(138) Die Streitsache bewusst machen

Revolution Erst stellen wir unsere ökonomischen Ziele heraus, dann zeigen wir, dass das Kapital auch welche hat, und fordern Demokratie. Wir treten in alle Parteien ein

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(138) Die Streitsache bewusst machen

Foto: DANIEL ROLAND/AFP/Getty Images

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Wie angekündigt, befasse ich mich jetzt ausführlich mit dem Beitrag Jörg-Michael Vogls, der in den letzten Jahren wie ich über eine Gesellschaft nachdenkt, die ökonomisch auf „Marktwahlen“ basiert. „Marktwahlen“ war meine Formulierung in Veröffentlichungen der 1990er Jahre und auch noch am Anfang der Blogreihe seit 2009 gewesen, später bevorzugte ich den Begriff „Proportionswahlen“. Vogl hat ein Jahr früher als ich diese Problematik wiederaufgenommen; ich staune im Rückblick darüber. Denn da der erste Aufsatz, in dem er sie erörtert und den ich in dieser Notiz meinerseits erörtere, 2008 in der Februarausgabe der Kommune erschien - Staatserkundungen. Ein Plädoyer gegen die Rundum-Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens, in Kommune 1/08, 60 ff. -, kann er noch nicht als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise gelten.

Oder wenn doch, ist es eine erstaunlich frühe Reaktion. Denn man kann zwar sagen, dass die zugrundeliegende Finanzkrise am 9. August 2007 begann, weil an diesem Tag in den USA die Zinsen für Interbankenkredite sprunghaft anstiegen. Doch erst 2008 trat sie richtig ins öffentliche Bewusstsein, in Deutschland jedenfalls, als deutsche Banken wie die WestLB ins Schleudern gerieten. Dann im September 2008 das große Menetekel: Die Großbank Lehmann Brothers brach zusammen - erst darauf ist meine Blogreihe die Reaktion. Ich staune dann allerdings auch darüber, dass ich schon 2005 mit Freunden zusammen das Studium der ökonomischen Hauptwerke von Marx wiederaufgenommen, das heißt wiederholt habe, ohne welche Vorbereitung ich die Blogreihe nicht hätte schreiben können. Aber auch Vogls Aufsatz gehörte bestimmt zu den Anstößen.

Den unmittelbaren Anstoß gab übrigens der neue Internet-Auftritt des Freitag Anfang 2009, wo ich gefragt wurde, ob ich mich am Bloggen beteiligen könne. Auf der Suche nach einem Thema fragte ich den Kollegen Matthias Dell um Rat und der antwortete, einem Blog tue es immer gut, wenn er von dem handle, was den Schreiber am meisten beschäftige. Noch ein paar Jahre zuvor wären das in meinem Fall nicht die „Marktwahlen“ gewesen, aber jetzt waren sie es. Es traf auch damit zusammen, dass ich die Übernahme des Freitag durch Jakob Augstein gerade deshalb begrüßt hatte, weil uns der Internet-Auftritt mit Blogmöglichkeit gleich angekündigt worden war und ich darin eine Chance für jede(n) von uns sah, mit dem persönlichen Anliegen eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.

Ich will noch erwähnen, dass Vogl auf das Thema „Marktwahlen“ gut vorbereitet war, da er seit 2004 Aufsätze über die Ziellosigkeit der unendlichen Ökonomie des Kapitals, der ihr dienenden Naturwissenschaft und namentlich auch des Staates, dem es, wie er betonte, an der Macht zur ökonomischen Zielsetzung durchaus nicht fehlte, veröffentlicht hatte. Mir selbst war das Thema „Unendlichkeit versus Zielsetzung“ (Ziel ist Ende, griechisch Telos bedeutet Beides) in dieser Zeit nur philosophisch-abstrakt untergekommen, so in meinem Aufsatz Geschichtsunterbrechung als theologische Kategorie (Teil I in Kommune 6/2003, S. 63 ff., Teil II in Kommune 1/2004, S. 60 ff.). Meine Zusammenarbeit (und Freundschaft) mit Vogl reicht übrigens noch viel länger zurück, doch will ich es hierbei bewenden lassen und nur noch seine lesenswerten Texte seit 2004 auflisten: Politik der Notwendigkeit – Rückzug des Staates? Ein Streifzug, in Kommune 2/04, 6 ff. (dieser Text kann nicht direkt verlinkt werden, er lässt sich aber auf dem Umweg über das Kommune-Archiv öffnen); Regieren durch Freisetzen. Bleibt das Wirtschaften nicht an gesellschaftliche Ziele gebunden, bleibt nur noch die Erzeugung von Menschenabfall, in Kommune 5/04, 12 ff.; Ständiges Wachstum oder Untergang? Enthegung des Wachstums, Entleerung des Marktes, naturwissenschaftlicher Nihilismus, in Kommune 6/05, 21 ff.; Das Individuum als korrigierbare Software. Von der Ökonomisierung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Denkräume, in Kommune 1/07, 68 ff.

