, und glaube, daß sie sich nicht beseitigen, auflösen lassen ohne Auflösung der PW selbst. Die Begründung wird ab dem 14. Eintrag entwickelt.
Lieber Michael Jäger,
zum ganzen von dir sehr tief angelegten Thema möchte ich dir meinen Text mit dem Titel "Utopie ohne Ende", der im Zusammenhang mit der aktuellen Programmdebatte der LINKEN entstanden ist:
Utopie ohne Ende. 'Sozialismus oder Barbarei' neu gedacht.
Man muss die Fakten von den Umweltkatastrophen, der globalen Hungersnot bei gleichzeitig unvorstellbarer Verschwendung, den Wirkungen und Risiken der ökonomischen Krisen und Zusammenbrüche nicht noch einmal und immer wieder benennen, um den Kapitalismus als barbarisch, überkommen und wider jede menschliche Vernunft geißeln zu können.
Es ist und bleibt je länger umso dringlicher wahr: Eine andere Gesellschaft als die auf der Basis und nach den Regularien des Kapitalwachstums ist nötig!
Aber ist sie auch möglich?
Die Gedanken und Theorien über Alternativen, über Utopia und Sozialismus sind Jahrhunderte alt und mit jeder Krise des Kapitalismus entstehen neue und alte werden runderneuert. Keine 100 Jahre dauerte ein realer Sozialismus, der anders als mehrere sozialistische Experimente immerhin globale Wirkung und Folgen zeitigte. Sein Scheitern ist kein Beweis für die Unmöglichkeit einer 'anderen Welt', aber lehrreich allemal.
Ein 'Beweis' für die Unmöglichkeit einer anderen globalen Welt als der kapitalistischen wird hier und im Folgenden angeführt. Ein Beweis, der die intrinsische Stärke und Lebenskraft des Kapitalismus anführt und der gleichzeitig die Notwendigkeit und politische Möglichkeit von Veränderung der Welt für Überleben und Durchsetzung des Humanen begründet und zwar auf der Basis der immer konkreteren und realistischen Kenntnis des globalen Kapitalismus.
Die Beweisführung wird und muss damit beginnen, die inneren Gesetzmäßigkeiten, Triebkräfte und Potenzen des Kapitalismus zu benennen. Neue Theorien sind dafür nicht erforderlich, existierende Theorien und bekannte Fakten sind ausreichend, um nicht nur die Überlebensfähigkeit de Kapitalismus als flexibles, anpassungsfähiges und dynamisches System zu begründen, sondern darüber hinaus seine Dominanz und Hegemoniefähigkeit gegenüber jedem anderen denkbaren, auf humanistischen und rationalen Grundlagen basierendem, politisch machbaren System.
Grundlegend, keineswegs Ausschlag gebend für die Überlegenheit des kapitalistischen System ist seine innere Konsistenz unabhängig davon, ob man diese nach der marxistischen 'Fremdbeschreibung' oder beliebigen 'Selbstbeschreibungen' untersucht. Man muss auch keineswegs die jeweils radikalsten Varianten heranziehen.
Die entscheidenden Faktoren seiner Überlegenheit sehe ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Wertigkeit) in folgendem:
• in seiner Selbststeuerung und Spontaneität,
• in seiner komplexen Ausgestaltung und damit verbundender Akzeptanz einer Geldgesellschaft,
• in seiner Freigabe jeglicher (Gruppen-)individueller Dynamik,
• in seiner Immunität und Abwehrkraft gegen Systemüberwindung basierend auf diesen genannten Punkten.
Zur Demonstration, weniger zur Begründung dieser Eigenschaften relativ unsystematisch und unvollständig hier einige Sätze, die diese Punkte unterlegen bzw. verständlicher machen können. Wesentlich ist dabei vor allem, die Wirkmächtigkeit und den inneren Zusammenhang dieser Dynamiken zu verstehen. Zur Verdeutlichung muss ich gelegentlich Situationen aus realsozialistischen Zusammenhängen heranziehen. Dies sollte nicht verstanden werden, dass natürlich gegenüber einem 'schlechten' Sozialismus ein 'normaler' Kapitalismus überlegen ist, sondern sollte lediglich als Illustration gewertet werden, um eine kapitalistische Eigenschaft durch ihr 'Extrem' bzw. ihre 'Alternative' zu charakterisieren.
Schon die erste genannte Stärke des Kapitalismus, seine Selbststeuerung und Spontaneität kann am besten durch seine Alternative beschrieben werden.
Für jedes Gesellschaftssystem, das rationale Verfügung und Nutzung von Natur- und gesellschaftlichen Ressourcen und deren minimal gerechte und demokratisch legitimierte Verwendung regelt, stellt sich die Frage nach den Subjekten von Planung, Entscheidung und deren Legitimation.
Dieser Basisfrage und ihren komplexen Folgeproblemen entzieht sich der Kapitalismus. Privateigentum und –nutzung gehört bei total ausgeblendeter Entwicklung der privat angeeigneten Sache zu seinem konstituierenden und unveräußerlichen Setting. Dass es zu diesem unverzichtbaren Setting gehört wird durch die andern genannten Wirkmächtigkeiten (individuelle Selbstbestimmung, Geldäquivalenz aller Bedarfe, Immunität) abgesichert.
Natürlich erfordert die Regulierung gegeneinander stehender Privatnutzungen ein aufwändiges Rechtssystem, das Spontaneität und Selbststeuerung einengt. Aber dank einer unangefochtenen 'Natürlichkeit' des Geldes, mit dem alles gewogen und verglichen werden kann und 'freien' Austausch erlaubt, konnte ein derartiges Rechtssystem im Laufe der Zeit etabliert werden und den Eindruck von Gerechtigkeit aufgrund dieses freien Austausches erwecken. Dem Rechtssystem wird auf dieser Basis – im Rahmen des Settings – sogar selber die Fähigkeit zur Selbststeuerung verliehen.
Die Selbststeuerung verleiht dem System auch die erforderliche Autorität. Resultate und Fakten – namentlich die aus individueller Sicht negativen – können lautstark kritisiert werden. Als Sachzwänge sind sie keiner Autorität zuordenbar, keiner Partei oder Regierung. Lediglich in ihrer Wahrnehmung und Priorisierung können (Fehl)einschätzungen menschlicher Verantwortung zugeschrieben werden. m.E. übrigens ein Grund für die sog. 'Politikmüdigkeit', die sich im Frust und Mißtrauen gegenüber jeglicher Art von Regierung, gegenüber einer anonymen Bürokratie etc. bemerkbar macht. Akzeptiert bleibt demgegenüber die anonyme Macht des Marktes, dem die Eigenschaften eines gewöhnlichen Wochenmarktes und damit Selbstverständlichkeit unterstellt werden. Die allgemein gültigen Sprachregelungen von Arbeitnehmern, -gebern, Konsumenten, Kunden und Anbietern, deren Waren zu kaufen oder nicht zu kaufen jedermann frei stünde, verfestigen dies fortwährend.
Der Verlauf der Eigenentwicklung des Systems ist analog zu natürlichen Systemen auch keineswegs kontinuierlich. Im Gegenteil: dynamische Perioden und Umstände wechseln sich ab oder degenerieren zu stagnierenden, unbedeutende entwickeln sich zu (überlebens)notwendigen, isolierte zu globalen Problemen. Die Analogie zu natürlichen Systemen und deren Entwicklung möchte ich besonders betonen und spreche im folgenden immer von 'quasi-natürlichen' Phänomenen. Ein Wesenszug des kapitalistischen Systems besteht ja geradezu in der produzierten und verbreiteten Meinung, alles würde selbstverständlich, quasi natürlich, gewaltlos geschehen – auch und besonders im Gegensatz zu allen 'künstlichen' , von Menschen und deren Ideologien 'gemachten' und damit zwanghaften und Zwang erzeugenden Systemen.
