(124) Die uranfängliche Rolle der Räte

Proportionswahl Jedes Proportionswahlprogramm muss einem Schema folgen, das heißt eine vorher festgelegte Liste von Fragen beantworten. Wer arbeitet das Schema aus? Wer legt es fest?

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Hier beginnt das neue Kapitel, in dem die „Proportionswahl“ – Wahl einer von mehreren möglichen Grundrichtungen der Produktion und damit des Konsums durch die Gesamtheit der Konsumenten (die zugleich auch die Produzenten sind) – nach ihrer nicht mehr, wie im letzten Kapitel, vorwiegend ökonomischen sondern vorwiegend politischen Logik erörtert werden soll. Dabei will ich vom Begriff der Wahl überhaupt ausgehen, den wir zweifellos eher dem politischen als ökonomischen, im Übrigen auch dem philosophischen Bereich zurechnen müssen. Zwar wird auch rein ökonomisch von Wahlen gesprochen. So bin ich in der 36. Notiz auf den Begriff der Rational Choice eingegangen. Doch wird da eigentlich nur geklärt, welche von mehreren Möglichkeiten die beste ist unter der Voraussetzung, dass es gut sei, möglichst viel Geld zu haben. Das ist mehr Erkennen, auf kleiner Flamme noch dazu, als Wählen. Es ist eine Betrachtungsweise, die ihren Sinn hat, ich will sie nicht kleinreden, aber sie zeigt doch eher, wozu man g e z w u n g e n ist, wenn man jene Voraussetzung akzeptiert, vielleicht gar aus Geldmangel akzeptieren muss, so dass der Zwang total wird, als was eine Wahl ist – die wir doch sonst, und jedenfalls immer im politischen Bereich, vom Begriff der F r e i h e i t nicht trennen.

Eine Wahl, politisch verstanden, ist immer eine f r e i e Wahl zwischen solchen mehreren Möglichkeiten, von denen nicht eine von vornherein die beste ist. Sondern a l l e werden für „gut“ befunden, die eine von den, die andere von jenen Wählern, so dass man nur nachträglich, im Ergebnis der Wahl eben erst, erfährt, welche Möglichkeit einer Mehrheit der Wähler für die beste gegolten hat.

Das verbreitete Paradigma der politischen freien Wahl ist die Parlamentswahl, in der es immer auch um die ökonomische Gegenwartsdiagnose und Zukunftserwartung geht. Aber wie ich hier schon ausgeführt habe, geschieht das auf eine Weise, die es nicht zulässt, von einer Parlamentswahl zu behaupten, sie sei unter anderem auch eine ökonomische Wahl. Denn es werden nur Parteien gewählt – damit indirekt auch Personen -, die vielleicht eine ökonomische Zukunft in Aussicht stellen, aber nicht gehalten sind, ihr Versprechen dann auch einzuhalten. Und auch faktisch erleben wir, dass eine gewählte neue Exekutive, die vorher viel versprochen hat, nachher meistens erklärt, es gehe nicht so, wie man sich das vorgestellt habe. Dieser Verlauf ist inzwischen so oft über uns gekommen, dass wir uns schon begnügen, nach dem Kriterium zu wählen, für welche „Werte“ eine Partei steht, also was sie wirklich oder angeblich für wünschenswert hält, ohne dass wir noch ernsthaft eine dem Wunsch entsprechende Wirklichkeit erwarten.