Zurück zum Aufsatz von 2008. Man lese nur, wie Vogl am Ende eine ganze Liste von Fragen zusammenstellt, die beantwortet sein müssen, wenn es „Marktwahlen“ geben soll, dann sieht man, wie sehr er meiner späteren Arbeit geholfen hat. Eine „individuell gut informierte Kaufentscheidung der Kunden“, schreibt er, reiche nicht aus:

„Es geht eben wirklich um Prioritäten für ganze Gesellschaften. Auch darüber muss natürlich in einem ersten Schritt öffentlich diskutiert werden. Diese Diskussion muss jedoch in institutionalisierte Entscheidungsverfahren münden, um zu legitimen Beschlüssen zu führen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten, von der Aufnahme in Parteiprogramme bis hin zur Etablierung einer eigenen, über Marktwahlen entstandenen Kammer (W. Brüggen, M. Jäger), müssen sicher auch im Hinblick auf die Konsequenzen im gesamten politischen System sorgfältig diskutiert werden, so wie dies früher für das Verhältnis rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Institutionen im politischen Gesamtgefüge debattiert werden musste. Eine zentrale Frage scheint dabei die nach den Grenzen einer demokratischen Bestimmung der Ziele der Produktion zu sein. An einem Beispiel kann man sich die Tragweite dieser Problematik klar machen: Stabile Mehrheiten stehen zumindest in Umfragen gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dürfte eine entsprechende Mehrheit per Gesetz nicht nur jede Freisetzung, sondern auch die Forschung verhindern? Was bedeutet Minderheitenschutz in diesem Zusammenhang? Was kann andererseits überhaupt Gegenstand politischer Debatte und staatlicher Zielsetzung sein? Individualverkehr oder öffentlicher Personenverkehr? Festnetz oder Mobilfunk? Die Regionalisierung der Wirtschaftsstruktur? Ein gesundheitsfördernder betrieblicher Alltag? Wie können die Grundentscheidungen ‚klein gearbeitet‘ werden, von Gesetzen bis hin zum Verwaltungshandeln? Jeder Bereich verweist auf einen ganzen Komplex von Fragen.“

„Individualverkehr oder öffentlicher Personenverkehr“ war mein Exempel schon in den 1990er Jahren gewesen, aber die Frage, was überhaupt Gegenstand der gesellschaftlichen Zielsetzung sein kann, hatte ich da noch nicht gestellt. In der Blogreihe habe ich alle Fragen von Vogl zu beantworten versucht, ohne mich noch an sie zu erinnern. Bestimmt hat mein Unbewusstes sich erinnert. Dergleichen geschieht ja häufig und leider manchmal auch so, dass man sich an Antworten anderer nur unbewusst erinnert und sie deshalb für eigene Einfälle hält. Ein Beispiel entdecke ich hier: Vogl stellt sich „in einem Gedankenexperiment vor, dass für jeden Euro, den ein Unternehmen für Werbung ausgibt, ein weiterer Euro in einen Pool abgegeben werden müsste, aus dem im weitesten Sinn Verbraucheraufklärung bezahlt würde“ – bei mir taucht das ähnlich in der 71. und 72. Notiz, das heißt im November 2011 wieder auf. Wie man hier auch sieht, fragt Vogl nicht nur, sondern gibt Antworten, und überhaupt ist es die Eigenart seiner Texte, dass sie die Gesamtproblematik nicht auseinanderreißen, ihre verschiedenen Ebenen immer im Blick haben und dies auch mitteilen. In der Blogreihe gebe dann auch ich, aber mehr auseinandergelegt in Problemseiten, meine Antworten. Wobei ich noch einmal unterstreichen will, was für mich wie für Vogl gilt: Es sind nur denkbare Lösungen, die wir benennen; sie sollen d i e M ö g l i c h k e i t der Anderen Gesellschaft erweisen.