Die genannte, in Ausmaß und Qualität diskontinuierliche Dynamik mit ihrer quasi-natürlichen Spontaneität ist auch der Grund für eine als 'spannend' wahrnehmbare Welt. Die Eintönigkeit und Langeweile eines Systems etwa, das alle steuerbaren Lebensrisiken entkräftet hat und zu wenig neue, interessante Ablenkungen hervor brachte – wie z.B. das real-sozialistische – widerspricht dem Orientierungs- und Erlebnisbedürfnis flexibel interpretations- und handlungsfähiger Wesen. Dass der Kapitalismus dieses Bedürfnis bzw. diese Fähigkeit durch ungezügelte, bliebig animierende Warenproduktion befriedigt, wird zwar von Minderheiten kritisiert, im Effekt werden aber dadurch menschliche Bedürfnisse gestaltet bzw. neue geschaffen. Dem System kommt es lediglich darauf an, Bedürfnisse zu nutzen, seien es kurzfristige, langfristige, künstlich erzeugte, natürliche oder wesentliche. Entscheidend für ihre Nutzung ist die Größe und Relevanz eines (vermuteten) Marktsegments, das 'bedürfnis- und bedarfsgerecht' geschaffen wird.
Die zweite genannte Wirkungsmacht des K., seine Transformation jeder Geld als Tauschmittel nutzenden Gesellschaft hin zum Kapitalismus geschieht ebenfalls quasi-natürlich ohne zentralistische Eingriffe und Absichten.
Umgekehrt: eine Geldgesellschaft, in der Geld lediglich ein bequemes Tauschmittel unterschiedlich produzierender und konsumierender Gruppen und Individuen bleiben soll, bedarf des Eingriffs und der Steuerung verantwortlicher Institutionen. (Einen Rückzug auf eine Gesellschaft mit Naturalwirtschaft schließe ich hier als Utopie aus!) In jeder Geldgesellschaft bleibt der Doppelcharakter der Waren erhalten. Um den kapitalistischen Kreislauf 'Geld – Ware – Geld++' , der genau die kapitalistische Dynamik in Gang setzt, zu verhindern, wären Gesellschaftsverträge mit Einschränkungen und Verboten von Nöten.
Dem realen Sozialismus, der sich als Vorstufe zu einer kommunistischen Gesellschaft als Geldgesellschaft akzeptieren konnte, wurden alle Experiment, um dieses Problem zu meistern, zum Verhängnis. Erst recht in einer Welt, in der es nur eine – die kapitalistische – Weltwirtschaft gab. In der Tat ist die Entwicklung des Geldes zum Kapital, wie sie etwa Marx analysiert, eine quasi-natürliche und Marx ist in dieser Hinsicht auch nie widerlegt worden.
Um es einfach auszudrücken: Geld in seinen Eigenschaften und möglichen Funktionen erst einmal akzeptiert, verlangt dann keine weitere Begründung, weshalb es Kapitalismus nicht geben sollte.
Die dritte genannte Wirkmächtigkeit des Kapitalismus., seine Offenheit gegenüber jedweder rationalen oder skurrilen (Gruppen-)individueller Dynamik steht scheinbar im Gegensatz zu der von mir als vierte Wirkungsmächtigkeit genannten Immunität gegenüber Systemveränderung. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man diese Offenheit genauer beschreibt. Sie besteht in der Fähigkeit, fremde Ziele, Bedürfnisse und Ansprüche mit den eigenen flexiblen Angeboten zu nutzen, aufzusaugen, zu formen bzw. zu pervertieren.
Das Bedürfnis nach Orientierung und Information wird z.B. zugeschüttet durch täglich Neues, sensationell-Aufregendes, das Bedürfnis nach Ästhetik, künstlerischen Ausdruck etc. wird in Warenästhetik und einer Kultur, die als Branche firmiert, erledigt. Das Bedürfnis, Neues zu wagen, Überholtes zu kritisieren, die Verhältnisse zu ändern wird der Beliebigkeit und Ziellosigkeit und damit der Wirkungslosigkeit Preis gegeben. Entsteht zufällig doch einmal eine Kraft, die nicht negiert oder umgeformt werden kann, die mehr oder weniger direkt und unveränderlich auf eine Systemveränderung hinarbeitet – wie etwa eine antikapitalistische Linke – tritt die Immunität in Kraft: jede linke Kraft, die historisch oder aktuell eine Systemveränderung anstrebt, hat dies bisher entweder in einer scharfen, sog. revolutionären Weise angestrebt oder in einer sanften, reformistischen, heute transformatorisch genannten Weise. Nach dem Scheitern eines revolutionären, diktatorischen Experiments und der Erkenntnis, dass in der Schärfe einer Systemauseinandersetzung, die ökonomisch nicht zu gewinnen war und moralische Werte dieser Schärfe geopfert werden mussten, wird momentan von der Linken mehrheitlich ein demokratischer, transformatorischer Prozess angestrebt. Einen solchen Prozess beherrst das kapitalistische System allerdings souverän. Denn Mehrheiten in geeigneter Weise zu finden, zu stabilisieren und in Stellung zu bringen wäre für es – angesichts auch nur erster unangenehmer ökonomischer und politischer Veränderungen - ein Leichtes. Anders als für linke Systemveränderer können mit kapitalistischen Mitteln die Machtfragen, die sich früher oder später stellen würden, mit 'demokratischen' Mitteln entschieden werden. Allein schon deswegen, weil immer medial Mehrheiten formiert werden können, die eine Systemalternative aus Existenzfurcht und Verlustängsten verhindern wollen. Zumal es nicht die Systemalternative geben kann, wenn es eine transformatorisch-demokratische Version sein soll.
Solche Behauptungen könnten Politikfeld für Politikfeld durchgespielt und belegt werden. Dies sei der Diskussion im Einzelnen überlassen.
Man kann beliebige Literatur sprechen lassen, z.B.
Hartmann, Kathrin, Ende der Märchenstunde, München 2009
Aravin Diga, Der weiße Tiger, München 2008
Alle Dokumentationen zum spezifischen Wirken der transnationalen Medienkonzerne, Nahrungsmittelkonzerne, Pharmaunternehmen, Öl- und anderer Rohstoff-Multis
...
Worauf es mir ankommt: gesetzt den Fall, ich hätte Recht – und wie schwer sich die Linke mit Alternativen, die aus dem System heraus führen könnten, tut unterstützt den Fall, dann bedeutet dies:
Ein demokratischer Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsalternative wird immer Utopie bleiben.
Direkt anschließend stellt sich allerdings die Frage:
Worin besteht die Aufgabe und das Ziel einer sich antikapitalistisch nennenden, linken Bewegung im Rahmen der Eigenbewegung des Kapitalismus mit seinen unbestreitbar gravierenden globalen Problemen?
Denn dass dieser etwa die Energie- und Wasserverteilungsprobleme nicht wird lösen können, die noch nicht einmal ihre volle Schärfe entfaltet haben, erkennt man an seiner Unfähigkeit, die Welthungerkatastrophe auch nur zu mildern, für die er sogar verantwortlich ist.
Man muss den Kapitalismus im Lebensyklus der gesamten Menschheit betrachten, um zur obigen Frage Sinn und Antwort zu finden:
Ausgestattet mit Vernunft, Neugier und darauf bauend mit einem äußerst flexiblen Handlungsspektrum, begabt mit Sprache und später folgend ihrer Fixierung in Bild und Schrift und damit einer Potenzierung seiner Fähigkeiten durch die Akkumulation des Wissens, Könnens und Strebens vergangener Generationen, hat der Mensch seine Dominanz im Kosmos erreicht. Diese Gesellschaftlichkeit des Naturwesens Mensch könnte ihm diese Dominanz weit über seine natürliche Lebensdauer als Art sichern. Es gibt kaum noch natürliche Kräfte, die eine seiner Art adäquaten Existenz entgegenstehen – außer den von ihm selbst erzeugten Gefahren. Und damit schließt sich für mich die dialektische Einheit von Natur und Gesellschaft. Natürlichkeit endet nicht einfach mit entwickelter Gesellschaftlichkeit der menschlichen Art und Natürlichkeit impliziert immer auch Werden und Vergehen. Mit dem entwickelten Kapitalismus hat der Mensch sein natürliches Vergehen, seinen Untergang nicht aufgelöst, nicht ersetzt, sondern im dialektischen Sinn weiterentwickelt.
Mit dieser Sichtweise kann der globale Kapitalismus in der Metapher eines Baumes bzw. Urwaldes betrachtet werden, der losgelöst von ehemals menschen-gemachten Wurzeln sich in eigenen Gesetzmäßigkeiten ausbreitet. In Teilen in wildblühender Fruchtbarkeit und Farbenpracht, in anderen Teilen absterbend, faulend. Immer aber nicht mehr rückholbar vom Menschen mit der Möglichkeit und realer Drohung, dessen Untergang zu werden. Eines Untergangs, der von Natur aus gesehen schon aufgehoben war.
