(104/1) Musik und Gesellschaft

Umbau des Geldes "Die Andere Gesellschaft": Vierter Teil, erste Hälfte des zweiten Eintrags im zehnten Kapitel

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Distanzloses Geld

Wie im vorigen Exkurs "über Liebe und Gesellschaft" geht es mir auch in diesem darum, eine These zum Geld, wie es in einer bestimmten Epoche geworden ist, an einem analogen, historisch nahezu gleichzeitig aufgetretenen Phänomen ganz anderer Art zu illustrieren. Die These wurde am Anfang der vorigen Notiz noch einmal in Erinnerung gerufen. In short handelt es sich darum, dass tauschfähiges, zur beliebigen individuellen Verwendung freigegebenes Geld früher einmal nur in den Grenzen von etwas funktioniert hat, das ich "Gesellschaftsgeld" nenne. Geld war zwiefach vorhanden, stand gleichsam in Distanz zu sich selber.

Es folgte eine Zeit, in der die gesellschaftsgeldliche Dimension immer mehr ins "individuelle Geld" hineingenommen wurde, um schließlich ganz mit ihm zu verschmelzen. Wir sind wohl bereits am Ende dieses Prozesses angelangt. Er überschritt mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise eine Schwelle und machte von da an auch die Golddeckung von Geld, letzte Spur eines vom Individualgeld dinglich verschiedenen Gesellschaftsgeldes, mehr und mehr illusorisch, bis auch sie noch völlig verschwand.

Der Prozess hat zur Folge, dass die gesellschaftsgeldliche Dimension im Individualgeld nur noch mitgeschleppt wird wie eine verachtete Gefangene, während jenes, siegreich zwar, doch auf sich verwiesen und mit sich überfordert, von Krise zu Krise taumelt. Ich plädiere daher für ein vom Individualgeld wieder getrenntes Gesellschaftsgeld, das aber anders als das einstmalige kein von ihm getrenntes Ding sein soll, sondern in den geldmäßigen Konsequenzen allgemeiner ökonomischer Wahlen bestünde, die in der Anderen Gesellschaft periodisch abgehalten würden. Die historische Gesamtentwicklung wäre damit, wenn man will, von der These über die Antithese zur Synthese gelangt.

Tristan und Isolde

Im vorigen Exkurs wurde erörtert, wie auch in der Liebe die historische Tendenz wirkte und wirkt, ein von ihr verschiedenes Gesellschaftliches, zu dem sie sich doch immer verhalten hat, mit sich völlig zu verschmelzen, dadurch an den Rand zu drängen und in der Folge sich selbst zu überfordern. Wenn wir jetzt in gleicher Weise die Musik erörtern, ist der Übergang nicht schwer, denn hier wird Liebe gern behandelt und auch Gesellschaftliches teils unmittelbar zum Thema gemacht, teils hinterlässt es Spuren in den musikalischen Formen. Wir können zunächst konstatieren, dass die musikalische Entwicklung unsere Überlegungen zur Liebe auf ihre Art nicht nur bestätigt, sondern auch vertieft.

Es ist einfach, auf Wagners Musikdrama Tristan und Isolde zu verweisen, aber das ist auch wirklich der Beleg, der zuerst genannt werden muss. Das berühmte Tristan-Vorspiel, dessen Eingangsakkord und -tonfolge als Vorschein der späteren "atonalen" Kompositionsweise gilt, stellt vordergründig die Gefühle zweier ausweglos auf sich zurückgeworfener Liebender dar. Das Drama wird entfalten, wie sie den Kontakt zur Gesellschaft völlig verlieren und deshalb nur untergehen können. Denn selbst der Verzicht des Königs Marke auf Isolde, die ihm zur Gattin bestimmt war, kann die Katastrophe nicht aufhalten, in der die Liebenden sich selbst vernichten. Auf Markes Frage, warum Tristan, sein Freund, ihm solche Schmach bereite, antwortet der, das könne er nicht sagen, "und was du frägst, das kannst du nie erfahren". Immerhin so viel sind die beiden zu sagen imstande, dass sie, statt sich noch als Glieder der Gesellschaft anzusehen - oder der "Welt", wie Tristan sich ausdrückt -, einem "fremden Land" zugehörig geworden sind, in dem "der Sonne Licht nicht scheint". Als musikalischen Reflex dieser Haltung im Tristan-Vorspiel wird man den Umstand bewerten dürfen, dass es, obwohl in a-moll gehalten, den Ton a in seiner Funktion als Grundton immer nur umkreist, ohne ihn je zu erreichen.

