1
Unter den am Anfang der vorigen Notiz aufgelisteten Fragen war die, was das geschichtlich Voranbringende am Kapital gewesen ist und von wann es eine Last wurde. Am Ende, nachdem ich das Kapital als eine unendliche Bewegung definiert hatte - der Tausch Geld gegen Ware, dann Ware gegen mehr Geld wird endlos wiederholt, der "Mehrwert" dabei endlos gesteigert: so lange, dem Marxschen Kapitalbegriff gemäß, bis "das Endlose" selbst erreicht wäre -, stellte sich dieselbe Frage in der verschärften Form, ob ein Unendliches, das "alles überwältigt", es nicht verdiene, insgesamt angegriffen zu werden. Das war praktisch die Frage, ob es nicht am besten gewesen wäre, wenn es so etwas wie Kapital überhaupt niemals gegeben hätte. Die ökologische Krise bringt auf solche Gedanken. Der Kapitalismus als zum Wachstum verdammte Produktionsweise kommt mit den Grenzen der Erde, ihrer ökologischen Belastbarkeit, notwendig in Konflikt. Er scheint als Feind der Erde ein pures Übel zu sein.
Dieser Ansatz muss in mehreren Richtungen weitergeführt werden. So wird der Begriff des Kapitals als einer unendlichen Bewegung genauer zu prüfen sein, auch im Vergleich mit nichtmarxistischen Theorien. Wenn er sich bewährt, werden wir neben den ökologischen auch innerökonomische Krisenfolgen erörtern. Doch hier setzen wir erst einmal die Korrektheit des Ansatzes voraus und bleiben bei der Frage, ob eine Bewegung, von der wir richtig annehmen könnten, dass sie ins Unendliche tendiert, nicht schlechterdings hätte unterbleiben sollen. War es nicht gerade der unstillbare Wachstumsdurst, der das Kapital dazu trieb, neben der menschlichen Arbeitskraft auch die fossilen Energiequellen auszubeuten und in historisch kürzester Zeit zu verbrauchen, dabei auch den Treibhauseffekt zu erzeugen?
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Ernst Bloch hat die unendliche Bewegung verteidigt. Indem er ihre Anfänge mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit identifiziert, weist er darauf hin, dass es da eine Enge gab, die geöffnet werden musste (Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 134 f.; Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1969, S. 163). Der Impuls ins Unendliche war zunächst nur die Übertreibung des Wunsches, eine Gruppe ganz bestimmter, historisch gegebener Grenzen zu überschreiten. Bloch treibt zwar keine Kapitalanalyse, zitiert aber etwa den frühneuzeitlichen Philosophen Giordano Bruno (vgl. Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt/M. 1972, S. 539):
"Eingedenk [...] der uns innewohnenden Gottheit [...] wird der Geist, sich seiner Macht bewußt, den Flug ins Unendliche wagen, wo er zuvor im engsten Kerker eingeschlossen war, [...] und noch dazu waren seine Flügel gewissermaßen beschnitten mit dem Messer eines stumpfen gewohnheitsmäßigen Glaubens, der zwischen uns und der Herrlichkeit neidischer Götter eine Nebelwand bildete, ja eine Wolkenbank aus der eigenen Einbildungskraft schuf, die er selbst für aus Erz und Stahl bestehend ansah. Aber befreit von diesem Schreckbilde der Sterblichkeit [...], von den Ketten grausamer Erinnyen und den Einbildungen parteiischer Liebe schwingt er sich dem Äther zu, durchschwebt das unbegrenzte Raumgebiet so großer und zahlloser Welten, besucht die Gestirne und überfliegt die eingebildeten Grenzen des Alls."
Wie sehr der "Flug ins Unendliche" gewagt werden musste, zeigt ja nichts klarer und schlimmer als gerade Brunos Schicksal, den eine die Enge verteidigende Kirche verbrennen ließ. In ihrer Sicht flog der Philosoph auf dem Besenstiel.
3
Bruno hat gleichsam das Mittelalter beendet. Sein "Flug ins Unendliche" übertreibt diesen Schritt und unterstreicht ihn drastisch. Beim Kapital wird daraus eine Methode. Ihm genügt kein einzelner Schritt. Es häuft Ende um Ende aufeinander. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren", schreiben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Sie sind fasziniert, denn auch diese unendliche Bewegung zeigt sich als Öffnung einer Enge: "Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen." (MEW 4, S. 465)
Aber mögen die Enden sich auch häufen, auf "das Unendliche" wird weder die erste noch die zweite, dritte und n-te Beendigung hinauslaufen. Im Gegenteil kann der Bewegung des Kapitals vorausgesagt werden, dass sie selbst ein Ende haben wird, eben weil sich zwar eine Enge öffnen, aber kein Tor zur "Unendlichkeit" aufstoßen lässt. Ganz sicher stellt sich das irgendwann heraus, und mehr noch, schon vor dem Ende wird die Bewegung irgendwann aufhören, "weiterführend" zu sein. Man wird sie auf einmal sinnlos und destruktiv finden. Ja, manche werden behaupten, das sei sie schon immer gewesen. Und dann? Dann muss eben Schluss sein. Will sagen, dann braucht man eine andere Bewegungsform. Aber bis dahin ist es gut, dass es die "unendliche" Bewegung gibt.