Auseinandergelegt sind bei mir schon einmal der innere Lauf dieser Gesellschaft und ihre Herbeiführung, auch das ist bei Vogl nicht der Fall. Ich hatte mir ja überhaupt nur den inneren Lauf vorgenommen. Jetzt, wo ich bei der Herbeiführung anlange, will ich Vogl auch nur dazu heranziehen. Ansonsten rege ich zum Nachlesen seiner Aufsätze an. Sein Hinweis auf Willi Brüggen, den früheren Freitag-Verleger, ist übrigens irreführend. Ich habe mal einen Aufsatz mit Brüggen zusammen veröffentlicht, in dem unsere Ideen aber nur nebeneinanderstehen (Bündnis für Arbeit mit ökologischem Umbau, in Das Argument 216/1996, S. 551-561); das Konzept „Marktwahlen“ hat er sich meines Wissens nie zu eigen gemacht.

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In Vogls Aufsatz von 2008 ist die Beantwortung der Frage, die uns am Ende der vorigen Notiz beschäftigt hat, schon enthalten. „Einerseits“, schrieb ich, „ist der Kampf für die Andere Gesellschaft einer darum, dass die Gesellschaft Ziele setzt und durchsetzt, statt sich ziellos um Nichts zu zentrieren. Andererseits wird darum gekämpft, ob die einen Ziele sich durchsetzen oder die andern. Wie verhält sich das zueinander, und wie schlägt sich Beides in der ‚Propagandaversion‘ nieder?“ In Vogls Aufsatz von 2012, aus dem die Frage als offene genommen ist, war sie deshalb offen geblieben, weil er seine Antwort schon 2008 gegeben hatte. Da schreibt er, es herrsche „die Vorstellung einer Zukunft, deren Notwendigkeiten wir wie Naturgesetze schon kennen“, und sie vertrage sich nicht „mit einer anderen möglichen Vorstellung einer offenen Zukunft, die gestaltet werden muss und kann. Diese zweite Vorstellung von Zukunft würde die Bestandsaufnahme dessen, was ist, verlangen, die Debatte über Ziele und dann über Mittel, wie man ihnen näher kommen kann“. „Wie Naturgesetze“ ist das weiterführende Stichwort: Wenn man nur Fluchtpunkte sieht, die dem eigenen Handeln von außen vorgegeben zu sein scheinen, durch den Drang des Prozesses nämlich, in den man verwickelt ist „wie in Naturgesetze“, dann sieht man nicht, dass es in Wahrheit eigene Zielsetzungen sind. Sie sind es tatsächlich nur unbewusst.

Die Naturgesetze sind aber nicht bloß Metapher. Vogls Formulierung verweist darauf, dass die kapitalistische Produktion mit Erkenntnissen der Naturwissenschaft arbeitet, sie in den Dienst nimmt und ihrerseits, das wird oft übersehen, von ihr geprägt ist. So wenig wie vom Staat ist das Kapital von der Naturwissenschaft zu trennen; was wir gewöhnlich „Kapital“ nennen, ist nur seine ökonomische Seite - die entscheidende Seite gewiss, aber doch nur eine von dreien. Es kann daher nicht überraschen, wenn Kapitalisten ihre Produktstrategien als bloßen Erfüllungsversuch einer naturgesetzlich bestimmten Evolution verstehen, und folglich „lügen“ sie nicht, wie ich in der letzten Notiz vorschnell geschrieben habe, wenn so auch ihre Selbstdarstellung ist. Das ändert zwar nichts daran, dass wir die Behauptung, die uns angekündigten Zukunftsprodukte ließen sich nicht aufhalten, in der öffentlichen Auseinandersetzung zurückweisen werden. Wir begreifen aber, diese ist nicht bloß ein Feld der Polemik, sondern des Argumentierens. Sogar mit den Kapitalisten selber müssen Argumente ausgetauscht werden - das heißt mit den Unternehmern, damit einige sich gegen ihr Kapitalistsein aufzulehnen beginnen.