Wenn man dies Vorspiel anhört, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass weit mehr verhandelt wird als "nur" die Liebe, oder eben, sie selbst wird derart behandelt, dass sie die ganze "Welt" einsaugt, sich mit ihr gleichsam aufpumpt - bis dahin, dass sie platzen muss wie ein Luftballon. Übrigens eine Erfahrung, die man auch beim Anhören von Peter Tschaikowskis Konzertouvertüre Romeo und Julia macht. Deren Musiksprache nämlich scheint eher das Vernichtetwerden eines Millionenkriegsheers zu beschreiben als den Liebestod zweier junger Menschen. Was Tschaikowski sich dabei gedacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, doch über Wagners Gedanken beim Tristan-Vorspiel sind wir gut unterrichtet, weil der Komponist das prägende Motiv schon vorher in einem Lied hat erklingen lassen, zu dem seine zeitweilige Geliebte Mathilde Wesendonk den Text schrieb. Es heißt "Im Treibhaus" und handelt von der Liebe. Eine Metapher wird ausgemalt:

Hochgewölbte Blätterkronen,
Baldachine von Smaragd,
Kinder ihr aus fernen Zonen,
Saget mir, warum ihr klagt?

Schweigend neiget ihr die Zweige,
Malet Zeichen in die Luft,
Und der Leiden stummer Zeuge,
Steiget aufwärts süßer Duft.

Weit in sehnendem Verlangen
Breitet ihr die Arme aus,
Und umschlinget wahnbefangen
Öde Leere nicht'gen Graus.

Wohl, ich weiß es, arme Pflanze:
Ein Geschicke teilen wir,
Ob umstrahlt von Licht und Glanze,
Unsre Heimat ist nicht hier!

Das "sehnende Verlangen" der Liebe greift also nach etwas, das gar nicht da ist - in die Leere, ins Nichts. Es reicht offenbar nicht, dass die "Blätterkronen" e i n a n d e r umschlingen, sondern etwas müsste hinzukommen, kommt aber nicht: die Sonne heißer Erdzonen, die "im Treibhaus" künstlich ersetzt wird, also eben fehlt, wie die Pflanzen sehr wohl spüren. Was fehlt, haben wir unter dem Gesichtspunkt erörtert, dass es die Gesellschaft sei. Eine Vertiefung des Themas liegt aber darin, dass es im Bild die Sonne ist, etwas Himmlisches, übersetzt die "himmlische Liebe", zu der sich die "irdische" ins Verhältnis setzen will, ohne es noch zu können. Tatsächlich hatte es Zeiten gegeben, in denen man glaubte, das Transzendente gesellschaftlich dingfest machen und so unter Einbezug der Liebe repräsentieren zu können: dadurch, dass die "Trauung" kirchlich vollzogen wurde. Das war vorbei, auch wenn man es noch äußerlich üben mochte. Wir sehen daran, unter welchen Umständen es überhaupt nur angeht, oder angehen könnte, dass in die private Liebe Gesellschaftliches sich einmischt, ohne Verlogenheit oder Peinlichkeit hervorzurufen: Es ginge nicht bloß "positivistisch" darum, sie in eine vorhandene Ordnung einzugliedern, sondern die Gesellschaft hätte eine Perspektive, "einen Traum", und die Liebenden würden ihn mitträumen und wären d e s h a l b mit ihr verträglich, derart dass ihnen die Ordnung gar nicht äußerlich erschiene.

Diese Vertiefung führt zu der Einsicht, dass es nicht "nur" die Liebe ist, deren Schicksal von solcher und vergleichbarer Musik des 19. Jahrhunderts beklagt wird, sondern der gesellschaftliche Sinnhorizont überhaupt. Was da "in sehnendem Verlangen die Arme ausbreitet", ist letztlich die Gesellschaft selber: deren klügste Köpfe nach dem Ende der kirchlichen Hegemonie entsetzt feststellen, dass ihr, der Gesellschaft nämlich, die Ziele abhanden gekommen sind und ihre Existenz ganz sinnlos zu werden droht. Friedrich Nietzsche ist einer dieser Köpfe, und ihm ist Gustav Mahler gefolgt, der in seiner 8. Sinfonie die Frage wörtlich aufwirft, wo das neue Ziel bleibt: Veni creator spiritus. In Nietzsches "Nihilismus"-Diagnose erkennt man übrigens die unmittelbare Weiterführung früher, noch an die 1848er Revolution anschließender Texte Richard Wagners.