Diese Überlegung hat auch vor der ökologischen Krise Bestand. Es waren doch die Ökologen selber, die in den 1970er Jahren warnten, wenn nicht bald "Grenzen des Wachstums" eingezogen würden, werde die Erde unheilbar verletzt. Das heißt, bis dahin hatte sich das Wachstum in gerade noch zuträglichen Grenzen bewegt. "In vernünftigen Grenzen" kann man nicht sagen. Die fossilen Energiequellen waren rücksichtslos dezimiert worden. Doch es gab die Möglichkeit, in Zukunft die unerschöpfliche Sonnenenergie zu nutzen. Zur Bilanz gehört auch die andere Seite: Die Gesellschaft hat sich in anderthalb Jahrhunderten eine technische Basis verschafft, von der frühere Generationen nur träumen konnten. Gewiß sind die Errungenschaften dieser Technik erst noch gerecht zu verteilen. Auch ist manches an ihr schädlich und muss umgebaut werden. Doch in vieler Hinsicht "erleichterte" sie tatsächlich, wie Galilei auf Brechts Bühne sagt, "die Mühsal der menschlichen Existenz".
4
Mit Galilei war aus Brunos Philosophie naturwissenschaftliche Forschung geworden. Bruno und Galilei waren keine Kapitalisten, doch es ist ihr Impuls, der später im Kapital weiterlebt. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine geistige Verwandtschaft. So etwas wie eine Untrennbarkeit des Kapitals von Galilei und Bruno liegt vielmehr schon im Kapitalbegriff, wie ihn jedenfalls Marx gebildet hat: Die kapitalistische Produktionsweise, schreibt er, habe sich erst "als eine Produktionsweise sui generis gestaltet", als es zur "Anwendung von Wissenschaft und Maschinerie auf die unmittelbare Produktion" gekommen sei (Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1969, S. 61). Darin liegt, dass die Anwendung von Maschinerie die Anwendung von Wissenschaft ist. Es sei die "direkt aus der Wissenschaft entspringende Analyse und Anwendung mechanischer und chemischer Gesetze", schreibt Marx in den "Grundrissen", "welche die Maschine befähigt dieselbe Arbeit zu verrichten, die früher der Arbeiter verrichtete" (Ausg. Berlin 1953, S. 591). Solche Wissenschaft hat mit Pionieren wie Galilei und Bruno begonnen.
Da wir Brunos "zahllose Welten" noch im Ohr haben, können wir uns an dieser Stelle fragen, ob etwa gerade in der Wissenschaft etwas liegt, wovon das Kapital ins Unendliche getrieben wird. Soweit ich weiß, ist Marx der Frage nirgends nachgegangen. Er inspiriert aber zu einer bejahenden Antwort, wenn er in den "Grundrissen" schreibt, dass die Maschine "am vollständigsten ihrem Begriffe [entspräche]", wenn sie "ein perpetuum mobile [wäre]" (a.a.O., S. 652).
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Der "Unternehmer", wie er am Ende des 18. Jahrhunderts auftritt, ist die Synthese von Kapitalist und wissenschaftlich orientiertem Techniker. Er prägt im ganzen 19. Jahrhundert die "Akkumulationsgeschichte" des Kapitals. Mit technischen Träumen, die es schon zu Brunos Zeiten gab - man denke an die Maschinen, die Leonardo da Vinci zeichnete, man gehe weiter zurück zu den Technik-Phantasien des Franziskaners Roger Bacon -, wird jetzt ernst gemacht. Warum gerade jetzt? Die allgemeinste Erklärung liegt vielleicht in der Gründung der USA. Diese bewirkte einerseits einen Aufschwung des englischen Handels, der das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Aufrüstung der englischen Handwerkerkunst weckte. Andererseits zog die amerikanische Revolution die französische nach sich. Mit dieser fielen in Kontinentaleuropa mentale Barrieren gegen das Projekt einer technischen Neuerschaffung der Welt. Der Ballonflug der Brüder Montgolfier wurde von vielen als das Symbol der französischen Revolution angesehen.