Unterhalten nicht die meisten Parlamentswahlen zur Ökonomie ein ganz anderes Verhältnis? Sie widerspiegeln nur noch, ob eine Wählermehrheit mit ihrem Gegenwarts-Wohlstand halbwegs zufrieden ist, in welchem Fall die im Amt befindliche Exekutive bestätigt wird, mag man sich auch sonst über sie ärgern, oder nicht. Ein paradoxes Ergebnis: Es gibt Zustände, die durchaus auch unter der Herrschaft der Kapitallogik von einer neuen Exekutive verändert werden können, zum Beispiel wurde unter Willy Brandt das Strafrecht liberalisiert, und das war im Wahlkampf auch angekündigt worden – aber hätten seine Partei und die damals verbündete FDP gesiegt, wenn die Wähler nicht über erste ökonomische Krisensymptome, nach Ablauf der dem Weltkrieg folgenden Rekonstruktionsperiode, beunruhigt gewesen wären? Symptome, auf die unter der Herrschaft der Kapitallogik letztendlich überhaupt niemand, auch keine noch so änderungswillige Exekutive, angemessen radikal, das heißt zur Wurzel des Problems greifend reagieren kann?

Dieser Sachverhalt wurde wie gesagt in der Blogreihe schon angesprochen. Ich will ihn hier durch den Hinweis vertiefen, dass oder besser inwiefern die Parlamentswahl selbst schon eine Wahl ist, mit der wir in erster Linie der Kapitallogik zustimmen, was nicht sein müsste, aber faktisch so ist. Parlamentswahlen als solche sind eine gute Sache. Es war immer irrig zu behaupten, sie seien per se schon der politische Überbau und die ideologische Verfestigung der Kapitallogik. Aber seit man im Kapitalismus lebt, hat es „Parlamentswahlen als solche“ niemals gegeben, vielmehr immer nur die Wahl eines historisch b e s t i m m t e n und zwar eben des kapitalistischen Parlaments, das sich durch eine ganz eigentümliche Struktur auszeichnet; von dieser Struktur erst, die ich in früheren Veröffentlichungen als eines des „parlamentarischen Zwei-Blöcke-Systems“ bezeichnet habe, lässt sich sagen, sie bedinge das kapitalistische Parlament, ein Parlament, das unausweichlich die Kapitallogik reproduziert. Das System funktioniert so, dass es nur die Wahl zwischen zwei Parteien (wie in den USA) oder zwei Bündnissen von Parteien zulässt, die sich b e i d e zur Kapitallogik bekennen oder jedenfalls faktisch von ihr regieren lassen (wie in Deutschland jedes Bündnis, dass von der CDU oder von der SPD angeführt wird), so dass die Kapitallogik ihrerseits immer im Windschatten von Wahlen steht, die auf sie bezogen keine sind, weil die Frage „Kapitallogik ja oder nein“ in ihnen nicht aufgeworfen werden kann.

Schon Lenin, der vom „System der zwei Parteien der Ausbeuter“ spricht, und vor allem Antonio Gramsci haben diese Struktur erörtert, und auch bei Rosa Luxemburg gibt es Stellen, die ein Problembewusstsein bezeugen. Ich selbst wollte sie nur näher untersuchen, wobei ich natürlich niemals unterstellt habe, so wenig wie die Genannten, dass einer Partei nichts übrig bleibe, als der Struktur zu gehorchen, und dies nur deshalb, weil sie sich in das so bestimmte Parlament hat wählen lassen. Das muss sie nicht, das schreibt die demokratisch-kapitalistische Verfassung nicht vor. Die Grünen zum Beispiel waren in ihrem ersten Jahrzehnt noch mehrheitlich dagegen, sich mit einer der beiden westdeutschen „Wachstumsparteien“, wie sie Union und SPD nannten, zu verbünden. Aber die Struktur ist doch sehr stark, und wie ihr seinerzeit die Grünen erlegen sind, so bahnt sich heute längst schon die Unterwerfung der Linkspartei an. Die Möglichkeit, einen „dritten Block“ zu bilden, statt sich mäkelnd in einem der beiden Blöcke zu bewegen, die etabliert sind, weil sie die Kapitallogik reproduzieren, ist zwar da, wird aber selten genutzt. Es ist ja auch schwierig. Was soll man, im Parlament angekommen, denn tun, wenn man sich weder der CDU noch der SPD anschließt, das heißt unterwirft? Nur immer folgenlos Nein sagen?