Dass Wagners Liebesthematik in sich selbst auch Gesellschaftsthematik ist, muss dem Komponisten insofern ganz bewusst gewesen sein, als er anfangs Anhänger der Philosophie Ludwig Feuerbachs war, der sich eine auf "Liebe" basierende neue Gesellschaft erträumte. Sicher hat Wagner dann auch gesehen, dass die Verzweiflung König Markes nicht weniger tragisch ist als die Unmöglichkeit der Liebe Tristans und Isoldes zueinander. Feuerbachs Utopie hätte eben erfordert, dass a l l e d r e i in "Liebe" verbunden wären, tatsächlich aber wird Marke von den Liebenden ausgeworfen, als wäre er eine Sinnestäuschung - was Wagner inzwischen ganz plausibel findet, denn er ist zu einer anderen Philosophie konvertiert, zu Schopenhauer, der sich östlicher Weisheit annähert. Ersatzweise müssen nun die Liebenden Herrscher in jenem "fremden Land" werden, das über ihren Körperumfang nicht hinausreicht und im Grunde weiter nichts als ihr Grab ist.

Die Kreutzersonate

In der Operntradition, die auch von Wagners "Musikdramen" noch fortgesetzt wird, stand Liebe immer im Zentrum, so dass Wagner als Beleg für unsere Überlegung wenig aussagekräftig erscheint. Die Idee, diesen Exkurs "über Musik und Gesellschaft" zu schreiben, kam mir aber auch gar nicht da - Wagner fiel mir erst später ein -, sondern beim Anhören von Beethovens Violinsonaten anlässlich einer recht guten Neuaufnahme (von Kristóf Baráti und Klára Würtz, Brillant Classics 2012), die ich, um neue Lautsprecher zu testen, mit denen von Brahms verglich. Die Gedankenbahn, auf der ich mich gerade bewegte, eben die von "Geld, Liebe, Gesellschaft", ließ mich dann staunen, dass Brahms viel p r i v a t e r klingt als Beethoven, obwohl auch für diesen die Violinsonate ein Genre ist, in dem man persönliche Gefühle, Leidenschaft und gewiss auch Liebe thematisiert. Mit Wortmarken wie "Klassik versus Romantik" erfasst man diesen Unterschied nicht, zumal es Stimmen gibt, die schon in Beethoven einen Romantiker sehen.

Was könnte leidenschaftlicher sein als Beethovens Violinsonate Nr. 9, die berühmte "Kreutzersonate"? Doch wenn man im Anschluss die ebenso hinreißende d-moll-Sonate von Brahms anhört, fühlt man sich in dieselbe ausweglose Liebesparanoia geworfen, von der auch Tristan und Isolde geschlagen sind - während ja Beethovens Paar, Florestan und Leonore in der Oper Fidelio, nicht nur durch individuelle Liebe sondern auch, mit Brecht zu reden, eine "dritte Sache" verbunden ist (sie bekämpfen einen Tyrannen). Welche Verschiedenheit der musikalischen Mittel den Unterschied der Wirkung der Violinsonaten bedingt, will und kann ich hier nicht untersuchen (auf den Konzertsaal berechnet statt bloß für den Privatsalon gedacht sind beide); dafür aber, dass ich ihn mir nicht bloß einbilde, spricht als unverdächtiges Zeugnis Die Kreutzersonate, eine Novelle von Leo Tolstoi.

Unverdächtig insofern, als das ein ganz scheußlicher Text ist, dessen Ideen uns kalt lassen und sogar abstoßen. Der Protagonist meint, es sei verdammenswerter Ehebruch, wenn auch nur der Gatte die Gattin begehrt, weil Keuschheit beider Bestimmung sei. Das hindert den Gatten nicht, die Gattin in rasender Eifersucht umzubringen, wofür er vom Gericht auch noch freigesprochen wird, weil er mit dem Mord ja nur seine "Ehre" verteidigt habe. Weil Tolstois Leser sich die Augen gerieben haben, hat er in einem Nachwort noch ausdrücklich erklärt, im Protagonisten spreche er selber. Es blieb nicht verborgen, dass er mit der Novelle die eigene Frau angriff, die sich wehrte, indem sie ihrerseits an die Öffentlichkeit ging. So weit, so schlecht. Doch welche Rolle spielt die Kreutzersonate? Die Frau spielt Klavier, lernt einen Violinisten kennen, lädt ihn zu Hauskonzerten ein und wird seine Geliebte. Tolstoi muss daher über Musik reflektieren. So sehr er versucht, sein Urteil zurechtzubiegen, merkt man, dass er von Musik sehr viel versteht.