In England entstand ein Klima, in dem Unternehmer auf Wissenschafter zugingen und umgekehrt. Dies geschah häufig in gelehrten Gesellschaften, zum Beispiel der Literal and Philosophical Society in Manchester, wo man sich besonders für Chemie und Mechanik interessierte und einen Kurs über die Techniken des Bleichens, Färbens und Bedruckens von Baumwolle einrichtete. Die Existenz solcher Gesellschaften ist sicher vom Staat gefördert worden, der an allem, was mit den USA zusammenhing, und so auch mit dem diesbezüglichen Textilhandel, besonders interessiert war, schon weil er zunächst versuchte, die nordamerikanische Kolonie am Unabhängigwerden zu hindern. Der Beispiele für ein Zusammenwirken von Unternehmern und Wissenschaftlern gibt es viele, zum Beispiel konnte James Watt die Dampfmaschine nur deshalb vervollkommnen, weil er sich von den thermodynamischen Forschungen Joseph Blacks inspirieren ließ. (Louis Bergeron, Die Industrielle Revolution in England am Ende des 18. Jahrhunderts, in Fischer Weltgeschichte 26, Frankfurt/M. 1969, S. 13-30)
Im revolutionären Frankreich wird Henri Comte de Saint-Simon zum "utopischen Sozialisten". Bloch sagt von ihm, er habe noch nicht zwischen Arbeiter und Unternehmer unterschieden (Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 656). In der Tat geht sein Blick mehr aufs bevorstehende technische Paradies, das gemeinsame Produkt beider Klassen. Aber so "utopisch" war er gar nicht. Bloch selbst unterstreicht, dass Pläne für den Suez- und Panama-Kanal zuerst von seinen Schülern ausgedacht wurden (a.a.O., S. 657). Saint-Simon ist vor allem deshalb interessant, weil er sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiterbewegung inspirierte. Das letzte weiß man, er wird ja nicht erst von Bloch, sondern schon im Kommunistischen Manifest kritisch gewürdigt. Weniger bekannt ist das erste. Auf Saint-Simon berufen sich die Brüder Peronel, die in Frankreich eine große Bank zum Zweck der Kapitalausleihe an Industrielle gründen. Sie müssen diese neue Funktion einer Bank den traditionellen Banken erst aufzwingen und werden dabei von Louis Bonaparte unterstützt, der schon in seiner Jugend auf Saint-Simons Ideen gestoßen war. (Vgl. Patrick Verley, Kapitel 2 und 4 in Fischer Weltgeschichte 27, Frankfurt/M. 1974, S. 113 ff., 122, 252)
In Deutschland, wie man weiß, werden Revolutionen erst einmal gedanklich ausgetragen. Da sieht man umso deutlicher, dass all die technischen und unternehmerischen Erfindungen Bruchstücke einer großen Konfession sind: "All jene [...] verwüstenden Orkane", lesen wir bei Fichte, "jene Erdbeben, jene Vulkane können nichts anderes sein, denn das letzte Sträuben der wilden Masse gegen den gesetzmäßig fortschreitenden, belebenden und zweckmäßigen Gang [...] - nichts, denn die letzten erschütternden Striche der sich erst vollendenden Ausbildung unseres Erdballes"; "jene Ausbildung muss endlich vollendet, und das uns bestimmte Wohnhaus fertig werden". "Im Andrange der Not zuerst geweckt, soll späterhin besonnener und ruhig die Wissenschaft eindringen in die unverrückbaren Gesetze der Natur", und so soll "die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft [...] ohne Mühe dieselbe beherrschen, und die einmal gemachte Eroberung friedlich behaupten. Es soll allmählich keines größern Aufwandes an mechanischer Arbeit bedürfen, als ihrer der menschliche Körper bedarf zu seiner Entwicklung, Ausbildung und Gesundheit, und diese Arbeit soll aufhören Last zu sein; - denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt." (Die Bestimmung des Menschen, erschienen 1799/1800, zitiert aus Werke I, hg. von Wilhelm G. Jacobs, Frankfurt/M. 1997, S. 323 f.)
Wir sehen alles in allem, dass der entwickelte Kapitalismus keineswegs mit blinder Gleichgültigkeit gegen den Gebrauchswert der Produkte beginnt. Im Gegenteil, er wurde von Unternehmern getragen, die ein populäres Gebrauchswertprogramm zu realisieren versuchten. Hätten damals allgemeine, freie und gleiche Wahlen über den einzuschlagenden Produktionsweg stattgefunden, es ist gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass gerade dieses Programm gewählt worden wäre. Mit andern Worten, nicht freie Konsumwahlen waren es, an denen es damals vor allem anderen mangelte. Marx kritisiert denn auch nirgends das Gebrauchswertprogramm. Warum sollte er? Er glaubt ja ebenso wie Fichte, dass es darin besteht, eine Eroberung "einmal" zu machen. Auch ihm geht es darum, die Bildung der Erde zu "vollenden". Und nicht darum, die Erde unendlich umzubilden. Da er aber sieht, dass das Gebrauchswertprogramm unter der Leitung von Kapitalisten realisiert wird, die zwanghaft ins Unendliche streben, weiß er, es kann mit einer "Vollendung" nicht aufhören, sondern verhält sich wie der Besen des Zauberlehrlings bei Goethe.
