(14) Fall ab, Herz

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In dieser und den folgenden Blog-Notizen geht es um den Begriff des Kapitals. Es soll deutlich werden, warum die Andere Gesellschaft gut daran tut, sich vom Kapital ganz und gar zu befreien, in dem Sinn, dass es aufhört zu existieren; aber auch, was das geschichtlich Voranbringende am Kapital war und von wann an es degenerativ wurde; und schließlich, was von ihm bleiben wird, wenn es selbst verschwunden ist. Mit dieser letzten Frage müssen wir beginnen, denn das ist im Kern die Frage, wie wir das Kapital überhaupt definieren. Es wird ja wie jede Sache aus Verschiedenem zusammengesetzt sein, und manches, was es ausmacht, was sogar "konstitutiv" ist für seinen Begriff, wird zugleich auch anderen Sachen zugehören, die in keiner Weise etwas wie Kapital sind. Wenn ich sage, das Kapital "hört auf zu existieren", meine ich natürlich, verschwinden wird das, was Kapital spezifisch zu Kapital macht, während es zugleich unspezifische Kapital-Elemente und -Dimensionen geben mag, die fortdauern. Es ist nicht anders, als wenn man sagt, dieser Baum sei eine Gefahr für alle, die seinen Schatten suchen, denn er sei beschädigt vom Sturm und könne fallen, deshalb müsse er gefällt werden - man wird dennoch aus dem Holz, das "konstitutiv" zu ihm gehörte, einen schattenspendenden Unterstand zimmern. Nur das Spezifische verschwindet, das den Baum als Baum definiert. Es definiert ihn, weil es ihn einmalig macht.

Wenn aber eine Definition am Anfang stehen muss, die das Einmalige am Kapital hervorhebt, ist es nicht nur notwendig, die Befreiung vom Kapital, seine vergangene Nützlichkeit und das, was von ihm bleiben wird, zu erörtern, sondern wir geraten auch in eine Erörterung von Kapital-Definitionen. Verschiedene Schulen werden von ganz verschiedenen Dingen reden, wenn sie "vom Kapital" reden. Je nachdem, was sie als das Spezifische am Kapital ansehen, werden sie es definieren. Woran sich hier nicht die Frage schließen soll, welche Definition "die richtige" sei. Denn es mag sein, dass von verschiedenen Definitionen verschiedene Dinge jeweils gut erfasst werden und man sich nur zu einigen hätte, welche man "Kapital" nennen will, welche nicht. Wenn ich jedoch sage, "das Kapital soll aufhören zu existieren", geht es mir darum, dass da etwas ist, von dem ich meine, dass es aufhören soll, und nicht darum, wie es genannt wird. Dass ich mich selbst des Namen "Kapital" bediene, um das Etwas zu bezeichnen, ist zwar gewiss kein Zufall, sondern rührt daher, dass Marx demselben Etwas denselben Namen gab. Interessant daran ist aber, um es noch einmal zu sagen, die definierte Sache und nicht der Name.

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Wenn man den Baum als "eine Pflanze, die nicht in den Himmel wächst", definieren würde, wäre das grob unzureichend, denn man hätte ein Merkmal genannt, in dem sich der Baum von keiner sonstigen Flora unterscheidet, ja von gar keinem Lebewesen oder Naturding. Wenn man aber vom Kapital sagen würde, es sei ein Wirtschaftsgut, das seinem eigenen Begriff nach in den Himmel wachse, hätte man recht. Was jedenfalls Marx herausfindet, läuft gerade hierauf hinaus.