Bleibt man bei dieser Metapher, dann kann Motiv und Ziel einer sich fortschrittlich nennenden politischen Bewegung nicht mehr die Ablösung des Kapitalismus als globale, autonome Lebensbedingung sein, sondern die Entwicklung einer Überlebensstrategie des Humanen in einer feindlichen Umwelt. Ein Kampf Mensch gegen 'Natur' auf höherem Niveau als von 10000 Jahren. Jener Kampf wurde nicht geführt unter dem Motto 'Abschaffung der Natur', sondern sicherte in Teilbereichen ein Überleben mit Mitteln der Natur.
Dass der heutige Kampf der Menschen gegen die von ihm geschaffene zweite Natur, den globalen Kapitalismus, schon länger im Gang ist, erkennt man daran, dass bis auf eine sich antikapitalistische Linke nennende Minderheit, viele Aktivitäten sich 'nur' gegen bestimmte 'Mängel', 'Auswüchse', 'Missbräuche' etc. Phänomene richtet, ohne die hinter allem wirkende Ursache anzugreifen. Ja, ohne den Kapitalismus als ihre Ursache in seinen Wirkmechanismen zu erkennen.
Die wichtigste Taktik der antikapitalistischen Minderheit besteht zudem in der Hoffnung, dass die bekämpften Mängel und Probleme den Kämpfenden die Augen öffnen könnten für ihre wahre Ursache. Aber eine Abschaffung der zweiten Natur bleibt undenkbar, wie für den frühen homo sapiens eine Abschaffung der Natur undenkbar war. Auch der ATTAC-Slogan 'Eine andere Welt ist möglich' klammert bewusst eine Ursache aus und kann damit die Veränderbarkeit für eine Mehrheit von Veränderungswilligen zusammenfassen.
Eine Veränderbarkeit der Verhältnisse, nicht Abschaffung, bleibt unbedingtes Essential einer Überlebens- und Durchstzungsstrategie des Humanen im Kapitalismus.
Um direkt auf ein mögliches Missverständnis einzugehen, möchte ich betonen, dass ich nicht der Auffassung bin, der Kapitalismus wäre in der Natur des Menschen angelegt und deshalb natürlich. Er wäre Ergebnis des natürlichen menschlichen Egoismus, seiner natürlichen Gier und Maßlosigkeit etc. Meine Auffassung steht auf der Basis der Marx'schen Analyse von der Entstehung und Entwicklung des Kapitals und seiner Schaffung von Produktionsverhältnissen, die sich 'hinter dem Rücken der Produzenten' – also unbewusst – durchsetzen und damit als 'quasi-natürlich' wahrgenommen werden.
Als zweites unbedingtes Essential für eine fortschrittliche Entwicklung neben der Erkenntnis der Veränderbarkeit der Welt muss die Kenntnis der Entstehung, Entwicklung und Dynamik des Kapitalismus bleiben – gerade und insbesondere seiner Stärken. Denn – um im Bild zu bleiben – wie der Mensch die Natur(kräfte) erkannte und sie sich Stück für Stück für seine Unabhängigkeit von der Natur zu Nutze machte, ist eine Kenntnis des Kapitalismus unabdingbar, um ein humanes Überleben zu sichern.
Damit kann eine Revolution oder Transformation hin zu einem wie auch immer gearteten Sozialismus Utopie bleiben. Der Versuch einer Ausgestaltung dieser Utopie kann aus dem politischen Diskurs herausgenommen werden und damit zugleich der Streit, auf welchen Wegen, welchen Mitteln man dorthin gelangt. Ein Streit, der die Kräfte der Linken immer schon geschwächt hat. Eine Utopie als schönes Märchen – so wie der frühe Mensch sich vielleicht ein Schlaraffenland ausgemalt hat – stört nicht, tut aber nichts zur Sache.
Es bleibt einer Linken überlassen, die den Kapitalismus kennt und ständig seine aktuellen Kapriolen analysiert, für jedes kapitale Problem die Deformation bzw. den humanen Gegengedanken heraus zu arbeiten und mit allen Mitstreitern das Überleben zu sichern.
So gesehen eignet sich z.B. die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen in sehr tiefgründiger Weise als Kristallisationskern für humane Lebenssicherung und gleichzeitigem Entkommen aus kapitalen Zwängen und vom Missbrauch menschlicher Bedürfnisse. Wie eine Welt in 10000 Jahren aussieht, darüber machte sich die Urmenschheit keine Gedanken. Wir hingegen wollen uns Gedanken machen und sollen es, weil wir uns als bewusst Handelnde begreifen? Könnten wir Bewusstheit und Spontaneität nicht verbinden?
Was unterscheidet diese Sichtweise vom sog. Reformismus, dem gewöhnlichen Sozialdemokratismus?
Ein entscheidendes Moment unterscheidet sie vom Glauben an die Veränderbarkeit des Kapitalismus, seine Läuterung oder Zähmung. Diese Sichtweise, die ich als 'Überlebensstrategie für Humanität' beschreiben möchte, weiß, dass der Kapitalismus u.U. und auch nur zeitweise bzw. lokal sein Gesicht aber nicht sein Wesen ändern kann. Diese Strategie kämpft für ein Überleben, für die Durchsetzung des Humanen in einer feindlichen Welt. Ohne Kampf gibt es nur Untergang oder Barbarei. Es gibt also kein Fernziel mehr, sondern die umfassende Widerständigkeit im Umgang mit dem quasi-Schicksal Kapitalismus. In der Erkenntnis, dass und wie Kapitalismus auf Energie und Technik setzt, muss damit der Gegenpol auf Solidarität und Menschlichkeit weisen.
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Lieber Eckart – Du bist es doch, aus alten PI-Tagen? -, danke für diesen interessanten Text. Du hast Dich sehr tief in die Problematik hineingedacht. Ich kann Dir in fast allem folgen, nur nicht in Deinem Pessimismus. Wenn ich Dich richtig verstehe, siehst Du den realen Sozialismus am Versuch, das Geld zu beherrschen, gescheitert, und erklärst dies mit der Marxschen Analyse, daß Geld nun einmal quasi naturnotwendig zu Kapital führen müsse. Daraus ergibt sich dann, daß der Versuch, dem Kapitalismus zu entfliehen, illusionär ist. Nun bestreite ich diese Marxsche Analyse; ich habe hier gerade, wie man sagen könnte, ein kleines Buch abgeschlossen, das sich der Widerlegung dieser Marxschen Analyse gewidmet hat. Es besteht aus den Eintragungen (33) bis (55) (und auch die "Beilage zu Sohn-Rethel" ist dazu zu rechnen), alles kann vom Eintrag (0) aus, das ist hier: www.freitag.de/community/blogs/michael-jaeger/0-die-andere-gesellchaft-gliederung-in-kapitel-und-tagebuch, unmittelbar angeklickt werden. Ich halte es also für möglich, die Ware-Geld-Beziehungen zu behalten, den Kapitalismus dabei aber vollständig zu beseitigen. Wie das positiv aussehen könnte, dazu sollen hier ab Ende Januar weitere Einträge erscheinen.
Habent sua fata Linki. Die in meinem Kommentar vom 19.1.2011 angegebene Seite ist längst an technischen Problemen gescheitert, und auch nachfolgende Seiten haben dieses Schicksal immer wieder geteilt. Jetzt ist aber eine Seite eingerichtet, die wahrscheinlich einigen Bestand haben wird: Es ist also an dem, daß alle Eintragungen dieses Blogs von www.freitag.de/community/blogs/michael-jaeger/die-andere-gesellschaft-gliederung-in-kapitel- aus angeklickt werden können.
@Michael Jäger
"Wurde Marx im realen Sozialismus, der gewiss keine auf Individualismus gegründete Gesellschaft war, nur missverstanden? Wahrscheinlich nicht. Nicht in jeder Hinsicht! Aber vielleicht gerade im Grundsätzlichsten?"