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Die kapitalistische Leitung, zunächst segensreich für die Produkte, wenn auch nicht für die ausgebeuteten Produzenten, wird spätestens nach jener "Vollendung" zur Last. Dann muss man sie abschütteln. Denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt. Das heißt nicht, dass sich danach gar nichts mehr weiterentwickeln soll. Aber die Weiterentwicklung wird nicht den "Flug ins Unendliche" fortsetzen, sondern wenn das saint-simonistische Programm seine guten Gründe hatte, wird man auch nur aus guten Gründen über es hinausgehen - nicht ins Unendliche, sondern fallweise.
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Kommentare 38
Sehr schöne Überlegungen! Sie schreiben:
"Im Gegenteil kann der Bewegung des Kapitals vorausgesagt werden, dass sie selbst ein Ende haben wird, eben weil sich zwar eine Enge öffnen, aber kein Tor zur "Unendlichkeit" aufstoßen lässt. Ganz sicher stellt sich das irgendwann heraus, und mehr noch, schon vor dem Ende wird die Bewegung irgendwann aufhören, 'weiterführend' zu sein."
Worauf gründet sich diese Voraussage? Zum Ende des Zitats hin scheint mir die Überzeugung des Anfangs zu einer Vermutung zu schwinden.
Die wissenschaftlich-technischen Utopien z.B. eines Leonardo da Vinci sind ein Aspekt der aufkommenden Moderne. Dieserart Utopien entstehen auch heute noch (Weltraum-, Genforschung etc.). Möglich geworden wohl auch z. B. durch die Gedanken eines Giordano Bruno (die es ohne Aristoteles so kaum gegeben hätte, usw.).
Dass nun der gegen jeden konkreten Inhalt (Gebrauchswert) völlig gleichgültige Prozess der Kapitalakkumulation ab einem gewissen Zeitpunkt parallel dazu verläuft, scheint unbestritten. Aber handelt es sich bei diesem blinden, selbstbezüglichen Verwertungsprozess um d i e s e l b e Bewegung?
Natürlich basiert dieser Prozess auf den geografisch jeweils vorherrschen Bedingungen von Natur und Kultur, ohne die er gar nicht möglich wäre. Und er „kolonialisiert“ diese zugrunde liegende Lebenswelt (und den Forschungsprozess) bekanntlich mehr und mehr. Im Text (Ende Pkt. 5) wird der Übergang vom traditionellen Unternehmer zum Kapitalisten thematisiert, in den Medien wird wieder das Leitbild vom „ehrbaren Kaufmann“ beschworen und dem Spekulanten gegenüber gestellt.
Aber diese für den Kapitalismus wesentliche „Bewegung“, so scheint es mir jedenfalls, ist nicht identisch mit der Entwicklung des wissenschaftlich-technischen und gesellschaftlichen Fortschritts überhaupt. Sonst wäre das Prinzip Hoffnung tatsächlich nichts als Illusion und die Gedanken über „Die andere Gesellschaft“ könnten wir uns schenken.
PS: Bloch kritisiert Brunos Unendlichkeitsbegriff übrigens im Prinzip Hoffnung auf den Seiten 994f.: nämlich seine Abgeschlossenheit (!) gegen die Zukunft hin.
Lieber Michael Jäger,
du schreibst hier ja einen alten Thriller verdichtet in neuem Gewande, dass mir ganz schwindelig wird.
Potzblitz und dreimal schwarzer Kater!
Alle Achtung! Danke!
Ich kann mich an Bären während meiner langen Studentenzeit „Studio Generale“ erinnern, da haben sich manche rackernd studierende Bären beim Lesen solcher Thriller Texte nahe den Blochschen Marx- und Engelszungen, munter, arbeitsgestört, einen nach dem anderen herunter geholt.
Heute frage ich mich, im Abstand der Jahre, den Kopf hoch, was war, was ist mit uns Bären los?
Wie ergeht es den Bärinnen beim Lesen solcher Geistes Thriller?.
Oder raunen die unverblümt untereinander gelangweit:
“ gehe mir ab mit Trapp von diesen Kamellen unter dem Triller alter Geistesgesellen?“
Vorab:
Hat es den Kapitalismus „sui generis“ jemals gegeben, war dieser nicht immer die Bad Church aller Good Churches unserer Welt?
Sind es nicht die angeblichen Good Churches, die der Bad Church, den Kapitalismus, angewiesen auf sichtbar wie unsichtbar nehmende Hände, Krisen inszenieren, um die Zahl der nehmenden Hände Wachstums hemmend abhackend zu dezimieren?