Klar ist freilich auch, dass man von vornherein nichts tun kann, wenn man die beschriebene Struktur gar nicht bemerkt. Oder wenn sie einem zwar bezeichnet wird, man sie aber leugnet. Letzteres ist mir selbst vor nicht langer Zeit begegnet, als in der Zeitschrift PROKLA eine Durchsicht parlamentskritischer Aufsätze, darunter der meinigen, veröffentlicht wurde. Die Verfasserin hat da schlankweg behauptet, ich würde die Notwendigkeit der Unterwerfung unters Zwei-Blöcke-System vertreten, und dabei aus Aufsätzen zitiert, in denen ich das Gegenteil sage. Nein, sagt sie ihrerseits, sehr wohl könne man im Parlament etwas erreichen! (Anne Steckner, Zur Verortung politischer Parteien in der Bürgerlichen Gesellschaft, PROKLA 171 [2013], S. 217-238) Ich vermute, sie gehört zum Umkreis der Linkspartei und will nicht hören, dass deren Programm für die Katz ist, wenn es ins „rot-rote“ Bündnis geworfen wird. Jedenfalls die kapitalkritischen Teile des Programms, die wir doch für das Alleinstellungsmerkmal dieser Partei halten sollen, sind dann für die Katz.

Ich hatte in den 1980er Jahren vorgeschlagen, eine Partei des dritten Blocks, die sich also dem Zwei-Blöcke-System nicht anbequemt, könne im Parlament fallweise einzelnen Vorhaben eines der beiden etablierten Blöcke zustimmen, solchen, die ihrem eigenen Programm hinreichend nahe sind; dann würde sie sich weder einem kapitalistischen Block unterwerfen, noch könnte man ihr vorwerfen, sie beteilige sich nicht konstruktiv an der parlamentarischen Arbeit. Fluchtpunkt dieser Methode wäre eine Minderheitsregierung des dritten Blocks, mag er aus einer oder mehreren Parteien bestehen, und ihr Regieren mit wechselnden Mehrheiten. Dass ein solcher Weg prinzipiell gangbar ist, wurde erst vor wenigen Jahren durch die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW erwiesen, auch wenn diese nur vom zweiten, der SPD unterworfenen Block gebildet wurde. Die Regierung in Düsseldorf suchte ihre Mehrheit meist bei der Linkspartei, was niemanden verwundern wird, der die Parteiprogramme vergleicht, aber es kam auch vor, dass sie mit der CDU gegen FDP und Linke oder mit der FDP gegen CDU und Linke stimmte. Und wer hat dieses Experiment abgebrochen? Die Linkspartei. Sie war mit den Kompromissen unzufrieden, die sie der Regierung allenfalls abhandeln konnte. Die Folge war natürlich, dass sie bei der nächsten Wahl aus dem Parlament verschwand.

Sie ist nie bereit gewesen, mehr zu tun als eine Minderheitsregierung zu „tolerieren“, was etwas ganz anderes ist als sich an wechselnden Mehrheiten zu beteiligen. Denn eine fallweise Mehrheit bildet man ohne Gegenleistung, weil man ihren je einzelnen Gegenstand per se für nützlich hält, während die Tolerierung ein Bündnis minderer Güte ist, das in der Tat auf einer Art Abkommen beruhen muss. Die Linkspartei will nicht begreifen, dass dieses Bündnis minderer Güte schon hinreicht, sie zum Bestandteil des Zwei-Blöcke-Systems zu machen, sie also an der Reproduktion der Kapitallogik zu beteiligen.