Das fängt schon damit an, dass er überhaupt ein Stück von Beethoven ins Zentrum stellt, denn wenn man die deutschen Musiknovellen des 19. Jahrhunderts daneben hält (siehe den Sammelband Musiknovellen des 19. Jahrhunderts, hg. von Reinhard Kiefer, Kassel Basel 1987, mit Texten von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Tieck, Hauff, Eichendorff, Bechstein, Mörike, Storm und Keller), stellt man fest, dass keine von ihnen über Mozarts Don Giovanni hinausgreift, wie es schon Goethes Schranke gewesen war. Tolstoi ist auf der Höhe - "Ich war ein großer Freund der Tonkunst", lässt er den Protagonisten sagen -, und wenn es auch etwas pauschal ist, dass dieser findet, "besonders das Geigenspiel" könne "auf empfindsame Wesen" einen schädlichen Einfluss ausüben, so ist doch die Präzision seines Kommentars zur Kreutzersonate umso erstaunlicher. Zumal sie zu seinen sonstigen Ideen kaum passt.

"Auf mich wenigstens", sagt nämlich der Protagonist, "übte das Stück eine entsetzliche Wirkung aus: es war mir, als offenbarten sich mir neue Gefühle, neue Möglichkeiten, von denen ich bisher keine Ahnung hatte." "Was dieses Neue war, das ich entdeckte - darüber vermochte ich mir nicht Rechenschaft abzulegen, aber die Erkenntnis dieses neuen Zustandes erfüllte mich mit großer Freude. In diesem neuen Zustand war kein Raum für die Eifersucht. Alle Leute, und unter ihnen auch meine Frau und Truchatschewski", der Violinspieler, "erschienen mir nun in ganz anderem Lichte. Dieses Tonstück entführte mich in eine andere Welt, in der es keine Eifersucht gab. Diese Eifersucht und das Gefühl, das sie hervorrief, erschienen mir als etwas so Nichtiges, dass es sich gar nicht lohnt, daran zu denken."

Also dass ihm Eifersucht vor dem Hintergrund der Vision einer anderen Welt als nichtig erscheint, d a r i n liegt die " e n t s e t z l i c h e Wirkung", die das Stück auf ihn ausübt. Es soll gesagt werden, dass es mit der Hoffnung auf etwas, das (noch) nicht da ist, die Wachheit der Gegenwartssinne betrügerisch umgarnt. Dann jedenfalls, wenn es zur falschen Zeit und am falschen Ort erklingt. Denn der Protagonist sagt auch: "Solche Stücke darf man nur unter gewissen wichtigen, bedeutsamen Umständen spielen, oder dann, wenn eine diesem Spiel entsprechende Tat vollbracht werden soll. Aber wenn man einen weder zu dem Ort passenden, noch der Zeit entsprechenden Sturm der Gefühle hervorruft, der in nichts zum Vorschein kommt - das kann nur verderblich wirken." Er scheut nicht die Verallgemeinerung: "In China steht die Tonkunst unter Staatsaufsicht, und so muss es auch sein."