Hat nicht Marx Engels hoffnungsvoll „Zunge zeigend“ das Wesen des modernen Berater Think Tank begründet, der längst von angemaßten Berater/innen Trusts der Gegenwart, gleich welcher politischen Farbe, ins Unwesen verkehrt?, die Zeit des Ratschlages, des Diskurses, nicht für Rat suchen, sondern , um den Rest der Welt mit überdimensionierten wie unterlassenen Projekten die da u. a. sind Welt- Ernährung, - Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung, Bildung, Ausbildung, Kommunikation, Partizipation, Emanzipation da, die Kernenergie, Sicherheitswahn, samt militärisch zivil administrativer Hochrüstung da mit Unrat zu „beraten“, ratlos zwischengelagert, zu verladen?
Nachdem Marx und Engels mit ungeheurem Aufwand die Produktionsverhältnisse analysiert, als „unendlichen“ Klassenkampf propagiert, Produktionsmaschinen in den Himmel oder die Hölle gehoben bzw. versenkt, gilt es da nicht heute, Subjekte der Geschichte, lokal global, kommunizierend, demokratisch legitimiert, zu identifizieren, die in der Lage sind, Verteilungsmaschinen zu entwerfen, die dem Kapitalismus, global und lokal, eine wachsende Zahl von nehmenden Händen sichern?
Mensch Michael Jäger!, ist das ein Geistes Thriller!, oder etwa nicht?
tschüss
JP
Zur Frage
"was das geschichtlich Voranbringende am Kapital gewesen ist und von wann es eine Last wurde"
Über "das" geschichtliche Voranbringende zu diskutieren führt zu nichts. Lieber zusammen tragen, was bisher alles geschichtlich vorangebracht wurde und wird, wem es jeweils welchen Nutzen brachte und bringt oder wem welche Fähigkeiten, welche Schäden oder welche Unfähigkeit. Wer hatte und hat dabei welche Risiken zu tragen, und wer hat in Zukunft welche Risiken Schäden oder Gewinne zu erwarten? Dann, wer warum zu erwartende Schäden und Unfähigkeiten (und die darauf basierenden privaten Vorteile) in naher Zukunft nicht mehr zu ertragen gewillt sein und sich in die Lage versetzen könnte, mitmenschlichere Formen der Arbeitsteilung durchzusetzen.
Kapitalistischen Formen der Arbeitsteilung sind bei aller Fortschrittslust immer auch eine Fortschrittslast gewesen. Reden wir also über die gegenwärtig dringenden Notwendigkeiten und Möglichkeiten. Allein die Erderwärmung zeigt doch, dass die Frage nach einer anderen, mitmenschlicheren Etwicklungsstruktur eine ganz akute ist.
Gruß hh
Völlig richtig.
Der Nexus zwischen "Erderwärmung" und einer "anderen, mitmenschlichen Entwicklungsstruktur" stellt sich aber nicht für jeden ohne weiteres her, vor allem dann nicht, wenn man, wie es in der Tat notwendig ist, zu differenzieren und insbesondere "Fortschrittslust" und "Fortschrittslast" genau zu berücksichtigen versucht. Das ist schon auf der Ebene des Einzelnen schwierig (für nicht wenige Zeitgenossen sogar das Allerschwerste), bei ganzen Gesellschaften wird es eine Sisyphosaufgabe, bezogen auf den Planeten ...
Sie werfen sehr wichtige Fragen auf, die ich mir ebenfalls stelle und auf die ich im Blog noch zu sprechen komme. Nur so viel: Die Kapital-Bewegung ist nach meiner Auffassung nicht identisch mit der Entwicklung des ... Fortschritts überhaupt. Ich werde argumentieren, daß es in diesem Fortschritt gewisse Konfusionen gibt und das durchaus "uranfänglich", die aber aufgelöst werden können. - Eine Rückfrage: Warum betonen Sie Aristoteles bei Bruno? - Die Stelle bei Bloch, die Sie zitieren, ist zentral wichtig und wäre von mir ohnehin behandelt worden. Bloch stellt gegenüber: die "offenen Unverwirklichtheiten der Welt" und ein "Abgeschlossensein gegen die Zukunft hin", das dadurch zustandekommt, daß "im Ganzen des Universums Mögliches und Wirkliches vollkommen zusammenfallen sollen", so daß es bereits "vollkommen" wäre. Ich denke, man muß hier unterscheiden: 1. Diese Vollkommenheit ist laut Bloch in jedem Wortsinn nicht vorhanden, auch noch nicht als Möglichkeit entdeckt, auch nicht in einem "Gott", auch dieser "Gott" wäre vorerst noch unvollkommen, insofern ist der Prozeß der Welt im radikalsten Sinn "offen"; 2. Bloch stellt sich im Unterschied zu Bruno und vielen anderen nicht vor, daß "das Unendliche" selber als das Vollkommene gedacht werden kann, d.h. er freundet sich nicht mit der paradoxen Figur der aktualen Unendlichkeit an, deren Geltung strikt auf die Mathematik beschränkt sein sollte; sein Gedanke ist, daß die Behauptung einer dialektischen Identität des Unendlichen (Möglichen) und Endlichen (Wirklichen) die andere Behauptung impliziert, daß die Vollkommenheit "an sich" schon existiert, mindestens "in den Gedanken Gottes", was er aber eben bestreitet; 3. er wendet sich aber in anderen Passagen mit ebensolcher Vehemenz gegen die Figur der potentiellen Unendlichkeit, d.h. gegen das unendliche Streben um seiner selbst willen, dem auch noch der Fluchtpunkt abhanden gekommen ist. Schlußfolgerung: Bei all denen, die im Diskurs der aktualen oder auch potentiellen Unendlichkeit gedacht haben, ist ein "rationeller Kern" zu würdigen, um den aber artikulieren zu können, muß man zu einer anderen Sprache als der des Unendlichen übergehen, mit anderen Regeln, anderen Entgegensetzungen.
