(1) Eine unheimliche Entdeckung

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Ich will hier eine Weile über die Andere Gesellschaft nachdenken, von der immer mehr Menschen glauben, sie sei notwendig und müsse herbeigeführt werden. Die Geschichte, so sagen diese Menschen, zu denen ich mich selbst zähle, sei eben doch noch nicht zu Ende, wie dies 1990 vorschnell behauptet wurde; jetzt zeige die Weltfinanzkrise, dass man schon viel früher mit dem Nachdenken über das ganz Andere hätte beginnen sollen.

Wie kann man darüber nachdenken? Am besten indem man darüber redet, ist die erste Antwort, weil dann andere zuhören, mitreden, das eigene Nachdenken auf eine breitere Basis stellen, natürlich auch korrigieren. Die zweite Antwort ist, dass es, wenn wir von der Anderen Gesellschaft reden, nicht nur um eine Hoffnung geht. Diese Hoffnung bliebe kraftlos, redeten wir nicht über die Probleme, die heute untrennbar mit der Vorstellung der Anderen Gesellschaft verbunden sind.

Denn sie wurde jüngst schon einmal versucht, und was herauskam, war nicht befriedigend. Bei vielen war es eben diese historische Enttäuschung, die dazu führte, dass sie nicht noch einmal ihre Energie in eine Hoffnung zu investieren wagten. Wer heute über die Andere Gesellschaft nachdenkt, muss sich unweigerlich mit diesem ersten Versuch befassen, auch wenn er vielleicht lieber nur "nach vorn denken" würde. Denn er muss sich fragen, ob etwa diejenigen recht haben, die behaupten, der Weg in eine Andere Gesellschaft könne immer nur auf dieselbe Weise enden wie beim ersten Mal.

Man kann dieser Behauptung nicht rundweg die Plausibilität absprechen, wenn sie sich als Polemik gegen Menschen versteht, die weiterhin im Werk von Karl Marx eine Fundstelle oder den Schlüssel zum Begreifen des Wegs in eine Andere Gesellschaft sehen. Die Frage, ob Marx für die Entwicklung hin zum realen Sozialismus einschließlich des Stalinismus verantwortlich gemacht werden kann, ist unumgänglich. Sie ist auch fruchtbar. Denn Marx war ein Theoretiker: Wenn diese Frage gestellt wird, ist ein Raum der theoretischen Durchdringung des Gangs eröffnet, den die Geschichte der realsozialistischen wie unserer eigenen Gesellschaft genommen hat und sich anschickt, noch weiter zu nehmen. Womit allerdings nicht behauptet werden soll, als Theoretiker sei allein Marx interessant.

Im Gegenteil: Wenn wir den theoretischen Raum betreten, steht die Marxsche Theorie auf dem Prüfstand. Vielleicht kommt man zu dem Schluss, sie müsse gänzlich ad acta gelegt werden. Oder man findet weiterführende neben überholten Theorie-Elementen. Marx auszublenden wäre jedenfalls unredlich. Auch wer "nur" über ökologische Alternativen oder emanzipatorische Netzwerke nachdenkt, müsste sich das sagen, denn die Marxsche Behauptung, alle noch so gut gemeinten Alternativen müssten stets von Neuem am Kapitalismus scheitern, steht nun einmal immer noch im Raum, sie hat nicht ausgerechnet in der Finanzkrise an Plausibilität verloren.



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Man muss auch fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich über die Andere Gesellschaft im Voraus Gedanken zu machen. Manche sagen, besser sei es, sich nur auf Prinzipien des Wegs zu ihr zu einigen und alles Sonstige der selbstbestimmten Tat der Beteiligten zu überlassen. Denn wer die Elemente des Neuen konkret ausmale, fordere praktisch zur Unterordnung unter sie auf, handle also autoritär. Ich teile die Auffassung nicht. Sicher soll die Bestimmung dieser Elemente nicht von einer Stelle aus erfolgen, sondern an vielen Orten. Aber dann müssen Vorschläge zur Debatte gestellt werden, und ein Austausch muss beginnen. Möglichst viele sollten ihre Beiträge zur Konstruktion einer Anderen Gesellschaft veröffentlichen, damit alle Interessierten auf Vieles zurückgreifen können.

Überhaupt ist "zurückgreifen" ein wichtiges Stichwort. Es ist geschichtliche Erfahrung, dass in Momenten politischer Umwälzung auf Beiträge zurückgegriffen wird, die schon seit einiger Zeit vorliegen. Weil die Zeit dann immer auch drängt. Es wäre zu spät, würde Grundsätzliches dann erst entdeckt, begänne dann erst eine Debatte darüber; vielmehr hat ein solcher Moment den Charakter eines Zeitfensters, in dem das Grundsätzliche schnell umgesetzt werden muss.



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Worauf richtet sich die Hoffnung, welche Probleme sind aufgeworfen? Was ist "grundsätzlich"? Mit welcher ersten Frage fangen wir an?