Lieber Michael,
Sie gehen davon aus, dass Marx bzw. die Prinzipien der anzustrebenden kommunistischen Gesellschaft in SU missverstanden wurden, und erklären anhand eines Beispiels, was Sie unter Missverständnis meinen. Als jemand, der der reale Sozialismus erlebt hat, und vor allem als jemand, der sehr viel darüber gelesen und reflektiert hat, bezweifle ich diese Position sehr. Ich will damit nicht sagen, dass ich mehr als Sie gelesen oder gedacht habe, sondern dass es bei mir um ganz andere Bücher ging, die zum größten Teil in Deutsch nicht übersetzt sind... daher betrachte ich die Sache aus einer ganz anderen Perspektive, und zwar als Insider. Es fällt mir schwer, das Geschehen in SU als Missverständnis zu definieren. Die massenhafte Morde, Folterungen, Vergewaltigungen durch kommunistische Behörden... das alles über mehrere Jahrzehnten... kann so etwas aus einem Missverständnis passieren? Oder kann man das alles auf die Persönlichkeit von Stalin zurückführen? Der Stalin war schlecht und deswegen haben Millionen und Abermillionen mitgemacht? Der Terror herrschte ja übrigens nicht nur bei Stalin, bei Stalin war es nur einigermaßen härter als sonst...
Ich lese manchmal in Blogs und Artikel (hier im Westen, versteht sich), dass ökonomisches System im Sozialismus nicht funktionierte, weil... und dann werden irgendwelche Gründe genannt, die mit realen ökonomischen Abläufen in SU gar nichts zu tun haben, weil die Mechanismen ganz anders waren. Vor allem aber: Ökonomisches System in SU HAT FUNKTIONIERT, und zwar so, wie es gewünscht war... und es war gewünscht, dass dieses ökonomische System ein Teil der Unterdrückung wird, das die Manipulationen von Menschenmassen und einzelnen Menschen ermöglicht. Und so wurde das System auch aufgebaut. So, dass es keine ökonomische Freiheit und keine ökonomische Sicherheit gibt.
Bitte betrachten Sie meine Worte nicht als Anklage-Rede gegen SU... und schon ganz und gar nicht gegen Sie. Ich finde es wunderbar, dass Sie über alle diese Sachen nachdenken und schreiben. Ein bisschen Emotionalität in meinen Äußerungen sollten Sie mich schon verzeihen... es fällt mir schwer, bei allen diesen Themen neutral zu sein... obwohl ich ja selbst immer wieder sage, dass man beim Denken fühlen nicht darf, aber... nun, es ist mal so, dass ich Fühlen nicht immer abschalten kann.
Nun, war es in SU ein Missverständnis? Meine Antwort wäre: Nein. War es dann ein "böser" Willen, dass das Experiment schief geht? An bösen Willen glaube ich grundsätzlich nicht, weder in diesem Fall noch in allen anderen. Es gibt keinen bösen Willen, genauso wie es kein böse Menschen gibt. War die Theorie von Marx und Engels falsch? Nein, war sie nicht (zumindest nicht im Wesentlichen). Aber sie war extrem unvollständig... das ist jetzt nicht abwertend gemeint, sondern im Sinne, dass es nach Marx viele wissenschaftliche Entwicklungen gemacht wurden (z.B. die Einwirkung des Unterbewusstseins auf unsere Handlungen und dementsprechend auf gesamtgesellschaftliche Entwicklung)... diese Sachen sind für die gesellschaftliche Änderungen relevant, aber Marx und Engels konnten sie nicht einbeziehen, weil sie ihnen nicht bekannt wurden. Das ist wie bei Newton: Er war ein genialer Physiker und seine Entdeckungen sind völlig richtig und sehr wichtig... aber es wäre absurd, es versuchen, allein aus Newtonschen Entdeckungen zu erklären, "was die Welt im Innersten zusammenhält".
Wenn wir über die andere Gesellschaft nachdenken wollen, dann ist es wichtig, auch die späteren Erkenntnisse, die nach Marx und Engels gemacht wurden, einzubeziehen... und das tun Sie ja in Ihren weiteren Schriften. Wobei ich nicht nur Erkenntnisse in Ökonomie oder Ähnlichem meine, sondern interdisziplinär. Was haben die Gesellschaft/die soziale Prozesse mit z.B. Physik zu tun? Jede Menge! Denn die Gesellschaft ist ein physikalisches Objekt (wie auch alles andere auf der Welt) und unterliegt physikalischen Gesetzen (ich meine natürlich nichtlineare Physik). Aber Physik alleine reicht auch nicht aus.... Psychologie, Mathematik, und, und, ... .
Aber würden diese Erkenntnisse, die nach Marx und Engels in allen diesen Disziplinen gemacht wurden, ausreichen, um die andere Gesellschaft aufzubauen? Nein, auch nicht... das ist noch zu oberflächlich, zu begrenzt... wir brauchen auch weitere Erkenntnisse, um wirklich voran zu kommen. Und wir müssen diese Erkenntnisse machen.
Das klingt jetzt wahrscheinlich zu allgemein... ich werde es aber versuchen, mich in weiteren Kommentaren konkreter auszudrücken... auch in diesem Thread. Das war der erste Anlauf. Ich schicke diesen Kommentar erst mal ab, dann muss ich den Rechner neu starten, weil mit ihm gerade etwas nicht stimmt, dann schreibe ich weiter...
"Was kann das sein: ein nicht "privates", sondern "assoziiertes" Individuum, das in gesellschaftlicher Verantwortung agiert - sogar dann, wenn es als homo oeconomicus auftritt - und gleichwohl für sich als Individuum frei ist? Ist das auch nur logisch möglich? Ist es praktisch möglich? Warum gelang es nicht beim ersten Anlauf? Warum wurde es nicht einmal angestrebt? Eine gute Hoffnung ist es auf jeden Fall."
Für mich ist es keine Frage der Hoffnung, sondern ein völlig selbstverständlicher Weg, und zwar nicht in dem Sinne, dass dieser Weg FÜR MICH selbstverständlich wäre (was ja an sich selbst auch nicht verkehrt wäre), sondern dass dieser Weg für Evolution selbstverständlich ist. Und mehr als das: Alles, was bis jetzt auf dem Wege der Evolution geschah, passt in dieses Schema rein. Und zwar wirklich alles.
Es wäre natürlich unmöglich, dass ich mein Konzept jetzt hier in einem Kommentar (oder auch in mehreren Kommentaren) entfalte bzw. ausführliche Erläuterungen bringe, warum ich die Sache als selbstverständlich betrachte und warum ich meine, dass es auf jeden Fall der Weg der Evolution ist, und zwar nicht der Weg, der MÖGLICH wäre, sondern der Weg, der real GEGANGEN wird, auch hier und jetzt, und die ganze Zeit von Anfang an… es handelt sich – nach wie vor – um die Formel der Weltrevolution… und Sie haben ja gesehen, dass ich in den ersten drei Iterationen nicht besonders weit gekommen bin, weil der Stoff so umfangreich und auch kompliziert ist. Ich versuche jetzt in dem/den Kommentar(en) einige Gedanken auszugsweise vorzutragen.
Sie schreiben über private und assoziierte Individuen. Mit diesen Begriffen bin ich vollkommen einverstanden, ich sehe die Sache auch so. Aber: Ein privates Individuum ist nicht der Anfang der (Evolution)Kette. Denn am Anfang gab es gar keine Individuen… bzw. kein Bewusstsein, dass man ein Individuum ist. Es gab kein Bewusstsein/Gefühl, von der Welt isoliert/abgesondert zu sein, es gab keine Grenze zwischen „Ich“ und „die Welt“. Im Alten Testament steht, Adam und Eva „waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“. Und das ist nur logisch so: Sie konnten sich voreinander gar nicht schämen, weil sie keine Grenzen zwischen einander hatten, sie waren nicht abgesondert. Man schämt ja nicht vor sich selbst, nackt zu sein (und wenn man sich doch vor sich schämt, nackt zu sein, weil man z.B. das eigene Körper als nicht schön empfindet, dann sieht man sich dabei immer mit den FREMDEN Augen, man denkt, wie würde mich der Andere beurteilen, wenn er mich nackt gesehen hätte).
Und dann haben Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen und sie haben erkannt, dass sie nackt und dass sie keine Einheit sind, sondern voneinander isoliert… und dass ihre Abgesondertheit in Verbindung mit ihrer Nacktheit sie verletzbar macht. Daher haben sie Feigenblätter gebraucht. Und nachdem sie das Wissen erlangt haben, wurden sie aus Paradies vertrieben.
Sie würden wahrscheinlich sagen, das ist alles schön und gut, aber eben nur ein Märchen. Und wenn nicht Sie, dann wird es bestimmt jemand anderer sagen. Ich denke aber, in jedem Märchen gibt es ein Stück von Märchen und der Rest ist von Wahrheit. Ein Märchen ist ein Verarbeiten eines realen Geschehens durch ein primitives, wenig entwickeltes, unwissendes Bewusstsein. Wenn man weiß, wie die Märchen richtig zu lesen sind, kann man da jede Menge Wahrheit rausholen. Und die Bibel halte ich für absolut glaubwürdig und sehr informativ (aus welchen Gründen gerade die Bibel, wäre jetzt eine andere Frage, die ein eigenes Blog oder gar eine Blogreihe wert ist… ich möchte das hier nicht ansprechen, weil die Abweichungen vom ursprünglichen Thema sich dann ins Unendliche ziehen).