Man sieht das nicht von Weitem. Von Weitem sieht es so aus, als sei G-W-G' die Marxsche Kapitaldefinition: Geld gegen Ware, Ware wieder gegen Geld getauscht; Investieren, Hergestelltes auf dem Markt Verkaufen, mit Gewinn Abschließen. G-W-G' und ein Teil der Argumentation, die Marx an der Formel festmacht, haben es ja zu einem hohen Bekanntheitsgrad gebracht. Marx beginnt mit der Ware, daher mit dem entwickelten Warentausch, in dem man Waren gegen Geld tauscht, um Geld gegen andere Waren zu tauschen - W-G-W. Zum Beispiel, man tauscht für die eigene Arbeitskraft Lohn ein und kauft mit dem Lohn Lebensmittel. Dann weist Marx darauf hin, dass auch jene andere Formel im Spiel ist, in der man mit Geld Waren einkauft, um sie wieder zu Geld zu machen. Das tut man aber, weil am Ende mehr Geld da ist oder sein soll als am Anfang, eben G', "G plus Delta G". Und nun stellt Marx die Frage, wie das denn sein könne. Dabei unterstellt er, dass keine Übervorteilung im Spiel ist: Der Geldhaber kauft Waren zu dem Preis, den sie wert sind, und verkauft sie ebenso. Diese Unterstellung ist notwendig, weil ein ganzes System erklärt sein will, in dem jeder aus dem andern G' herauszuholen versucht. Wenn da einer übervorteilt, tun es alle. Niemand hat etwas davon, es gleicht sich nur aus.

Deshalb Marx' alternative Erklärung: Es muss an den Waren liegen, die die Geldhaber kaufen. Diese Waren müssen die Eigenschaft des "Geldheckens" haben. Und tatsächlich, fährt Marx fort, sei immer eine dabei, die mehr Wert schafft als sie selber hat, nämlich die Ware Arbeitskraft. Sie sei so viel wert wie die Lebensmittel, mit der sie sich als Kraft funktionstüchtig erhalte, also wie der Lohn, wenn er angemessen hoch ist. Der Wert des Produkts, den die Arbeitskraft schaffe, gehe aber über den angemessenen Lohn hinaus. Das, so Marx, sei der Grund, weshalb der Geldhaber, der sich diesen "Mehrwert" kostenlos aneigne, das Produkt, das er selbst mit G bezahlt habe (mit dem, was Rohstoffe und Maschinen gekostet haben, sowie mit dem Arbeitslohn), zum Preis G' weiterverkaufen könne (dem Marktpreis für die fertige Ware).

Das ist ein wichtiger Gedankengang, aber man darf ihn nicht für eine Definition des Kapitals halten. Er zeigt nur, wie die Existenz von so etwas wie Kapital überhaupt möglich ist. Marx selbst sagt: "In der Tat also ist G-W-G' die allgemeine Formel des Kapitals, wie es unmittelbar in der Zirkulationssphäre", das heißt auf dem Markt statt in der Produktion, "erscheint." So erscheint es "unmittelbar", das heißt, man braucht nur hinzuschauen, dann sieht man, die Kapitalisten hecken Geld, sie verkaufen, um Gewinn zu machen. Das ist offensichtlich, aber Marx will auf mehr hinaus. Er will auch nicht nur sagen, dass der Gewinn der Kapitalisten auf dem Schweiß der Arbeiter basiere. Sondern seine Hauptaussage ist, dass der Kapitalist die Bewegung G-W-G' immerzu wiederhole: "Im Kauf für den Verkauf", das heißt in G-W-G', "sind Anfang und Ende dasselbe" - G ist Anfang, G ist Ende, jedesmal "Geld" -, "und schon dadurch ist die Bewegung endlos." Es verwandelt sich nämlich das G am Ende gleich wieder in ein G am Anfang, will sagen, der Gewinn wird reinvestiert, und wenn die Reinvestition ihrerseits Gewinn abwirft, wird der neue Gewinn seinerseits reinvestiert, und so immer weiter. Was herauskommt, ist eine endlose Bewegung: G-W-G', G'-W-G'', G''-W-G'''...

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Das "schon dadurch" behalten wir für später im Kopf. "Schon dadurch", dass Geld dasjenige ist, was die Kapitalbewegung einleitet und worauf sie hinausläuft, ist sie endlos? Wir werden sehen. Aber jedenfalls: Sie ist endlos! Das ist der springende Punkt. Marx drückt sich in der drastischsten Weise aus, um es zu unterstreichen: "Die Bewegung des Kapitals ist [...] maßlos", "nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, fungiert" jemand "als Kapitalist". Als "unmittelbarer Zweck des Kapitalisten" ist "nicht der einzelne Gewinn [zu behandeln], sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens". Marx sagt also, G-W-G' sei noch kein Kapital: Von Kapital könne man erst reden bei G'..G''..G''' und so weiter ins Endlose.

