(118/1) Der Andere Preis

Proportionswahl "Die Andere Gesellschaft": Fünfter Teil, Zweite Abteilung, erste Hälfte des vierten Eintrags im zweiten Kapitel

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Der folgende Eintrag betrifft die Frage, ob eine Ökonomie möglich ist, die sich gesellschaftlichen Entscheidungen und z u g l e i c h der s p o n t a n e n , nur die Knappheit spiegelnden Preisentwicklung fügt. Drei Fragen wären zu erörtern: Erstens, ist eine solche Synthese überhaupt denkbar? Aus der Geschichte kennt man nur Preise, die f e s t g e s e t z t wurden, um dem gesellschaftlichen beziehungsweise staatlichen Interesse Genüge zu tun. Zweitens, ich habe immer wieder behauptet, eine der Gesellschaft dienende und zugleich unternehmerisch freie Ökonomie könne es nur geben, wenn alle ökonomischen Belange durchsichtig sind. Was heißt das konkret? Wie stellt man sich durchsichtige Preisbildung vor? Welcher Nutzen ist zu erwarten, und wie wird er erreicht? Drittens, Proportionswahlen wären der demokratische Weg, ökonomische Umstrukturierung zu ermöglichen. Wie wird die Gesellschaft mit dem Umstand fertig, dass sich jede von ihr beschlossene Umstrukturierung in Zusatzkosten niederschlägt, die dem Umbau als solchem geschuldet sind? Zeigt nicht die derzeitige "Energiewende", wie solche Kosten ganz einfach den Endkonsumgüterpreisen aufgeschlagen werden und der zunächst mehrheitlich gewollte Umbau dadurch zum Ärgernis wird? Zuende gedacht hieße das, die Proportionswahl selber wird unpopulär und kann sich als Institution nicht halten.

Mein Weg, die Fragen zu beantworten, soll darin bestehen, dass ich die Erfahrungen der DDR auswerte, die sich zwar auf die Andere Gesellschaft nicht übertragen lassen, aber doch das Problem erhellen und auch manchen nützlichen Hinweis geben. Ich halte mich an das ausgezeichnete Buch von Renate Damus, Entscheidungsstrukturen und Funktionsprobleme in der DDR-Wirtschaft, Frankfurt/Main 1973.

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Was die erste Frage angeht, führen die Strukturen der DDR durchaus nicht weiter, denn die Synthese privater und gesellschaftlicher Ökonomie gelang dort so wenig wie im Kapitalismus. Man kann nur sagen, es war ein Scheitern, aus dem gelernt werden kann. Wir lernen vorerst nur, was wir schon wissen, dass nämlich die Notwendigkeit einer Anderen Gesellschaft zu erkennen ist, deren Ökonomie auf Proportionswahlen basiert. Der Versuch, private und gesellschaftliche Ökonomie kompatibel zu machen, wurde besonders in der Periode des von Walter Ulbricht angestoßenen Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) unternommen. Das war in den 1960er Jahren. Es gab zwei Arten von Betrieben: solche, von denen die übergreifenden strukturbestimmenden Aufgaben zu erledigen waren - sie unterstanden unmittelbar den zentralen Planungsbehörden -, und alle anderen, die eigenverantwortlich planen konnten. Auch diese waren zur Erfüllung von "Kennziffern" verpflichtet, allerdings wurden ihnen nicht mehr, wie zuvor, bestimmte Produktmengen abverlangt, sondern bestimmte Effektivitätsgrade, und zum Haupterweis von Effektivität wurde der Gewinn gemacht, zu dessen Optimierung unter Beachtung gewisser Vorschriften sie daher gehalten waren.

Wie es schien, konnten d i e P r e i s e dafür, dass die eigenverantwortlich planenden Betriebe den gesellschaftlichen Präferenzen gerecht wurden, kein Hindernis sein. Denn diese Betriebe waren zwar preissetzende Subjekte, doch gab es auch ein "Industriepreisregelsystem". Da war festgelegt, "dass wenn die realisierten Gewinne bei Erzeugnisgruppen die normative Gewinnrate [...] über eine bestimmte Toleranzgrenze hinaus übersteigt [...], diese Preise zu senken sind" (E. Heyde u.a., Fragen und Antworten zur Industriepolitik, Berlin [DDR] 1969, S. 46). In der Praxis funktionierte es freilich nicht. Wie Damus anmerkt, waren die Betriebe trotzdem imstande, "z.B. über Preissteigerungen aufgrund angeblich technischer Weiterentwicklung der Produkte [...] einzelwirtschaftliche Gewinne bei gesamtwirtschaftlich schädlichem Verhalten zu erzielen" (a.a.O., S. 87 f.).