Nun, was hat diese Geschichte aus der Bibel mit realem historischem Geschehen und realer Individualisierung des Individuums zu tun? Dazu komme ich heute Abend… muss jetzt ein paar Sachen erledigen.
Liebe Lara, ich stimme mit Ihnen überein: Man kann die Geschehnisse in der SU nicht einfach daraus erklären, daß Marx mißverständlich angewandt worden sei – und noch weniger daraus, daß er im richtigen Verständnis angewandt worden wäre. Geschichte funktioniert weder nach dem Lehrbuch eines Theoretikers noch gegen es. Was da alles für Faktoren wirksam waren – ich glaube, es ist noch niemandem gelungen, das schlüssig zusammenzustellen. Das Letzte, was ich dazu gelesen habe, war Polanskis Hinwei, daß sowohl Lenin zu seiner Zeit als auch Stalin zu seiner anderen Zeit sich in mancher Hinsicht, rein ökonomisch gesehen, nicht ganz unähnlich wie die Staatsmänner in den USA bzw. Deutschland verhalten haben. Der bewirkende Faktor wäre der Zwang, den der kapitalistische Weltmarkt auf die SU ausgeübt hat.
Wenn Sie an Sachen wie „Morde, Folterungen, Vergewaltigungen“ denken, wird die Sache noch komplizierter. Denn das sind Sachen, die einerseits sozusagen menschlich immer vorgekommen sind, deren von Solschenizyn beschriebene Wucht aber doch damit zusammenhängt, daß das im Rahmen einer Revolution geschah, die sich von Anfang an über den Rechtsstaat stellte (Lenin: Es könne in der Revolution nichts Höheres geben als das „Gewissen“ der Revolutionäre – er hat da im Grunde wie Nietzsche gedacht). Und das wiederum hängt damit zusammen, daß Marx das „bürgerliche Recht“ unvollständig analysiert hat, nämlich nur in seiner Funktion fürs Gelingen des Warentauschs, danach, daß es die Individuen atomisiere usf. Sie stellen m.E. richtig fest, daß das Problem bei Marx kaum in den Sachen liegt, die er bedacht hat, umso mehr aber in denen, die er nicht bedacht hat. Er hat dadurch in der Wirkung „böse“ negative Möglichkeitsräume geschaffen. Und das ist eben so ein Punkt, wo ich meinen würde, man macht es sich zu leicht, wenn man sagt, Marx wollte doch gar keine Verbrechen, er ist also ganz unschuldig usf.
Eine speziellere Ebene erreichen wir, wo Sie schreiben: „Ökonomisches System in SU hat funktioniert, und zwar so, wie es gemeint war“. Ja, es wurde „so aufgebaut, daß es keine ökonomische Freiheit gibt“ – und wenn es keine ökonomische Freiheit gibt, dann gibt es das Gegenteil davon, „Unterdrückung“ und „Manipulation“. Da würde ich nun sagen, das hängt mit K o n f u s i o n e n in Marx‘ Theorie zusammen. Und zwar denen, mit denen ich mich in meinem Blog befasse. Marx wollte keine privategoistische Wirtschaft: Die Alternative dazu schien die kollektivistische Wirtschaft zu sein, diese wiederum schien auf die eine einzige gesamtgesellschaftliche Fabrik hinauszulaufen, die dann auch unter einer Leitung steht, und da haben wir es schon, die Abschaffung der ökonomischen Freiheit. Hierzu sage ich, man kann Marx von dieser Entwicklung nicht frei sprechen – es hängt ganz exakt mit der Frage zusammen, ob man bereit ist, bei Verneinung des Kapitals „trotzdem“ die Ware-Geld-Beziehung anzuerkennen (d.h. zu begreifen, daß das gar kein „trotzdem“ ist), und Marx w a r dazu nicht bereit -, aber man kann wiederum gerade hier auch sagen, daß der z e n t r a l e I m p u l s von Marx in der SU nicht aufgenommen wurde – und da würde ich nun wirklich sagen: nicht aus bösem Willen, sondern weil man es nicht verstanden hat -, der eben darin bestand, gegen die Freiheit d e s P r i v a t e g o i s t e n die Freiheit d e s I n d i v i d u u m s , das als Individuum sich solidarisch verhält, zu setzen, u n d n i c h t das Kollektiv unter einer Leitung.
Nicht "Polanskis" - mein Gott! -, sondern Polanyis.
Also die realen historischen Geschehnisse.
Irgendwann in vorzivilisatorischen Zeiten ging es unseren Vorahnen etwa so wie Adam und Eva in Paradies: Sie ahnten nicht, dass sie nackt sind, und sie ahnten nicht, dass sie Individuen sind, weil sie ja keine waren… sie wurden von dem Rest der Welt nicht abgesondert, nicht isoliert, sie waren nicht PRIVAT… aber ASSOZIIERT waren sie eben auch nicht! Denn bei Assoziation geht es um eine Vereinigung von freien und unverwechselbaren Individuen, die sich als Individuen auch begreifen… und als Individuen BEWUSST und emanzipiert handeln können. Das alles trifft auf vorzivilisatorische Zeiten natürlich nicht zu.
Unsere Vorahnen bildeten eine Einheit mit allen ihren Artgenossen und überhaupt mit der Welt (unter Einheit meine ich nicht unbedingt friedliche Verhältnisse, sondern so eine Art der Wahrnehmung, die das eigene „Ich“ nicht als getrennt von der Welt und nicht als emanzipiert begreifen kann), aber keine aus freien Willen, keine aus einer bewussten Entscheidung, sondern so eine, die ja auch z.B. alle Tiere bildeten. Und sie waren sozusagen im Paradies, so wie Adam und Eva… nicht weil ihr Leben so glücklich war, sondern weil ihnen die Begriffe von Glück und Unglück gar nicht bekannt wurden. Und sie haben genauso wenig über ihr Handeln nachgedacht, wie wenig Adam und Eva im Paradies nachgedacht haben… denn um über eigenes Handeln zu reflektieren, muss man sich schon als Individuum begreifen.
Für Adam und Eva wurde alles vorentschieden und vorgeschrieben. Durch Gott. Für unsere Vorahnen eben auch. Durch wen aber? Durch Überlebensprogramme im Unterbewusstsein, mit denen man zur Welt kommt. Reflexe. Instinkte. Plus bloßes Nachahmen, wodurch man am Anfang des Lebens lernt, wie man sich in einer oder anderen Situation verhält, wie man sich Nahrung holt usw., usf. Aber die meisten Programme waren im Unterbewusstsein schon drin, wenn man zur Welt kam. Ansonsten wäre das Überleben viel problematischer oder vielleicht gar nicht möglich.
Nun, was war geschehen, dass man aus diesem ursprünglichen bewusstfreien Paradies „vertrieben“ wurde? Was spielte die Rolle des Baums der Erkenntnis? Wie kam man zur Erkenntnis, dass man individuell, abgesondert, privat ist? Es sollten die Sachen passieren, die in die Programmen nicht passten bzw. die die Programme brachen, so dass man keine Möglichkeit mehr hatte, weiterhin unbewusst den Programmen zu folgen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Und was konnte es sein? Eine göttliche Offenbarung mit Sicherheit nicht, denn – sollte so eine Offenbarung tatsächlich stattgefunden haben – wäre sie gar nicht wahrgenommen, weil sie in das Weltbild nicht gepasst hätte. Aber was dann? Die Konfrontation mit den Sachen, die man nicht umgehen kann, die man wahrnehmen MUSS, ob sie ins Weltbild passen oder nicht… d.h. Verletzungen, Krankheiten und andere Katastrophen. Wenn es einen selbst getroffen hatte, fühlte man sich abgesondert, isoliert, nicht mehr zugehörend, individuell… und wenn es einen anderen getroffen hatte, dann betrachtete man diesen anderen als abgesondert und isoliert. Und so fing das Bewusstsein an, dass die menschliche Existenz individuell (also nicht in ein allgemeines Programm reinpassend) ist. Es steht ja nicht umsonst in der Bibel, dass dem Menschen beim Vertreiben aus Paradies alle mögliche Leiden angehängt werden. Die Befreiung von der ursprünglichen Einheit mit der Welt ist mit Leiden zwangsweise verbunden. Und so entstand ein PRIVATES Individuum, das von allen möglichen Ängsten geplagt ist und dementsprechend sein Leben und das Leben von seinen Nächsten aufbaut.