Übrigens unterstreicht er auch, dass der "Kapitalist" hier nur als eine Art Verkörperung des Kapitals ins Spiel kommt. Er ist "personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital". Wir halten fest: Marx definiert das Kapital und nicht irgendwelche Personen. Ob eine bestimmte Person weiter nichts als "Kapitalist", Kapital-Verkörperung ist, ist eine ganz andere Frage. Vom Kapital aber, wenn jemand sich in seine Logik begibt, geht ein Zwang aus. Davon reden wir jetzt. Marx sagt, es sei "ein automatisches Subjekt", und dann sogar, es sei "eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz". So ungefähr definierte man Gott im Mittelalter. So allmächtig wie Gott im Mittelalter, will Marx sagen, kommt in der Neuzeit das Kapital daher: als eine "Substanz", die "sich selbst" bewegt, und zwar ins Endlose.

Unter allen Marxschen Versuchen, diese bemerkenswerte, ja ausgesprochen merkwürdige Endlosigkeit zu artikulieren, ist die folgende wohl am merkwürdigsten: Dass G' auf dasselbe hinauslaufe wie vorher G, nämlich auf Delta-G, Gewinn, "Mehrwert", und dann wieder G'' auf dasselbe wie G' und so immer weiter, liege daran, sagt Marx, dass G, G', G'' auch tatsächlich dasselbe s e i e n - sie haben nämlich "denselben Beruf [...], sich dem Reichtum schlechthin durch Größenausdehnung anzunähern". (Alle Zitate aus Das Kapital, Erster Band, MEW 23, S. 166-170.) Das ist eine Bemerkung von großer Tiefe und hoher Brisanz. Man begreift es noch besser, wenn man ihr eine ähnliche, noch offener philosophisch gefasste Bemerkung aus den "Grundrissen" zur Seite stellt: "Das Kapital als solches", heißt es da, "setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen." (MEW 42, S. 253) Das Kapital liefe also nicht nur endlos dem Gewinn hinterher, sondern "das Endlose" selber, wenn wir einmal annehmen, so etwas könne es geben, wäre das Ziel oder der Fluchtpunkt seiner Bewegung. Darauf werden wir zurückkommen müssen.

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Wie ich oben darlegte, ist mit der Marxschen Überlegung, dass sich in G-W-G' der Kapitalist den "Mehrwert" der Arbeit aneigne, noch keine Definition des Kapitals erreicht, sondern sie zeigt nur, wie Kapital überhaupt möglich ist. Jetzt aber, wo wir wissen, wie Marx das Kapital definiert, nämlich als die endlos sich steigernde Wiederholung von G-W-G', müssen wir hinzufügen, dass durch jene Überlegung auch nicht einmal die Möglichkeit von Kapital zureichend erfasst ist. Denn es ist nur erklärt, dass jemand Gewinn machen kann, indem er Arbeitskraft ausbeutet, nicht aber, wie ein "endloser" Gewinn sich derart erzielen lässt. Ausbeutung als solche hat es ja immer gegeben. Es gab Sklaven und Leibeigene. Deren Herren beuteten kräftig aus, waren aber keine Kapitalisten. Ausbeutung ist nicht Kapitalismus. Finden wir denn etwas wie "endlose" Ausbeutung zur Erklärung des "endlosen" kapitalistischen Gewinns?

Ja, wir werden so etwas finden. Aber auch dadurch erklären wir nicht die Möglichkeit der Bewegung ins Endlose. Wie kommt der Zwang denn zustande, dass man meint, man müsse ins Endlose gehen oder "wolle" es gar? Als wäre man ein Wasserhahn, der nicht zugedreht wird, oder ein Baum, der in den Himmel wächst? "Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit", geht bei Ingeborg Bachmann eine Zeile, deren wüste Rhythmik mich begeistert.