Man stellt sich vor, ein vergesellschaftetes Bankensystem könne dergleichen verhindern, da doch dem Gewinn immer der Kapitalvorschuss zur Produktion und also der Kredit vorausgeht (G-W-G' nach der Marxschen Formel), der für gesellschaftlich unerwünschte Projekte nicht hergegeben würde. Tatsächlich bedeutete eigenverantwortliche Planung nicht zuletzt, dass die Betriebe sich selbständig an die Banken wenden konnten, um Kredite zu erlangen, und natürlich sollten die Banken die Kreditvergabe von der Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Präferenzen abhängig machen. Das geschah aber nicht immer. Was vielmehr geschah, erleben wir auch im Kapitalismus, es löst dort die großen Krisen aus (vgl. die 82. Notiz): Keine "Garantie", so Damus, gab es dafür, "dass die betriebliche, von Banken finanzierte Investitionspolitik gebrauchswertmäßig den gesamtwirtschaftlichen Präferenzen und also der Strukturpolitik entspricht" (S. 81), "da innerhalb der Banken über den Gewinn, der an die Einnahmen durch Zinsvergabe geknüpft war, ein einzelwirtschaftliches Interesse an der Vergabe von Krediten und damit der Einnahme von Zinsen bestand" (S. 84).

So konnte es wie im Kapitalismus dazu kommen, dass "[e]inzelwirtschaftlich unrentable Produkte" nicht produziert wurden "- unrentabel gemessen daran, dass mit anderen Produkten höhere Gewinne [...] erzielt werden können - [...], obwohl für sie ein gesellschaftlicher Bedarf besteht". Die Folge: "eine Versorgungslücke tut sich auf" (S. 82). Derselbe Mechanismus, der im Kapitalismus zu periodischen Wirtschaftszusammenbrüchen führt, führt im Realsozialismus zur Mangelwirtschaft.

Unmittelbar also kann man vom NÖS nichts lernen. Doch die besten Kritiker des NÖS und vergleichbarer Modelle gaben nicht der freien Preissetzung die Schuld, sondern fanden, sie hätte noch freier sein müssen. Selbst Charles Bettelheim, ein sehr grundsätzlicher Kritiker des Realsozialismus, sah sich zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass spontane Preisbildung gerade zu dem Zweck notwendig ist, dass Betriebe sich plankonform verhalten können. Denn nur die Bewegung der Preise kann ihnen sagen, welche "Techniken und Mittel [...] politisch und gesellschaftlich am wirksamsten sind". Damus zitiert das und fügt hinzu, dies habe "nichts mit der Behauptung zu tun, dass die Summe der einzelwirtschaftlichen Rentabilitäten schlechterdings zusammenfällt mit gesamtwirtschaftlicher Effizienz". Warum nicht? Weil "die einzelwirtschaftlichen Aktivitäten [...] sich ja von vornherein nur im Rahmen des gesamtwirtschaftlich Gesetzten bewegen [können], ihre jeweilige Rentabilität [...] nicht naturwüchsigen Prozessen überlassen" sei. (S. 217 f.) Die Frage ist eben nur, wie so ein Rahmen aussieht, der die freie Preisbildung nicht zurücknehmen muss, um seinen Zweck erfüllen zu können.

"Sind die langfristigen Entscheidungen" des Plans "einmal getroffen und wird in ihrem Rahmen das Preissystem gestaltet, so ist nicht einsichtig, warum die Kategorie Preis von vornherein negativ zu bewerten sei." (S. 215 f.) Wie kann es denn aber sein, dass ein Preissystem Plankonformität nicht etwa verhindert, vielmehr zu ihren notwendigen Bedingungen gehört, und sie in der DDR dennoch verhinderte? Darauf erhalten wir die Antwort, ohne Eigenverantwortlichkeit der Betriebe, deren Ausdruck ihr Recht zur Preissetzung ist, sei ein wirksamer übergreifender Plan gar nicht vorstellbar. Sind nämlich die Produzenten nur so, dass sie die Produkte produzieren, an der Ausarbeitung und Durchführung der Pläne beteiligt, "dann ist nicht zu erwarten, dass die Pläne der ökonomischen Wirklichkeit bzw. die ökonomische Wirklichkeit den Plänen entsprechen." (223) Nein, ihr Preissetzungsrecht ist eine unverzichtbare Beteiligungsform. Doch wenn es d i e e i n z i g e ist, ist keine Entsprechung mit dem übergreifenden Plan gewährleistet. Die Beteiligung der Produzenten muss m e h r u m f a s s e n .

Bei Damus, wie in der ganzen damaligen Diskussion, wird noch nicht klar ersichtlich, was das heißen könnte. Ota Siks Buch, das für gesamtgesellschaftliche ökonomische Wahlen plädiert, erschien erst 1978. Von heute aus gesehen erscheint sein Plädoyer als die gesuchte Antwort. Es hätte auch damals schon so erscheinen können, nicht nur Damus, sondern Ulbricht selber, der freilich 1970 von Erich Honecker gestürzt wurde. Auf Ulbrichts Weg war nämlich schon 1968 der nächste Schritt getan worden. Er bestand in der Vision ökonomischer Wahlen bei sonst freien Marktbeziehungen mit spontaner Preisbildung. Darauf bewegte sich der "Prager Frühling" zu. Sik, der in Prag zu den Wortführern und Verantwortlichen gehörte, hat es zehn Jahre später nur aufgeschrieben, unverhüllter formuliert und weiter durchdacht. Diesen Schritt zu wagen, konnte aber Ulbricht nicht einfallen, weil er die Herrschaft der SED beendet hätte. Man muss dennoch festhalten, dass die NÖS sich wie ein Stück Vorgeschichte des Prager Frühlings ausnimmt. Es zeigt sich in Ulbrichts eigenem Verhalten, hatte er doch "die Wahl Alexander Dubceks zum neuen Parteichef in Prag Anfang Januar 1968 zunächst begrüßt. Erich Honecker würde ihm das später zum Vorwurf machen." Ich zitiere Rolf Hosfeld, Was war die DDR? Die Geschichte eines anderen Deutschland, Köln 2008.