Ob ein Weg zu einem assoziierten Individuum möglich ist? Dieser Weg ist nicht nur möglich, sondern unumgänglich. Jeder Mensch spürt in sich dieser Drang nach Nähe, Einheit, Verbindungen, harmonische Weltwahrnehmung und harmonische Existenz. Ein Drang nach dem verlorenen Paradies. Aber es gibt kein Weg ins Paradies zurück. Wir werden nie wieder unwissend und von Programmen gesteuert werden (d.h. von den Programmen sind wir zwar immer noch gesteuert, aber je weiter, desto weniger). Das ursprüngliche Paradies gibt es für uns nicht mehr und wird es nicht geben. Um unser Paradies zu bekommen, müssen wir zu Götter werden und unser Paradies (ein neues! ein bewusstes!) selbst schöpfen. Okay, das mit Götter klingt natürlich einigermaßen… na ja. Dann nennen wir es so, wie Sie es nennen: Assoziation von freien Individuen. Von emanzipierten Individuen. Die Individuen, die sich nicht BRAUCHEN, sondern LIEBEN. Die Individuen, die von keinen Ängsten geplagt sind, sondern die Welt ganz anders wahrnehmen und dementsprechend ganz anders aufbauen.
Wie gesagt, es ist gar nicht die Frage, ob dieser Weg möglich ist. Es ist nur die Frage, inwiefern es uns bewusst wird, was um uns herum und mit uns geschieht, und wir unser Fortschreiten auf diesem Weg beschleunigen können.
Hm, ja… es gibt übrigens noch eine Stelle in der Bibel (in Bezug aus Paradies), die ich ziemlich interessant finde, und zwar: „Dann sagte Gott: „Nun ist der Mensch wie einer von uns geworden und weiß, was gut und was schlecht ist. Es darf nicht sein, dass er auch noch vom Baum des Lebens isst. Sonst wird er ewig leben!““
Was ist dabei interessant? Zum einen, sagt Gott (der angeblich der einzige Gott sein sollte): „Einer von uns“! Gott war nicht alleine! Es gab „uns“, also andere Götter, die ihm gleich waren! Na wenn das keine Assoziation von freien emanzipierten fortgeschritten Individuen ist? Nein, das ist keine Ironie, ich meine es ernst!
Zum anderen, hat Gott was dagegen, dass die Menschen ewig leben. Warum wohl? Die Menschen sind doch keine ernsthafte Konkurrenz für Götter, warum dürfen sie nicht ewig leben, wäre es dem Gott nicht egal bzw. könnte er nicht mal barmherzig werden, so wie es halt zum Gottsein gehört? Nein, könnte er nicht bzw. das WAR Barmherzigkeit… denn der Mensch nimmt entweder den Weg des geringsten Widerstandes oder den Weg des größten Reizes. Wäre der Mensch – so, wie er jetzt ist, ein privates Individuum – unsterblich geworden, würde er den Weg des geringsten Widerstandes nehmen, sich das Leben bequem machen… und nie zum Gott, nie zum emanzipierten, freien, assoziierten Individuum geworden. Die Angst vom Tod und die Angst von Leiden sind die größten Reize, die den Menschen zum Fortschritt treiben (z.B. zur Entwicklung der Medizin und im Allgemeinen zum Aneignen des Wissens, zu neuen Erkenntnissen)… und auch zu Liebe zu den anderen Menschen, zum Erkennen und entwickeln der eigenen Gefühlen, der eigenen Weltwahrnehmung.
So, nun liegt es aber an uns (allen), ob wir uns zu unserer Entwicklung von Ängsten treiben lassen oder ob wir den Weg in Unsterblichkeit bewusst betreten.
Ich denke über die Bibel auch so. Und die Geschichte von Adam und Eva haben Sie sehr schön erklärt. Sie hat ja viele Facetten, aber diese hier hat sie ganz bestimmt auch. Eva kam etwas zum Bewußtsein, das Adam zu dem Zeitpunt noch nicht zum Bewußtsein gekommen war, nämlich daß man die Frucht vom verbotenen Baum dennoch essen könnte. Damit war sie individuiert. Und das hatte Folgen. Die moderne "Individualisierung", zu der es in der Neuzeit gekommen ist, die war ein spätes Produkt der Menschheitsgeschichte. Sie ist nicht allein, aber u.a. dem Kapitalismus zu verdanken.
Jetzt haben wir aber gleichzeitig gepostet... meine Interpretation ist im Kommentar unten. :) Als Urururururur(ur)Enkelin von Eva bin ich aber von Ihrer Interpretation natürlich geschmeichelt... auch wenn ich selbst anders interpretiere. :)
Okay, ich habe Ihre Meinung verstanden... :) ich antworte morgen, kann zu so einer späten Stunde nicht gut denken und bin im Begriff, schlaffen zu gehen...
Gute Nacht für heute.
Ihre Exegese der Worte Gottes in der Paradiesgeschichte ist ganz wunderbar, und auch was Sie zur Assoziation freier Individuen schreiben („Die Individuen, die sich nicht brauchen, sondern lieben“).
Die menschheitsgeschichtliche Entstehung der Individualisierung würde ich mir vermittlungsreicher vorstellen. Ich würde nicht sagen, was der Epoche der Individualisierung vorausging, waren Epochen, wo der Mensch noch ähnlich wie das Tier nach „Programmen“ (angeborenen automatischen Mechanismen) funktionierte. Nein, dieser Epoche sind mehrere vorausgegangen, in der sich die Menschen auch immer schon bewußt als Menschen selbst erfunden haben, nur daß in diesen Selbsterfindungen früherer Epochen das Individuum noch keinen (großen) Stellenwert hatte; es war noch nicht e n t d e c k t , es mußte nämlich erst mal entdeckt werden. Diese Epochen, die der Epoche der Individualisierung vorausgingen, umfassen schon alles, was wir von der Menschheitsgeschichte überhaupt wissen, die Anfänge durchaus eingeschlossen. (Ich habe Einiges dazu im Kapitel über „Polanyis Beitrag“ skizziert, Stichwort metaphorischer und subsumtiver Diskurs.) Die Menschen haben also von A n f a n g an, und eben a n d e r s als die anderen Tiere, „ k ü n s t l i c h “ statt nach internen automatischen Programmen getickt. Die künstliche Selbsterfindung des Menschen hat tatsächlich schon mit „Adam und Eva“ begonnen. Die Entstehung der individualisierten Gesellschaft muß man sich also als Übergang von einer Künstlichkeit, die selbst nicht die erste war, zu einer anderen Künstlichkeit vorstellen.
Die Vorgeschichte der Freiheit des Individuums ist das Thema von Hegels Geschichtsphilosophie. Die alten Griechen, dann die Römer mit ihrem Rechtsstaat, daneben die jüdische und christliche Religion sind wesentliche Vorstufen, obwohl die eigentliche „Individualisierung“ auch wieder den Bruch mit „Rom“ (Caesarentum, also „Prinzipat“, also Fürsten) wie autoritärer Kirche voraussetzt und historisch gegen diese Mächte ja auch erkämpft wurde.