Ich nehme an, der Eindruck entsteht, weil ich hier nur über die "Öffnung der Enge" geschrieben habe und noch nicht darüber, wie es mit der Bewegung zum Ende hin weitergeht, das kommt noch.
Wenn spezifische allgemeine Aussagen möglich sind, sollte man sie nicht so herunterreden, finde ich. "Das" geschichtlich Voranbringende am Kapital ist, daß es "eine Enge geöffnet hat". Diese Behauptung von Marx und Bloch versteht sich nicht von selbst, gerade heute nicht mehr, wo wir am anderen Ende stehen und sehen, wie es wieder enger wird, immer enger. Und was Fortschrittslust und -last angeht, so kann man doch unterscheiden zwischen Epochen, wo die Lust überwiegt, wo Lust und Last konfundiert sind und wo fast nur noch Last übrigbleibt.
Ich schreibe hier offenbar aus der ganz weiten Bildungsferne. Davon, dass das Kapital "eine Enge geöffnet" haben soll, habe ich zumindest bei Marx noch nichts gelesen. Dort ist in Bezug auf "Enge" nur zu erfahren, (bei "Lohn, Preis, Profit"), dass es nicht an der Enge der Schüssel oder der Dürftigkeits ihres Inhalts liegt, dass die Arbeiter nicht genug herausbekommen, sondern einzig und allein an der Kleinheit der Löffel.
Außerdem, dass lohn- und gehaltsabhängiges Auslöffeln je geringere Möglichkeiten zur Mitgestaltung des Speiseplans (und erst recht an der Sorge um deren nachhaltige Erfüllung) lässt, desto größere Schüsseln und desto üppigere Suppen sie erschaffen. Und daran hat sich trotz (und teilweise auch wegen) inzwischen - teilweise - durchaus beachtlicher Löffelgrößen nichts geändert.
Dass heute im Gegensatz etwa zur Zeit des 2. Weltkriegs oder des interkontinentalen Dreieckshandels "die" Fortschrittslast gegenüber "der" Fortschittslust überwiegt, lässt sich kaum begründen. Nicht zuletzt, weil Fortschrittslust immer ein Teil des Lastproblems war, ist und sein wird.
Dennoch: Sozialsmus war immer schon notwendig, aber nicht zu jeder Zeit möglich. Und ich behaupte, dass sich das grad ändert.
"Die erwachende Einsicht, daß die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, daß Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, daß in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt."
Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Bd. 19, S. 210
Gruß hh
@ Zhou er ge vom 26.07.2009 um 08:46
Sagen wir es klassisch:
"In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie, Geld)…"
Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, S. 69
Ist so, nur dass diese "Stufe" eben nicht zeit-räumlich genau verortet werden kann, weil es dabei nicht um naturwissenschaftlichen sondern um sehr vielschichtige soziologische Tatsachen geht. Jedenfalls schafft Produktivkraftentwicklung zugleich Notwendigkeiten als auch Möglichkeiten zur Umwälzung der (globalen) Produktionsbeziehungen. Und das heißt zugleich Herstellung einer als solche handlungsfähigen Weltgemeinschaft.
Und das muss halt zielgerichtet angegangen werden und bei aller Schwierigkeit eben nicht als Sisyphosaufgabe. Die bräuchten wir erst gar nicht beginnen.
Gruß hh
@ Michael Jäger, 26.7., 17:54
Ich denke, Aristoteles war der erste, der die Antinomie Endlichkeit-Unendlichkeit ganz „pragmatisch“ aufgelöst hat, indem er der Wirklichkeit des Seienden ein nur potentiell Unendliches gegenüber stellte, das in den Verfahren der Additivität und Teilbarkeit ihren Platz hat. Erst in der Spätantike folgte einer Verbindung des Unendlichkeitsbegriffs mit dem Gottesbegriff.