Die eigentliche Auseinandersetzung wäre naturwissenschaftlich unter Naturwissenschaftlern zu führen. Wie Vogl zeigt, ist sie schon im Gange. Die Vorstellung der Gesetzlichkeit wird relativiert: „Teilweise in direkter Auseinandersetzung mit der philosophischen Diskussion finden auch in den Naturwissenschaften grundlegende Diskussionen über den Zeitbegriff und seine Folgen statt. [...] Ein alternatives Paradigma verbindet sich mit Namen wie A. N. Whitehead und I. Prigogine. Hier steht der Gedanke der unvermeidbaren Kontingenz der Entwicklung, der Existenz von qualitativen Sprüngen sowie andererseits der Abhängigkeit des spezifischen Heute vom Gestern im Mittelpunkt.“

Ich möchte hinzufügen, dass sich wie in der Ökonomie auch hier die Frage der Zielsetzung stellt, und mehr noch, sie stellt sich letztendlich zunächst hier und dann erst in der Ökonomie. Die Forschung folgt zwar ihren eigenen Regeln. Aber w a s erforscht wird und was d i e B e w e g u n g s r i c h t u n g d e r F o r s c h u n g ist, folgt strategischen Vorgaben. Mag das Kapital im Einzelnen Forschungsobjekte begründen, im Ganzen folgt es selber den Vorgaben einer „anonymen Strategie“, die sich deutlich genug in der Wissenschaftsgeschichte niederschlägt. So kann man konstatieren, dass es in der ganzen Forschungsgeschichte der Neuzeit um maximale Beschleunigung, das Größte und Kleinste und um das räumlich wie zeitlich Entfernteste gegangen ist. Versteht sich das von selbst? Nein, wir reden auch dann von Natur, wenn es um die Rettung der Erde geht, wozu die skizzierte Strategie wenig beiträgt. Eher können sich jene auf sie berufen, deren Perspektive das Verlassen der Erde ist, weil sie unrettbar verloren sei. Die von Vogl erörterte Debatte unter Naturwissenschaftlern könnte einer ökologischen Physik der Nähe und des Menschenmaßes vielleicht zur Dominanz verhelfen.

Für die Herbeiführung der Anderen Gesellschaft wäre die Schlussfolgerung zu ziehen, dass viel auf die weitere Vertiefung dieser Debatte ankommt und dass man deren Ausstrahlung aufs unternehmerische Kalkül im Auge haben und nach Möglichkeit befördern sollte. Das hat eine „materielle“ und eine „ideelle“ Seite. „Materiell“ geht es darum, dass sich im Verlauf so einer Entwicklung eine Unternehmerfraktion herausbildet und vergrößert, die schon zu einem Zeitpunkt, wo sie noch Kapitalfraktion ist und sein muss, für die Andere Gesellschaft eintritt. Hierfür ist die Problematisierung naturwissenschaftlicher Basisbegriffe und Zielsetzungen eine Grundvoraussetzung. Eben deshalb wird es dauern, bis sich so eine Fraktion herausbildet. Die Debatte wird in die Andere Gesellschaft hineinreichen, wo ihr dann freilich bessere Entfaltungsbedingungen geschaffen werden können. Damit sind wir schon bei der „ideellen“ Seite. Alles fängt damit an, dass der Streit um Zielsetzungen als solcher überhaupt begriffen wird. Denn nur wer begreift, dass er selbstgesetzten Zielen folgt, kann anfangen, sich zu fragen, welche anderen Ziele er setzen könnte. Dies Begreifen wird befördert, wenn die Ziele enthüllt werden, die sich hinter der Vorstellung verbergen, man folge Gesetzen als einem äußerlichen Zwang.

In allgemeinerer Form habe ich in der Blogreihe einen ähnlichen und dazu passenden Gedanken geäußert. Die Neuzeit, schrieb ich, folgt Fragen, von denen eine dominant wurde, der nämlich, wie man das Unendliche erreicht. Ineins damit habe sich ein Grundzug der Beantwortung durchgesetzt: dass alles, was möglich sei, auch Wirklichkeit werden müsse. Dies immer schon erreicht zu haben, war das, was man vorher Gott zugeschrieben hatte. Und dies ist es ja, was formell als Entwicklungs„gesetz“ erscheint. War anfangs noch mehr oder weniger bewusst gewesen, dass jene Frage auf Selbstvergottung zielte – so jedenfalls in der naturwissenschaftlich orientierten Philosophie –, wurde später vergessen, dass man einer Frage überhaupt folgte. Sie muss durch eine andere ersetzt werden, die Voraussetzung dafür, schrieb ich, sei aber, dass sie erst wieder ins Bewusstsein trete. Und gerade weil der Grundzug der Beantwortung der Frage in die Kapitallogik eingegangen sei, die sich tagtäglich bemerkbar macht und in der Krise umso mehr, könne das auch geschehen.