Aber das nur sozusagen als Randbemerkung. Wichtig ist die Haltung, die Sie so schön entschieden zum Ausdruck bringen: „Es ist gar nicht die Frage, ob dieser Weg [zur freien Assoziation freier Individuen] möglich ist. Es ist nur die Frage, inwiefern es uns bewusst wird, was um uns herum und mit uns geschieht, und wir unser Fortschreiten auf diesem Weg beschleunigen können.“
Lieber Michael,
es freut mich sehr, dass Ihnen meine Haltung zuspricht und meine Exegese gefällt. :)
Ihre "Randbemerkung" hat mich nicht wirklich überzeugt, weil ich Einiges nicht verstanden habe bzw. mir ausführliche Argumente zu Ihren Thesen fehlen. Aber ich sehe, dass Sie in diesem Bereich viel mehr Wissen als ich und auch viel mehr reflektiert als ich haben... daher vertraue ich Ihnen (erst mal). Später, wenn ich zu Ihrem Kapitel über „Polanyis Beitrag“ komme, werde ich mich gerne mit diesen Fragen in Details auseinandersetzen. :)
Zu Ihrem obigen Kommentar (@Michael Jäger schrieb am 16.04.2012 um 23:22) schreibe ich heute Abend eine Antwort. :)
Lieber Michael,
"aber man kann wiederum gerade hier auch sagen, daß der z e n t r a l e I m p u l s von Marx in der SU nicht aufgenommen wurde – und da würde ich nun wirklich sagen: nicht aus bösem Willen, sondern weil man es nicht verstanden hat -, der eben darin bestand, gegen die Freiheit d e s P r i v a t e g o i s t e n die Freiheit d e s I n d i v i d u u m s , das als Individuum sich solidarisch verhält, zu setzen, u n d n i c h t das Kollektiv unter einer Leitung."
da haben Sie völlig Recht, das Kollektiv war in SU etwas Heiliges, sich gegen Kollektiv zu stemmen war ein Verbrechen... das Wort "Sowjet" bedeutet übrigens "Rat", also Kollektiv... und, na ja, am Anfang war das Wort, und danach hat sich das Wort verselbstständigt. "Die Sprache ist das Haus des Seins, darin wohnend existiert der Mensch", schrieb Heidegger. Das Kollektiv war unser Haus... etwas anderes konnten wir uns gar nicht vorstellen. Das kam aber sicherlich nicht erst mit Bolschewiki, das war schon vorher im Mentalität des Volkes fest geankert... daher wurde auch der Marx missverstanden.
"Sie stellen m.E. richtig fest, daß das Problem bei Marx kaum in den Sachen liegt, die er bedacht hat, umso mehr aber in denen, die er nicht bedacht hat. Er hat dadurch in der Wirkung „böse“ negative Möglichkeitsräume geschaffen. Und das ist eben so ein Punkt, wo ich meinen würde, man macht es sich zu leicht, wenn man sagt, Marx wollte doch gar keine Verbrechen, er ist also ganz unschuldig usf."
"Hierzu sage ich, man kann Marx von dieser Entwicklung nicht frei sprechen – es hängt ganz exakt mit der Frage zusammen, ob man bereit ist, bei Verneinung des Kapitals „trotzdem“ die Ware-Geld-Beziehung anzuerkennen (d.h. zu begreifen, daß das gar kein „trotzdem“ ist), und Marx w a r dazu nicht bereit -,"
hier nimmt die Sache so eine interessante Richtung, dass ich unwillkürlich schmunzeln muss, obwohl das Thema so ernst und sogar tragisch ist... hätte ich je gedacht, dass es irgendwann so kommt, dass ICH den Marx von IHNEN in Schutz nehmen werde? Logisch wäre, wenn es umgekehrt passiert hätte, wenn Sie den Marx verteidigen würden und ich murren (wie es ja bis jetzt gelegentlich geschah).
Aber, ja, ich nehme Marx in Schutz... ich finde es nicht so ganz fair, wenn Sie sagen, er hätte negative Möglichkeitsräume geschaffen, er wäre nicht ganz unschuldig und man könne ihn nicht frei sprechen... so eine ungeheuerliche Verantwortung wäre zu viel für einen Menschen... hätte er sich vorstellen können, wie die Sachen sich entwickeln? Das mit "nicht frei sprechen" klingt schon fast wie eine Anklage... aber sind wir nicht selbst in einem Glashaus? Wie werden denn die Auswirkungen von unserem Handeln sein? Und das mit "schuldig" und "unschuldig"... ich bin eine hartnäckige Vertreterin der Meinung von Lew Tolstoj, dass es auf dieser Welt keine Schuldige und keine Unschuldige gibt... :)
"Geschichte funktioniert weder nach dem Lehrbuch eines Theoretikers noch gegen es. Was da alles für Faktoren wirksam waren – ich glaube, es ist noch niemandem gelungen, das schlüssig zusammenzustellen."
Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung. :)
"Wenn Sie an Sachen wie „Morde, Folterungen, Vergewaltigungen“ denken, wird die Sache noch komplizierter. Denn das sind Sachen, die einerseits sozusagen menschlich immer vorgekommen sind, deren von Solschenizyn beschriebene Wucht aber doch damit zusammenhängt, daß das im Rahmen einer Revolution geschah, die sich von Anfang an über den Rechtsstaat stellte (Lenin: Es könne in der Revolution nichts Höheres geben als das „Gewissen“ der Revolutionäre – er hat da im Grunde wie Nietzsche gedacht)."
Ähm, na ja, ein Prozess, der sieben Jahrzehnten gedauert hat, würde ich eigentlich nicht als Revolution bezeichnen... und auch wenn man sich über den Rechtsstaat stellt und einzig und alleine auf dem Gewissen der Revolutionäre aufbaut... ist es nicht irgendwie merkwürdig, dass das Gewissen (!) der Revolutionäre (!) zu solchen Ereignissen führt, wie massenhafte Morde, Folterungen und Vergewaltigungen? Dabei waren diese Revolutionäre (zumindest viele von denen) gute hochgebildete intelligente Menschen, für die Revolution heilig war und die für Revolution, für IDEE ihr Leben eingesetzt haben.
Wie konnte alles so schief gehen? Wie konnte alles so schrecklich werden, wenn es so schön gedacht wurde?
Das ist das Besondere an der ganzen Geschichte, dass die ganze Aggression, die ganze Zerstörung nicht nach außen gerichtet wurde (wie es z.B. bei der Nazi in Deutschland der Fall war), sondern an sich selbst, ans eigene Volk und ans eigene Land. Autoaggression, Selbstzerstörung... ein Volk, das sich selbst zerfleischt, und das im Namen einer höheren Idee (anstatt für diese Idee zu LEBEN, sich über sie zu erfreuen und diese Idee dadurch lebendig zu machen!).
Meine Hypothese dazu: Es ist der Selbstopferdrang, der im kollektiven Unterbewusstsein des russischen Volkes einen unglaublich hohen Wert hat... sich selbst für etwas zu opfern, was über den Alltag hinaus geht... für Gott, für Idee, für geliebten Menschen. Und so wird permanent einen Altar gesucht (ohne dass es bewusst wird!). Und die Situation wird immer wieder so aufgebaut (unbewusst!), dass die Opfer notwendig werden bzw. als notwendig betrachtet werden, und dass die Opfergabe dann im Endeffekt auch stattfindet. Das ist ein Fraktal, der über mehrere Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinaus geht. Wie genau es zu solchen historischen Entwicklungen kam, das könnte ich nicht ausführlich vortragen, da sollte man sehr intensiv und sehr tief forschen, was ich nicht getan habe... ich äußere hier nur einige Beobachtungen und Schlussfolgerungen von mir. Das ist übrigens gar nicht falsch, dass man sich zu einer höheren Idee hingezogen fühlt, ganz im Gegenteil, ich finde, das ist genau das richtige Leben... das Problem in Russland aber, dass da solche Tendenzen (fast) immer die Märtyrertum-Züge annehmen, und dass man da für die Idee nicht lebt, sondern stirbt.
Das alles konnte Marx nicht wissen...
Liebe Lara, ich gehe Ihre Anmerkungen der Reihe nach durch:
„Das Wort Sowjet bedeutet ‚Rat‘“ – ja, aber ein Rat muß nicht ein Kollektiv im Sinne von Kollektivismus sein. Ein Ratschlag, eine Beratung: Es ist doch vollkommen vernünftig, so etwas zu institutionalisieren, und es ist mit „Individualiserung“ vollkommen verträglich. Also ich meine, Räte können schon eine gute Sache sein. Obwohl meiner Überzeugung nach eine „Rätedemokratie“ die parlamentarische Demokratie zu ergänzen, nicht aber ersetzen kann. In der SU wurden die Räte sehr schnell entmachtet – schon zu Lenins Zeiten -, das Wort „Sowjet“ wurde dann beibehalten, aber nicht die Sache.