Für mich ist die Ausgangsfrage die, ob sich das gefährliche Chaos, das die kapitalistische Produktionsweise ökonomisch in Abständen, ökologisch in zunehmender Progression anrichtet, durch gesellschaftliche Selbstbestimmung in den Griff bekommen lässt - ohne dass die gesellschaftliche Komplexität, die Dynamik, die Freiheit darunter leiden -, wobei ich unter "gesellschaftlicher Selbstbestimmung" die Selbstbestimmtheit einer Gesamtheit von Individuen, ja von "Individualisten" verstehe. Ich will die Frage der Anderen Gesellschaft keineswegs auf diese ökonomisch-ökologische Dimension verkürzen, halte sie aber für grundlegend, jedenfalls für konstitutiv.

Mit ihr sind wir in den Problemen schon mitten drin. Denn eine gängige Antwort lautet ja, wer eine Gesellschaft von Individualisten wolle, könne nicht gleichzeitig eine Andere Gesellschaft erstreben, weil Individualismus und Kapitalismus untrennbar voneinander seien. Besonders wenn noch der Ausdruck "Kapitalismus" durch den Ausdruck "freie Marktwirtschaft" ersetzt wird, ist das eine Auskunft, die hochplausibel scheint. Und nun glaubt man doch, Marx habe nicht nur diese Antwort bekämpft, sondern schon die Frage nach ihr. Er habe nicht nur den Kapitalismus, sondern ineins damit auch den Individualismus ersetzen wollen - die Ausdrücke scheinen es schon anzuzeigen: - durch "Sozialismus", "Kommunismus".

Das ist ein Irrtum. Man soll sich - laut Marx! - einen "Kommunismus" vorstellen, der weiter nichts als eine Assoziation freier Individuen wäre, die ihre Freiheit als ihr Recht betrachten und praktisch zur Geltung bringen, die also Individualisten sind. Wobei es diesen Menschen aber gelänge, ökonomisches Chaos, ökologische Destruktion und alle sich damit verbindende Ungerechtigkeit gemeinsam in den Griff zu bekommen und schrittweise zu beseitigen.

Eine krassere Form, sich der Anderen Gesellschaft als eines Problems bewusst zu sein, wird es kaum geben.

Wurde Marx im realen Sozialismus, der gewiss keine auf Individualismus gegründete Gesellschaft war, nur missverstanden? Wahrscheinlich nicht. Nicht in jeder Hinsicht! Aber vielleicht gerade im Grundsätzlichsten? Der DDR-Dichter Stephan Hermlin hat das geglaubt. In seinem 1979 veröffentlichten Prosaband Abendlicht macht ein ungefähr Fünfzigjähriger "eine unheimliche Entdeckung":

"Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren" - Hermlin spricht von seiner Marxlektüre -, "befand sich einer, der folgendermaßen lautete: 'An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, dass der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: '... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.'"

In der Tat, das war Marx' Programm. Allerdings hat der von Hermlin erst falsch, dann richtig zitierte Satz noch keine große Beweiskraft, denn er ist sinngemäß von Rousseau übernommen und diente nicht nur Marx, sondern auch dem Liberalismus zum Leitfaden. Aber Marx war es ernst damit. Der Beweis ist, dass er daran weiterdachte. In den Grundrissen (dem Rohentwurf zu seinem Hauptwerk Das Kapital) formuliert er den Gegensatz von kapitalistischer und kommunistischer Ökonomie folgendermaßen: "Der private Austausch [...] steht im Gegensatz [...] zu dem freien Austausch von Individuen, die assoziiert sind [...]." (S. 76 in der gängigen MEW-Ausgabe.)

"Privat" sind die Akteure im kapitalistischen Warentausch, "Assoziation" bezeichnet die kommunistische Alternative. Marx sagt also, einen privaten Individualismus gebe es zwar und er präge die Akteure im Kapitalismus, aber Individualismus sei nicht das Gleiche wie Individualismus. Und Austausch nicht das Gleiche wie Austausch. Das klingt, als ob er gar kein Gegner der "Tauschgesellschaft" gewesen ist.

Das Gegenteil des Privaten ist der nicht private Individualismus - eine wahrlich feine Unterscheidung! Wer darauf kommt, muss vorher viel nachgedacht haben, und es muss ihm am Herzen gelegen haben. Aber so fein ist die Unterscheidung gar nicht, sie ist es nur im Moment ihrer Entdeckung. Es kommen ja neben privaten Individuen auch private Kollektive vor. Eine Nation zum Beispiel, die nur für sich selbst sorgt und den Hunger in anderen Nationen ausblendet, ist eine private Nation. Oder nehmen wir eine Aktiengesellschaft, die von der "Privatisierung" profitiert: So spricht man nicht nur deshalb, weil Gewinne an Individuen ausgeschüttet werden, sondern auch weil die Aktiengesellschaft als Gesellschaft Sonderinteressen hat. "Privat" heißt nicht "individuell", sondern "abgesondert". Daher gilt umgekehrt, dass "individuell" nicht "privat" heißen muss.

Wir lesen weiter: "Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist frei gesetzt." (S. 513 f.)

Was kann das sein: ein nicht "privates", sondern "assoziiertes" Individuum, das in gesellschaftlicher Verantwortung agiert - sogar dann, wenn es als homo oeconomicus auftritt - und gleichwohl für sich als Individuum frei ist? Ist das auch nur logisch möglich? Ist es praktisch möglich? Warum gelang es nicht beim ersten Anlauf? Warum wurde es nicht einmal angestrebt? Eine gute Hoffnung ist es auf jeden Fall.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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