"Den Botschafter der DDR in Prag wies er an, ein möglichst gutes Verhältnis zu Dubcek und seinen Leuten zu suchen, da man die Entwicklung, die sich jetzt in der CSSR anzubahnen schien, im Kern als positiv betrachten müsse. Ulbricht misstraute dem gestürzten Dubcek-Vorgänger Antonin Novotny zutiefst und hielt ihn für vollkommen reformunfähig. Der hatte im Januar 1967 unter Druck mit halbherzigen Wirtschaftsreformen begonnen, sie dann aber gleich wieder unter einem Wust von Bürokratie erstickt. Dubcek versprach das anders zu machen. Doch die erste Euphorie beruhte auf einem Missverständnis. Gern" zwar "hätte Ulbricht das Industrieland Tschechoslowakei als Verbündeten im sozialistischen Lager für sein Modell und seine Laborversuche gewonnen, und er wurde nicht müde, Dubcek nahezulegen, die DDR habe alle Prager Probleme bereits in mustergültiger Weise gelöst." (S. 230) "Schon bald" aber, "einige Wochen später, zählte Ulbricht zu den schärfsten Kritikern Dubceks." Was hatte sich geändert? Dies: "Man wurde sich während des ersten Halbjahres 1968 in Prag zunehmend klarer darüber, dass die durch eine Ausdifferenzierung der Wirtschaft entstehende gesellschaftliche Komplexität auch ein neues politisches System erforderte, um wirkungsvoll funktionieren zu können." (S. 230 f.)

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Freie Preisbildung ist sozusagen die niedrigste, Teilnehme an der gesamtgesellschaftlichen Wahl die höchste Form der Beteiligung der Produzenten an den gesellschaftlichen ökonomischen Entscheidungen. Dazwischen wird es weitere Formen geben, darunter die, dass die Betriebe auch miteinander sprechen (Verträge schließen), statt nur zu konkurrieren und konkurrenzgünstige Preise zu setzen. Man kann zwar nicht, wie manche träumen, eine Ökonomie nur aus dem allgemeinen Palaver konstituieren. Doch wenn dem Palaver gewisse Stangen eingezogen sind - im Großen das Resultat der Proportionswahl, im Kleinen die autonome Preisbewegung, die aus der Ausübung des Preissetzungsrechts der Betriebe hervorgeht und im Resultat anzeigt, siehe Bettelheim, "welche Techniken und Mittel am wirksamsten sind" -, dann hat es genügend Halt und kann selber zum Halt des Haltes werden, sprich die Proportionswahl prägen und die Preisbewegung zum Element, ja zur Triebkraft des Plans machen, der aus der Wahl hervorgeht.

Die Andere Gesellschaft wird sich darauf, dass so ein Resultat beim Palaver herauskommt, freilich nicht verlassen. Auch in ihr bedarf es der Kontrolle, ob die Preisbewegung wirklich autonom ist im Sinn von Bettelheim, statt dass sie manipuliert wird von den preissetzenden Subjekten, etwa indem sie Kartelle bilden. Diese Kontrolle wird dadurch erreicht, dass es keine ökonomische Geheimhaltung mehr gibt: Alle ökonomischen Verläufe und so auch die Preissetzung sind der Öffentlichkeit jederzeit bekannt. Manipulierte Preise, die nicht mehr anzeigen, wo am effektivsten produziert wurde, fallen daher auf und können rückgängig gemacht werden.

Wenn wir das voraussetzen, wird uns das Preissystem der DDR noch weiter interessieren, beruht es doch auf der Frage, woran man i m E i n z e l n e n s i e h t , ob ein Preis manipuliert ist oder nicht. Es sehen zu können hätte genügt, das Problem der Übereinstimmung von einzelbetrieblicher und Gesamtwirtschaft zu lösen; nur war in der DDR die Sicht versperrt. Sie blieb ein Postulat bei noch so viel staatlicher Befehlsgewalt. Was in den Betrieben geschah, konnte von den zentralen Behörden aus nicht hinreichend durchschaut werden, und von der Gesamtgesellschaft schon gar nicht. Die demokratische Öffentlichkeit der Anderen Gesellschaft würde das auch nicht können, wenn nicht seit damals, als es die NÖS gab, die Computerisierung eingetreten wäre. In einer technisch auf dem Internet basierenden Ökonomie, wie sie sich schon heute herausbildet, kann völlige Durchsichtigkeit jeglicher ökonomischen Information erreicht werden.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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