Über die Frage der Schuld gibt es verschiedene Auffassungen schon auf der allgemeinen, philosophischen Ebene. Ich neige zu der, die sagt, man mache sich durch die Tat schuldig, und das dürfe nicht dazu führen, daß man nichts tue. Denn: Taten, die mit solchem Bewußtsein „begangen“ werden, werden doch wenigstens vorsichtig begangen. Bei irgendeinem Theoretiker habe ich das Postulat gelesen, man dürfe nur Gesellschaftsexperimente vorschlagen, von denen die Gesellschaft im Fall des Schiefgehens nicht zerstört wird. Das wäre so eine Vorsicht. Man muß natürlich hinzuführen, daß revolutionäre Entwicklungen, die von außen als „Gesellschaftsexperimente“ erscheinen, meist mit einer gewissen inneren Notwendigkeit geschehen, und nicht weil ein Theoretiker ein „Experiment“ vorgeschlagen hat. Aber einen Anteil haben die Theoretiker und überhaupt alle „Täter“ und verwickeln sich sicher in Schuld – ich persönlich finde es besser, ihnen die Schuld dann zu vergeben, wenn sie so ist, daß sie vergeben werden kann, als zu sagen, Schuld oder Unschuld könnten ohnehin nicht unterschieden werden.
Wenn ein Theoretiker Dinge nicht bedenkt, die er wohl hätte bedenken können, verdient er auch Kritik.
Wie ich zu meiner Schande gestehen muß, habe ich von Lew Tolstoj noch keine Zeile gelesen. Ich sollte das jetzt mal tun. Was liest man denn am bestren, um seine Sicht von „Schuld und Unschuld“ zu erfahren?
Das Gewissen der Revolutionäre – Lenin hat das in der Situation 1917 gesagt, also wirklich mitten in der Revolution. Und es hatte sofort Folgen, denken Sie nur an die Tscheka, die mit seiner Billigung eingerichtet wurde und auf der Stelle mit ihrer furchtbaren Praxis begann, sie wartete keineswegs, bis Stalin auf der Bildfläche erschien. Ja, das Gewissen der Revolutionäre kann zu Morden und Vergewaltigungen führen: Das Gewissen Lenins hätte nie dazu geführt, daß Lenin gemordet oder vergewaltigt hätte, aber es hat dazu geführt, daß er, mit seinem guten Gewissen, hochgebildet und heroisch, wie er war, a l l e s vom Gewissen a l l e r Revolutionäre einschließlich derer in der Tscheka abhängig macht.
Nur am Rande: Die Nazis richteten die Aggression nach außen, aber natürlich a u c h nach innen. Siehe Judenvernichtung. Nach den Juden sollten die Herzkranken und ihre Familien vernichtet werden. Usw.
Einen schönen Tag noch!
"Man muss auch fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich über die Andere Gesellschaft im Voraus Gedanken zu machen. Manche sagen, besser sei es, sich nur auf Prinzipien des Wegs zu ihr zu einigen und alles Sonstige der selbstbestimmten Tat der Beteiligten zu überlassen. Denn wer die Elemente des Neuen konkret ausmale, fordere praktisch zur Unterordnung unter sie auf, handle also autoritär."
Sich konkrete Gedanken zu machen ist der sinnvollste und notwendige Beginn eines Veränderungsprozesses. Es bedarf Grundlagen für Diskussionen, wie der Weg gemeinsam gegangen, wie der Prozess gestaltet werden soll. Oder mit anderen Worten, wir brauchen eine "Leitidee", wie das ideale Endergebnis aussehen soll. Daraufhin werden konkrete Schritte der Umsetzung geplant und in Gang gesetzt. Zum Ziel können dann viele Wege führen. Auch auf getrennten Wegen.
Wenn ich eine Wanderung plane, kenne ich das Ziel (normalerweise) und informiere mich mit der Landkarte (Planung) über den Weg dahin. Wiederum gibt es verschiedene Wege (normalerweise) dorthin.
Was soll es ergeben, sich über Prinzipien des Weges zu einigen und das Ziel nicht zu kennen? Hier ist der Weg nicht das Ziel!
Mag sein, dass es 2 Varianten der Vorgehensweise gibt, diejenige vom Ziel aus und diejenige, die noch keine konkrete Vorstellungen hat und das Ziel als Bewegungsgröße sich herauskristallisieren lässt. Erste Variante hat meinen eindeutigen Vorzug, da man auch hier auf dem Weg noch Modifikationen am Ziel vornehmen kann. Es ist sogar wahrscheinlich, dass dies eher normal ist.
Es darf keine "Dogmen" mehr geben. Nie wieder in den Fehler der "Absolutsetzung" von Theorien zu fallen und das Individuum mal "vorübergehend" als Objekt der Theorie unterzuordnen.
"..wobei ich unter "gesellschaftlicher Selbstbestimmung" die Selbstbestimmtheit einer Gesamtheit von Individuen, ja von "Individualisten" verstehe."
Ja und nochmals ja! Nur so kann ich mir die neue Gesellschaft vorstellen. Und so hat es auch Marx gesehen, wie Sie treffend vermerkt haben.
"Das Gegenteil des Privaten ist der nicht private Individualismus - eine wahrlich feine Unterscheidung!"
Eine schöne Definition, die ich so noch nicht gefunden hatte!
"..Was kann das sein: ein nicht "privates", sondern "assoziiertes" Individuum, das in gesellschaftlicher Verantwortung agiert - sogar dann, wenn es als homo oeconomicus auftritt - und gleichwohl für sich als Individuum frei ist?"
Es wäre zu einfach (und überheblich), wenn ich an dieserStelle schon einen Versuch wagen würde.
Lieber Herr Jäger,
bitte kritische Anmerkung von Ihnen und kein "Blatt vor den Mund nehmen", wenn die Kommentare von mir nicht hilfreich sind. Oder, wie kann ich es besser machen?
Lieber Pleifel, Sie scheinen genauso zu denken wie ich. Danke!
Ich versuche auf allen möglichen Wegen Kontak zu bekommen. Firefox sperrt mir grundsätzlich den Zugang zu euch. möchte ein Abo. Frage kann ich das auch per email haben. Bin häufig unterwegs. Bitte um Info
Lieber Michael,
wie angedeutet, werde ich erst jetzt sukzessive auf Deine "Andere Gesellschaft" eingehen. Bin bei den Kommentaren erst bis vor Dietz angekommen, werde sie aber noch lesen, da alle sehr spannend zu sein scheinen.
Jetzt zu Beginn nur ein Einwand: Anarchisten haben andere Gesellschaftsentwürfe entwickelt. Wahrscheinlich gehst Du auch später darauf ein. Ich selbst werde in meiner nächsten Guinea Bissau-Folge (7) auf meine Kooperativgründung mit akephalen animistischen Ethnien (ohne Schriftsprache und zu 100% Analphabetismus bzgl. Staatssprache Portugiesisch, Lingua franca Kreolisch) eingehen, wo gerade das Problem der Assoziation von freien Individuen, wie mir scheint, wie "von selbst" funktioniert, ebenso wie bei bestimmten indigenen Völkern in Lateinamerika. Stichwort hier nur: Horizontale Gesellschaft ohne "Häuptlinge" (freie Assoziation von Familienoberhäuptern), gemeinsamer Besitz an Grund und Boden, wobei jungen Familien durch Beschluss aller Gemeindemitglieder Boden zur Nutzung zugewiesen wird, und gesellschaftliche Nassreisproduktion (auf Familienfeldern) aber nur durch gemeinschaftliche Deicharbeiten und gemeinschaftliche Feldbestellung möglich (von den Feldern einer Familie zur anderen arbeitend wegen der körperlichen Schwere der Arbeit und der einfachen Holzpflüge, d. h. keine Nutzung von Wasserbüffeln wie in Asien, die einzel-familiäre Bestellung möglich machen). D.h. Produktivkräfte wenig entwickelt bei gemeinsam entschiedener Nutzung von Gemeindeeigentum. Daneben gibt es selbstverständlich um das Familienhaus herum Familieneigentum für Kuhstall, Kleintierhaltung und Garten (Gemüse, Heilpflanzen, usw.). In meinem Beitrag wirst Du sehen, wie diese jahrtausendalte Produktionsweise in der Kooperative weiterentwickelt wurde. Die anfangs sozialistische Staatspartei hatte eine Idee für eine sozialistische Gesellschaft und den neuen sozialistischen Menschen, was aber total in die Hosen ging und in Bürgerkriege mündete. Einige Lehren aus diesem Kooperativprojekt und späteren waren mir immer wieder im Zusammenhang mit dem Aufbau von Solidar-Wirtschaft nützlich und auch im Kontext des "Sustainable Human Development" Paradigmas (was eine Andere Gesellschaft impliziert), u. a. von A. Sen entwickelt.
LG nach Berlin, CE
Lieber CE, danke, und auf deine Folge 7 bin ich gespannt. Viele Grüße, M.