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Nun habe aber auch ich lang genug zugeschaut, wie der Weg wechselnder Mehrheiten nicht beschritten wird oder allenfalls nur ausnahmsweise wie in NRW, von Leuten, die bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zur normalen Zwei-Blöcke-Logik zurückkehren. Der Drang, auch einmal mitzuregieren, ist eben sehr groß, deshalb lassen sich auch kritische Geister zuletzt auf sie ein. Es muss sogar ein rationales Moment in diesem Drang eingeräumt werden, denn die Wähler haben doch Grund, das Regieren nur solchen Parteien wirklich zuzutrauen, die im Regieren schon Erfahrung gesammelt haben. Da mag eine kritische Partei noch am besten beraten sein, wenn sie sich zwar nicht auf die Beteiligung an wechselnden Mehrheiten beschränkt, dafür aber wechselnde Bündnisse fallweise eingeht, wie das die Grünen zur Zeit versuchen. Die Grünen sind freilich nicht kritisch genug! Aber die ständige Polemik vonseiten der SPD und der Linkspartei, diese Partei würde ihre Seele verkaufen, wenn sie auch einmal mit der CDU regiert wie jetzt in Hessen – oh, das darf nur die SPD tun, und nur wenn es die SPD tut, wird es von der Linkspartei „toleriert“ -, ist p r i n z i p i e l l verkehrt. Was ist aus allem zu schließen? Dass Parteien schwächliche Gebilde sind. Wir brauchen sie, dürfen aber ihre Kraft nicht überschätzen. Was sie vielleicht gar nicht leisten können, sollten wir dann auch nicht von ihnen verlangen.

Eine Partei ist wahrscheinlich immer eine Konfusion; sie engagiert sich für Ziele, die sie für gut hält, strebt aber immer auch die politische Macht an, und wenn sich beides nicht vereinbaren lässt, obsiegt die Machtbeteiligung über die Ziele. Weil deshalb eine Partei zwar allerlei bewegen, aber schwerlich die Kapitallogik brechen kann, halte ich es nunmehr für notwendig, dem parlamentarischen Zwei-Blöcke-System a u f e i n e m a n d e r e n W e g zu entkommen als dem, es mit wechselnden Mehrheiten oder wechselnden Bündnissen zu konterkarieren. Dadurch nämlich, dass ihm im Modell der Anderen Gesellschaft die Zuständigkeit für die ökonomischen Grundentscheidungen entzogen ist. Diese sollen in eigenen nichtparlamentarischen, von mir aus Gründen, die ich jetzt nicht wiederholen will, als „Proportionswahlen“ bezeichneten Abstimmungen getroffen werden.

Um ökonomische Grundentscheidungen ging es ja schon, als ich noch die wechselnden Mehrheiten propagierte. Es sollte erreicht werden, dass zum Beispiel die Mehrheit der Bevölkerung, die seit Tschernobyl den Atomstrom ablehnt, sich auch parlamentarisch durchsetzen kann. Angenommen, die SPD lehne sie ab wie die Grünen und habe darin zusammen mit ihnen die parlamentarische Mehrheit, während sie in anderen Fragen der CDU näher stehe, soll es ihr möglich sein, beides zu tun: mal mit den Grünen den Atomstrom niederzustimmen, mal sich mit der CDU gemein zu machen. So war damals meine Überlegung. Aber besser ist es, Entscheidungen wie über den Atomstrom vom Parlamentarismus ganz abzukoppeln. Atomstrom ist etwas, das an Konsumenten verkauft wird. In deren Hand gehört dann auch die Entscheidung, denn „der Kunde ist König“, wie heute nur behauptet wird, aber wirklich gelten sollte. Dass der Kunde dieses Zeug dreißig Jahre lang kaufen musste, ohne es zu wollen und ohne dass ein Ausstieg in Aussicht stand, war ein perverser Zustand. Mit Demokratie hatte es nichts zu tun.