Die strategische Schlussfolgerung aus all dem ist klar: Wir prangern zunächst die Ziellosigkeit an, mit der das Kapital auf die vermeintliche Naturnotwendigkeit seiner Evolution reagiert, konfrontieren ihr die Ziele, die in Teilen der Gesellschaft bewusst verfolgt werden, und wenden uns gegen das TINA-Prinzip, das der Naturnotwendigkeitsvorstellung zugrunde liegt. All das geschieht in Spuren schon heute, es bahnt sich aber eine erste große Entscheidungsschlacht an: auf dem Feld der neuen Giga-Generation von Autos, die man uns andient mit dem Geschmacksverstärker, es seien selbststeuernde, und die dem ökologischen Erfordernis, Privatautos eher drastisch zu reduzieren, direkt ins Gesicht schlägt. Dass dieser Plan von der Politik einfach durchgewunken wird, ist der beste Beweis seines antidemokratischen Charakters. Wenn wir das laut sagen, haben wir schon den Schritt getan, zu den unbewussten Kapitalzielen überzuleiten. Denn dass s i e es sind, die den Prozess leiten, setzen wir gegen das TINA-Prinzip. Und dann stehen Ziele gegen Ziele. „‚Eroberung des Staates‘“, so Vogl, „bedeutet zunächst nichts anderes, als dass bewusst und ausdrücklich über Wege der Organisation der Nachfrage debattiert wird.“

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„Selbstverständlich kann diese Strategie der Eroberung des Staates nur Dauer erhalten, wenn auch politische Parteien, vielleicht – aus je anderen Traditionen heraus und mit je anderen Begründungen – grüne oder sozialistische, sich dieses Ziel zu eigen machen. Nicht nur aus taktischen, sondern auch aus prinzipiellen Gründen darf sich dieses Projekt jedoch nicht ausgrenzend gegen andere politische Traditionen richten: Niemand kennt ein Gesetz zukünftiger Entwicklung. In diesem Sinn kann die demokratische Bestimmung der Ziele der Wirtschaft prinzipiell nicht das Projekt einer Partei oder Parteigruppierung sein.“

In der Tat muss „der Staat erobert werden“ – nicht damit die Ökonomie verstaatlicht werde, sondern weil weder das Kapital n o c h d e r S t a a t , sondern die Gesellschaft über sie bestimmen soll und wir dafür den politischen Freiraum schaffen. Er muss aber demokratisch erobert werden, und da kommen die Parteien ins Spiel. Vogl hat recht, wenn er hervorhebt, dass sie nur mitwirken, wie es ja auch im Grundgesetz steht. Vielleicht sind sie gar nicht der wesentliche Hebel, keinem Zweifel unterliegt es aber, dass man an ihnen so wenig vorbeikommt wie am Staat. Nein, ich gehe weiter und sage, sie s i n d der Staat. Ich meine das im Ernst und begründe es in dem Aufsatz Machtblock und Parteien bei Poulantzas, in A. Demirovic / S. Adolfs / S. Karakayali (Hg.), Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas, Baden-Baden 2010, S. 241-257. Wenn sich das aber so verhält, ist Vogls andere These umso wichtiger: Es kann nicht sein, dass eine Partei oder Parteiengruppierung den Staat dadurch erobert, dass sie sich gegen eine andere Parteiengruppierung wendet. Auf diese Art würde man ihn gerade nicht erobern, sondern dann träte wieder nur ein, wovon in dieser Blogreihe schon mehrfach die Rede war: dass das Parlament, und damit die Wahlbevölkerung, in zwei Blöcke gespalten würde. Gerade auf diese Spaltung stützt sich der vorhandene Staat als Staat des Kapitals.