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Wenn wir somit bemerken, dass wir uns, vom Kapital sprechend, in einem Diskurs der Endlosigkeit bewegen, dann bemerken wir gleich noch viel mehr. "Grenzen des Wachstums" war der erste Bericht des Club of Rome überschrieben. Ökologie also. Aber nicht Ökologie allein. Leben wir nicht überhaupt in einer auffällig "unendlichen" Kultur? Fallen uns da nicht andere Dinge ein, die noch interessanter sind als das Kapital, noch aufregender als Ökologie? Zum Beispiel unser Triebleben: Jacques Lacan hat im "Begehren", wie es ihm in der Analyse begegnete, "ein unendliches Maß" gesehen, ein Gleiten, das kontinuierlich hinauslaufe auf das "Phantasma eines zum Imperativ erhobenen Genießens", das heißt auf de Sade; "fast wie Hohn" wirke dies Phantasma, schließe aber "in keiner Weise die Möglichkeit aus[...], zum allgemeinen Gesetz erhoben zu werden" (Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim Berlin 1996, S. 376 f.). Unser Triebleben ein "Hohn"...

Mozarts Don Giovanni sah in jeder eroberten Frau nur eine weiter vorgeschobene Grenze seiner Kraftentfaltung, die es ebenfalls noch zu übersteigen galt. Für Sören Kierkegaard war er das Symbol des Zeitgeistes. Hören wir seine Deutung: "Er hat somit überhaupt kein Bestehen, sondern hastet in ewigem Verschwinden dahin, geradeso wie die Musik, von der es gilt, dass sie vorbei ist, sobald sie aufgehört hat zu tönen, und nur wieder entsteht, indem sie abermals ertönt." (Entweder - Oder, München 1988, S. 123 f.)

Oder nehmen wir Wagners "Tristan". Eine Liebe "im Treibhaus" wird da von der Musik nachgebildet: "Weit in sehnendem Verlangen / Breitet ihr die Arme aus", ihr Pflanzen im Treibhaus nämlich, "Und umschlinget wahnbefangen / Öde Leere nicht'gen Graus." Liebende scheinen einander zu umschlingen, Wagner jedoch sieht ein Schlingen nach oben, ein Wuchern ins Nichts. Deshalb kommt die Musik im Tristan-Vorspiel niemals bei ihrem Grundton "a" an. Sie ist eben endlos.

Oder das Rauchen: Man stelle sich einen Indianerhäuptling vor, der ununterbrochen die Friedenspfeife raucht. Warum sind wir Kettenraucher, wem wollen wir was damit sagen? Und warum wollen wir gar nicht wissen, was die Kulturtechnik des Rauchens bedeutet, nämlich dass man sich auf die Sprache der Toten einlässt? Das muss man doch nicht pausenlos tun.

Ich weise auf diese Dinge hin, um zu bekunden, dass ich wahrlich viel lieber über sie schreiben würde als über das Kapital. Es hätte viel mehr mit mir selbst zu tun. Und man sagt doch, auf unserm Weg in die Andere Gesellschaft müssten wir unsere Mentalität und Psychologie grundlegend verändern. Bitte schön, hier ist etwas zum Verändern, nämlich dieses unendliche Leben wie ein Wasserhahn, der nicht zugedreht werden will. Dabei ist die Musik so schön, die es uns abspiegelt! Ein "Treibhaus" ganz ohne Treibhauseffekt! Ja, man möchte fragen: Ist das Kapital denn wichtiger als mein Triebleben, meine Musik, meine Sucht?

Nicht wichtiger, aber vordringlich: Mozarts und Wagners Musik kann nicht der Grund sein, weshalb das unendliche Begehren in so Vieles eindringen konnte. Diese Figur musste erst die Ökonomie ergreifen. Von dort aus konnte sie dann die ganze Gesellschaft überwältigen. Da vor allem muss man sie angreifen, wenn man nämlich meint, sie verdiene es, angegriffen zu werden. Verdient sie es? Das wird meine nächste Frage sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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