Demokratietheoretisch bedeutet das, es stehen mehrere Typen der Wahl nebeneinander, was nicht einmal ganz neu ist. So wurden ja in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ein Parlament und außerdem eine Räteversammlung gewählt. Das funktionierte damals nicht, weil sich die Räte, aus gutem Grund übrigens, als Gegenmacht begriffen. Aber Organe, die aus verschiedenen Wahlen hervorgehen, können sich auch wechselseitig ergänzen. In der Anderen Gesellschaft sollen sich parteipolitische Parlaments- und ökonomische Proportionswahlen ergänzen, und der Ökonomische Rat, in dem die Produzenten die Implementierung des Wahlergebnisses beraten und da auch die Möglichkeit haben, ein Wahlergebnis für ganz oder teilweise undurchführbar zu erklären, wird etwas wie eine Räteversammlung sein. Wenn sich das so verhält, muss nunmehr ausgearbeitet werden, ob und wie der Vorgang, der zur Proportionswahl führt, sich vom Vorgang der Parlaments- und der Rätewahl u n t e r s c h e i d e t.

Zuerst stoßen wir dann auf den Umstand, dass die Rätewahl, wenn Proportionswahlen überhaupt zustande kommen sollen, nicht nur beim Ökonomischen Rat ihre Rolle spielt, sondern ihr insofern ein g e n e r e l l e r Primat zukommt, als die Andere Gesellschaft gar nicht anders „anfangen“ kann als durch sie. Es muss nämlich klar sein, wie die zur Wahl stehenden Proportions-Varianten in ihrer Niederschrift als Programmtexte formal beschaffen zu sein haben. Ich habe es am Ende der vorigen Notiz schon angedeutet. Das Ziel der Klärung besteht darin, dass in jeder Variante, jedem ökonomischen Wahlprogramm, werde es von Ökologen, dem ADAC oder sonstwem vorgelegt, die Gesamtheit der relevanten Bedingungen und Folgen offengelegt sein muss. Anders und noch allgemeiner gesagt, ist eine wahrscheinlich recht große Liste miteinander zusammenhängender Fragen zu erstellen. Diese müssen nicht nur deutlich, statt im Kleingedruckten oder zwischen den Zeilen, beantwortet werden, sondern auch für die Lesbarkeit der Antworten und ihrer Zusammenfassung in Leitsätzen werden schematische Vorgaben gemacht. Wenn die Schriftform der Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit Jahrzehnten einem immer gleichen Schema folgt, ohne dass die Inhalte undifferenziert sind oder sich bloß wiederholen, wird das wohl auch für die Schriftform von Proportionswahlprogrammen erreicht werden können, wobei freilich noch die Lesbarkeit bedeutend zu steigern ist. In welcher Hand aber soll die Ausarbeitung dieser Form liegen? Es können nur Räte sein.

Das Parlament kommt nicht in Betracht, weil hier zwar mehrere und wichtigste Interessengruppen der Gesellschaft zusammentreffen, es sich aber nicht klar um ökonomische Interessen handelt, was für ein Parlament auch gar nicht wünschenswert wäre. Parlamentarisch vertretene ökonomische Interessen sind immer von anderen überlagert, etwa religiös-konfessionellen oder solchen, die sich aus der kulturellen Stellung im Zentrum-Peripherie-Gefälle der Gesellschaft ergeben, und das ist gut so. Der Apparat der staatlichen Exekutive kommt noch weniger in Betracht; hier gibt es zwar Teile, die sich auf Ökonomie spezialisieren, doch können sie nicht unbesehen für gesellschaftlich repräsentativ gelten. Dass stattdessen Räte in Betracht kommen, liegt in deren allgemeinem Begriff. Denn was sind Räte? Marx sagt, sie sollten „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“ (MEW 17, S. 33ß f.).

Als ich den Satz in der 6. Notiz schon zitierte, ging es mir nur darum, zu zeigen, dass gewählte Räte nicht weniger „abgehoben“ sind als gewählte Parlamentarier, dass also die „Abgehobenheit“ eines Parlaments kein Argument gegen dieses und für Räte sein kann. Dass es nicht gut ist, um der Räte willen auf die T r e n n u n g von Gesetzgebung und –vollzug zu verzichten, die ein Wesensmerkmal des Parlamentarismus ist. Nein, in der Regel, das heißt wenn eine Gesellschaftsverfassung einmal durchgesetzt ist und ihren normalen Verlauf nimmt, ist sie gut. Das gilt wie für den Parlamentarismus so auch für die neue Gesellschaft, die nicht nur ein Parlament sondern auch Proportionswahlen aufweist. Auch bei deren Abhaltung und der anschließenden Realisierung des Resultats sind Gesetzgebung und –vollzug definitiv unterschieden. Das Wahlresultat hat, anders als ein parlamentarisches, unmittelbar Gesetzeskraft, doch die es erwirken, sind die Produzenten als Konsumenten, während der Vollzug in der Hand der Konsumenten als Produzenten liegt.