Diese Urteile, so sehr sich alles in uns gegen sie empört, decken in der Musik eine Dimension auf, die andere übersehen, und es ist eben die gesellschaftliche, die uns in ihrem Verhältnis zur individuellen interessiert. Musik hat tatsächlich immer eine gesellschaftliche Dimension gehabt und stand d e s h a l b unter Staatsaufsicht, und übrigens nicht nur in China, sondern auch im antiken Griechenland, von dem wir uns selbst herleiten. In Sparta genau genommen: Dort beruft man Musiker "zur Stillung innerer Unruhen", wie wir bei Jacob Burckhardt lesen. "Der Kreter Thaletas wird schon mit Lykurg", dem mythischen Reformer des Stadtstaates, "zusammengebracht; seine Gesänge trieben durch Melodie und Rhythmus zu Gehorsam und Eintracht an, sie hatten etwas Würdiges und Beruhigendes." "Terpandros [...] wurde bei schwerer Unruhe berufen, weil das Orakel gesagt hatte, es würde Versöhnung eintreten, wenn der Methymnäer auf den Saiten spiele, und in der Tat umarmte man sich bald mit Tränen." In Sparta "war und blieb [die Musik] auffallend im Vordergrunde des Lebens und hatte ihre sehr ausgezeichnete Stelle auch im Felde und bei Festen." "Man wagte, Sparta allegorisch darzustellen als Weib mit einer Lyra." Dazu passt dann auch, dass "Aphrodite [...] in Sparta gefesselt gebildet [war], als Andeutung der ehelichen Treue". "Die Musik", fasst Burckhardt zusammen, "machten sie vor allem unschädlich und dann nützlich", derart dass sie nichts als "eine Heilkunst" war. (Griechische Kulturgeschichte Bd. I, München 1977, S. 108 ff.).

In "einigen Staaten" Griechenlands, so Buckhardt an anderer Stelle, wo er wiederum auf Kreta verweist, hatte auch umgekehrt das Gesellschaftliche eine musikalische Dimension, denn dort "mussten schon die Knaben die Gesetze nach einer Melodie oder Kadenz auswendig lernen [...]. Nomos hat ja den Doppelsinn Gesetz und Melodie." (S. 80)

Musik ist also insofern i n d i v i d u e l l , als sie jedermanns Gefühle in sehr viele, vielleicht fast beliebige Richtungen lenken kann - "Böse Musik" heißt eine Ausstellung, die Berlin dieses Jahr bevorsteht -, und ist zur damaligen Zeit insofern g e s e l l s c h a f t l i c h , als der Staat sie von sich aus in b e s t i m m t e Richtungen lenkt. Ist dies zwar in Sparta der Fall, nicht aber in Athen, wird man sich doch erinnern, dass der Athener Platon einen Wunschstaat entworfen hat, der, was Musik angeht, mehr noch dem kretischen als dem spartanischen Modell folgt, indem er dieses durch Hereinnahme von Zwangsmaßnahmen überbietet. All das wirkte traditionsbildend. Im christlichen Abendland sorgte die Kirche seit der Gregorianik für eine Musik, die nur noch Heilkunst sein sollte. Noch im Konzil von Trient, 16. Jahrhundert, suchte sie Musik im Stil Palestrinas gegen die neue, ihren Zielen entgleitende Renaissancemusik in ihrem Einflussbereich zu monopolisieren, und der Komponist selber hatte sich, woran Hans Pfitzners Oper erinnert, als ihr gehorsamer Diener zu sehen.

Zurück zu Beethoven, damit auch zu Brahms. Was ist es, das die Kreutzersonate mehr sein lässt als den puren Aufschrei von Leidenschaft, sicher von Liebe? Man kann jedenfalls auch von ihr sagen, dass sie bei aller zur Schau gestellten Zerrissenheit "etwas Würdiges hat". Sie ist pathetisch. Das Pathos wirkt nicht aufgesetzt. Eine literarische Veranschaulichung wäre Albano, der Held von Jean Pauls Hauptroman Titan, der eine Frau namens Linda so unbedingt wie nur möglich liebt, ebenso unbedingt aber für die Französische Revolution kämpfen will. Da Linda darin einen Abstrich von der Liebe sieht, will sie es ihm verwehren, daran scheitert die Beziehung. Sie hatte schon die Eheschließung als Entfremdung der Liebe zurückweisen wollen, war da aber noch nachgiebig gewesen. Wir sahen im vorigen Exkurs, dass Jean Pauls Zeitgenosse, der Philosoph Fichte, den er beständig angreift, zwischen Liebe und Ehe schon nicht mehr unterscheiden mochte. Dem Dichter indes ist in der Liebe selber die Verschiedenheit der individuellen und gesellschaftlichen Dimension wichtig. Brecht erzählt Analoges: Ein Mann wird von der Geliebten gehindert, sich einem Schachverein anzuschließen, doch als er auch der kommunistischen Partei nicht beitreten soll, erhält sie den Laufpass.

[Weiterlesen in 104/2: hier.]

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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