Ich möchte dazu einen klassischen Text zitieren, verfasst von seinerzeit führenden westlichen Politikwissenschaftlern – Seymour M. Lipset und Stein Rokkan, Cleavage Struktures and Voter Alignments, in dies. (Hg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 4 -: Wenn es so ein Spaltungssystem gibt, schreiben sie, wird es von den Bürgern nicht angegriffen werden, vielmehr werden diese „ermutigt, zwischen ihrer Loyalität zum gesamten politischen System und ihrer Haltung zu den Richtungen der konkurrierenden Parteien zu unterscheiden“. Das funktioniert so, dass die Parteiengruppierungen zwar weiter nichts als „Konglomerate von Gruppen“ sind, „die über eine erhebliche Menge von Themen differieren“, sie aber trotzdem „vereint sind in ihrer noch größeren Feindschaft zu den Konkurrenten im anderen Lager“. Will sagen, sie finden ihr eigenes Lager übel genug, es ist aber „das kleinere Übel“.

Daneben dass, wie ich schon schrieb, zu den vorhandenen Lagern, dem konservativen und dem sozialdemokratischen, ein drittes treten sollte, das sich gegen andere Parteien nicht generell sondern nur darin wendet, dass ein Teil oder eine Dimension ihrer Beschlüsse den kapitalistischen Staat trägt, muss wohl noch eine andere Methode gegen die von Lipset und Rokkan mit Genugtuung beschriebene Dialektik der Lager aufgeboten werden: ein E n t r i s m u s , der keine Partei des Verfassungsbogens auslässt. Darauf macht Vogls Formulierung aufmerksam. Denn die „demokratische Bestimmung der Ziele der Wirtschaft“ kann so wenig das ausschließliche „Projekt“ der Parteiengruppierung des dritten Lagers sein, wie es zum Unterscheidungsmerkmal eines von zwei Lagern taugte. Das Erfordernis des Projekts und die Möglichkeit, es zu realisieren, muss ja nach und nach von a l l e n Bevölkerungsgruppen, vermittelt (auch) über deren Parteien, erkannt werden. Das Mittel dazu kann nur sein, dass in jeder Partei des Verfassungsbogens eine Gruppe von Mitgliedern wirkt, die es parteiintern zur Diskussion stellt. Sie wird sagen, da, wo sie eingetreten ist: Wir haben vielleicht als Partei XY unsere eigene ausschließliche Idee davon, welcher Weg der Ökonomie gut täte, aber dass über solche Wege demokratisch gestritten und entschieden wird, diese Leitvorstellung sollte uns doch mit allen Parteien, die demokratisch sind, verbinden.

Man beachte, dass so ein Entrismus neuartig wäre. Über bisherige Spielarten dieser politischen Methode informiert recht gut der einschlägige Wikipedia-Artikel. Derjenige, den Trotzki einst empfahl, war erstens ein geheimes Manöver, zweitens sollte die Methode nur auf linke Parteien angewandt werden und zwar, drittens, zu dem Zweck, sie zu spalten. Was unser Projekt angeht, ist das Erste ganz unnötig, denn wer soll es verhindern wollen und können, dass Leute in eine Partei eintreten, die für eine demokratische Ökonomie plädieren? Das Zweite ist, wie eben begründet wurde, politisch falsch. Unnötig u n d falsch ist das Dritte. Es ist hier also von einem offenen, allseitigen und konstruktiven Entrismus die Rede. Wie man dem Wikipedia-Artikel entnehmen kann, hat es Ansätze zum konstruktiven Entrismus, immer freilich beschränkt auf linke Parteien, nach 1968 schon gegeben. Dass sie sich als wirkungslos erwiesen haben, ist auch deshalb kein Argument gegen das Konzept als solches, weil jeder Entrismus bestimmte Ziele erreichen will: Diejenigen marxistischen, die bisher im Spiel waren, mussten den Preis für ihre Beschränktheit und mangelnde Überzeugungskraft zahlen. Um die Chancen eines Entrismus, der die wahrhaft demokratische Fundamentierung der Ökonomie anstrebt, steht es viel besser.

Die Gliederung des Blogs "Die Andere Gesellschaft" in Kapitel finden Sie hier. Sie können von dort aus alle bisher 141 Eintragungen anklicken.

Das Tagebuch zum Blog finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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