Aber es muss ja die Verfassung des ganzen Vorgangs irgendwie zustande kommen, und das geht nur mit Räten, die nun allerdings eine „arbeitende Körperschaft“ im Sinn von Marx sein müssen. Diese Körperschaft vertritt die sehr deutliche gesellschaftliche Mehrheit der Produzenten als Konsumenten, der daran gelegen ist, dass die Gesellschaft im Ganzen über die Grundlinien der Produktion entscheidet, und die sich daher eine neue ökonomische Basis gibt, eben Proportionswahlen anstelle von Kapitallogik. Es ist notwendig, dass in diesem so bestimmten Rahmen Vertreter aller Gruppen mitarbeiten, die mit Ökonomie irgend befasst sind, in ihr eine konstitutive Funktion realisieren, oder die Notwendiges zu ihrer Verschriftlichung beitragen können. Nicht nur Arbeiter und Konsumenten, sondern auch Unternehmer; nicht nur Unternehmer, die sich zum genannten Rahmen aus Überzeugung bekennen, sondern auch solche, die das nicht tun und deshalb in der Beratung immerzu Gegengründe vorbringen, die den wirklichen oder angeblichen „Sachzwängen“ der allgemeinen Wirtschaftsrationalität geschuldet sind; nicht nur Ökologen, sondern auch Juristen aus dem Parlament und Staatsapparat; im Übrigen auch Linguisten, Literaten und Literaturwissenschaftler als Textkenner; nicht nur Volkswirtschaftler, die den ökonomischen Gesamtzusammenhang vor Augen haben, sondern auch Vertreter der verschiedenen nur lokal bestimmbaren Zusammenhänge. Und alle gehen aus ihrer je eigenen Gruppe als gewählte Räte hervor. Die Tat, zu der sie sich dann verbinden, ist eine „revolutionäre“, und eben deshalb können sie die sonst immer notwendige Trennung von Gesetzgebung und –vollzug nicht gelten lassen.

Ich denke, das ist in jeder Revolution so gewesen, auch wenn nicht alle revolutionären Körperschaften der Geschichte ganz genau dem Rätemodell entsprochen haben. Das Allgemeine ist doch immer, dass eine revolutionäre Körperschaft aus Menschen besteht, die eine neue Verfassung ausarbeiten und zugleich auch für ihre Implementation sorgen. Ich füge hinzu, dass ihre Vollzugstat nur eine einzige sein soll. Sie besteht darin, dass die ausgearbeitete Verfassung zur gesamtgesellschaftlichen Wahl gestellt wird. Wie ich in der 59. Notiz schrieb, „beginnt die Andere Gesellschaft mit Urwahlen“. Als erste Urwahl wurde die benannt, in der sich die Gesellschaft dazu verpflichtet, ihren begrenzten Umweltraum nicht zu überschreiten, und sich auch zum Prinzip der Unverborgenheit aller ökonomischen Vorgänge bekennt. Später fügte ich noch die Verpflichtung zum begrenzten Nahrungsraum hinzu. Die Gesellschaft darf sich nicht auf Kosten von täglich weltweit Zehntausenden Hungertoten überernähren. In dieser Wahl bereits kann aber auch über das von den Räten ausgearbeitete Schema der Proportionswahlprogramme abgestimmt werden. In der nächsten Notiz geht es um die Frage, wie dann der Wahlkampf geführt wird.

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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