Der von Bloch geschätzte und Bruno vorhergehende Nikolaus von Kues fragt in diesem Kontext, ob Gott überhaupt d en k b a r sei? In einem schönen Beitrag des Theologen Gerhard Staguhn heisst es dazu: „Wenn es also um Gott und nicht um einen Götzen geht, steht man vor dem unlösbaren Problem, mit dem Verstand etwas erfassen zu wollen, das jenseits des menschlichen Verstands liegen muss.“ Aber er findet einen Fingerzeig auf Gott in der Mathematik: „Der ‚unendliche’ Kreis würde mit der Geraden zusammenfallen. Diese unendliche ‚Figur’, in welcher der Gegensatz von Kreis und Linie aufgehoben wäre, wird für Cusanus zum Symbol für die Unendlichkeit Gottes.“ Nikolaus von Kues, der zuerst antike Philosophie, Mathematik und Astronomie, danach (!) Theologie studierte, definiert Gott als das aktual Unendliche. So wird die Antinomie mit Hilfe der Mathematik letztlich theologisch aufgelöst.
Mein Hinweis auf Aristoteles bedeutete in erster Linie, dass auch bei Bruno letztlich die antike Philosophe die Voraussetzungen seines Denkens ermöglichte (er nimmt zu Beginn der von Ihnen ausschnittweise zitierten Stelle direkt Bezug auf Aristoteles, wenn auch in einem anderen Zusammenhang).
Was sich für mich aus dieser noch recht offenen Diskussion (auch und gerade im Zusammenhang mit Marx) im Augenblick ergibt, ist eine erneute Lektüre von Sohn-Rethel und R.W. Müller. Soweit die Zeit und abendliche Kondition dazu noch ausreichen.
Okay. Sie betonen Aristoteles als Voraussetzung von Cusanus und Bruno, ich betone meistens, daß sie den Schritt zum "Gegenteil" getan haben: aristotelische Wertschätzung der Voll-Endung (der wirklichen Voll-Endung auf Basis einer davon verschiedenen unendlichen Potentialität), konträr cusanische Wertschätzung des Unendlichen (in dem Potentialität und wirkliche Voll-Endung in Eins zusammenfallen sollen). Es stimmt ja beides.
Ein Geistes Thriller, auf jeden Fall - nichts ist spannender als diese Verwicklungen...
Zhou er ge schrieb am 26.07.2009 um 08:46
Der Nexus zwischen "Erderwärmung" und einer "anderen, mitmenschlichen Entwicklungsstruktur" stellt sich aber nicht für jeden ohne weiteres her, vor allem dann nicht, wenn man, wie es in der Tat notwendig ist, zu differenzieren und insbesondere "Fortschrittslust" und "Fortschrittslast" genau zu berücksichtigen versucht.
Hierzu die Sonntaz vom 25./26.07.09
Nach Ansicht des Forschers Ernst Ulrich von Weizsäcker scheitert mehr Klimaschutz in Deutschland an den Prioritäten der Bürger. "Das Volk will Arbeitsplätze. Und diejenigen, die Arbeitsplätze bieten, drohen ja ganz offen: Wenn ihr hier eine stramme Klimapolitik macht, verlagern wir die Arbeitsplätze in andere Länder, die weniger streng sind", sagt Weizsäcker im sonntaz-Gespräch. "In der Bevölkerung sind die Prioritäten klar: lieber Arbeitsplätze und etwas mehr globale Erwärmung als keine Arbeitsplätze und ein ungewisses Zückerchen fürs Klima."
Also Weltgemeinschaft schaffen! Prozesse der Weltvergemeinschaftung voran bringen, die die oben genannten fatalen Abhängigkeiten aufheben. Das Problem ist in der Tat, dass wir dazu nicht unendlich viel Zeit haben.
Gruß hh
Vergaß die Quelle
www.taz.de/1/zukunft/umwelt/artikel/1/das-volk-will-arbeitsplaetze/
Gruß hh
Nebenbei bemerkt: Nachhaltige Entwicklung vereinigt das Bedürfnis nach unendlicher Verbesserung und Begrenztheit der Möglichkeiten.
Gruß hh
Danke, bin schon gespannt darauf!
@ Hans Hirschel. Vielen Dank für die Erläuterungen und den Link. Allerdings hätte ich dazu, in aller Bescheidenheit, ein paar Anmerkungen:
Diese "Möglichkeiten der Umwälzung der globalen Produktionsbeziehugen", die im Ergebnis zu einer Weltgemeinschaft führen sollen, sehe ich noch nicht, gerade mit Blick auf die soziologische Tatsachen (ich würde es lieber "soziale Realitäten" nennen) sieht:
Was hierzulande im Eifer der "Heuschreckenjagd" nur allzuleicht vergessen wird, ist, dass der seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems freigesetzte Finanzsektor sich einen globalen Markt geschaffen und dabei gigantische Produktivkräfte freigesetzt hat, die bis dato dem System vorenthalten waren. Was "gigantisch" heißt, kann man sich in China ansehen, das m.E. von den meisten Europäern und einer nicht unbeträchtlichen Zahl Amerikaner immer noch unterschätzt wird. Ich hatte das Privileg, 1990 an der Universität einen jungen Chemiker aus Tianjin kennenzulernen, der nach seinem Studium in China völlig ohne Deutschkenntnisse zu uns kam, um ein Aufbaustudium zu absolvieren, das ihm die Promotion und somit Teilhabe an einem Forschungsprojekt ermöglichen würde. Innerhalb weniger Monate hatte er in einem Vorbereitungskurs so gut Deutsch gelernt, dass er den Vorlesungen folgen konnte. Im Physikochemie-Seminar des Hauptstudiums präsentierte er mathematische Lösungswege, bei denen selbst der Professor zweimal hinsehen musste, um zu erkennen, wie gut sie waren. Und bei all diesem Talent war der junge Mann so bescheiden, sympathisch und ohne Allüren, dass man als Europäer vor Scham hätte im Boden versinken mögen - wenn man denn solcher Gefühle überhaupt noch fähig gewesen wäre. (Was "wir" ungefähr zur selben Zeit hervorgebracht haben, beschreibe ich in meinem Blog-Beitrag "Jugendfreunde".)
Damals begann ich zu ahnen, was passieren würde, wenn diese Leute einmal so könnten, wie sie wollen. - Nun, heute ist es so weit.
In China ist das Verhältnis von Studienplätzen zu Bewerbern 1:30. Trotzdem gíbt es eine weitaus größere Zahl von Absolventen als bei uns oder sogar in den USA. Ein anschauliches Beispiel (Aus James Kynge, "China. Der Aufstieg einer hungrigen Nation", Hamburg 2006): Intel veranstaltet jährlich eine Messe für Wissenschaft und Technik. In den USA nahmen 2004 laut Kynge "an lokalen Präsentationen, bei denen die Finalisten ausgewählt werden, 65.000 Schüler teil. In China waren es 6 Millionen." (S. 199) Wenn die nur halb so gut sind, wie mein Studienfreund, der damals, kurz nach der Öffnung, sicher noch viel schwerere Bedingungen zu meistern hatte, dann wird es zweifellos eine "Umwälzung der globalen Produktionsbeziehungen" geben, aber sie wird, fürchte ich, völlig anders aussehen, als wir uns das in unseren wildesten Träumen vorstellen können.
Sehen Sie: Vom Bedürfnis nach Unendlichkeit wollen auch Sie nicht lassen. Obwohl Sie Ökologie sind und von Marx alles schon wissen. Wenn dieses Bedürfnis ökonomisch institutionalisiert ist, oder wenn der Zwang, es sich einzureden, ökonomisch institutionalisiert ist, dann wird auch die Begrenztheit der Möglichkeiten nichts nützen. Dann wird diese Begrenztheit einfach überschritten. Das Bdürfnis nach Unendlichkeit ist ja gerade das Bedürfnis, Begrenztheiten zu überschreiten. Das ist genau die Situation, in der wir heute sind und in der uns alle möglichen Leute erzählen, wir seien gerade dabei, einen Mechanismus "nachhaltiger Entwicklung" einzuleiten, durch Mülltrennung, Windmühlen, CO2-Zertifikate, -Abscheidung und so weiter und so weiter.
@ Zhou er ge
Man darf aber nicht vergessen, daß in China einfach viel mehr Menschen leben als in den USA. Es leben da sogar mehr Menschen als in ganz Europa. China ist nicht ein Staat neben anderen Staaten, sondern eher so etwas wie ein ganzer Kontinent. Das ist bei Zahlenvergleichen immer zu bedenken. Ich denke, China hat dasselbe Recht wie Europa und die USA, sich zu industrialisieren. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit: Man kann ausrechnen, wieviel CO2-Ausstoß usw. die Erde verkraftet, danach hat jede Region je nach Einwohnerzahl einen Anteil an der gerechtfertigten Ausstoßmenge, China nicht weniger als Europa, Europa nicht mehr als China.
@ Michael Jäger: Ja, natürlich. Das ist ja genau das, was ich zum Ausdruck bringen wollte. Ich bitte, mich in dieser Hinsicht nicht falsch zu verstehen. Anders als viele unserer Landsleute (vor allem ein großer Teil derjenigen, die in Foren wie dem von ZEIT online zum Thema China schreiben) hege ich durchaus Sympathie für das Land, seine Kultur und seine Menschen, die in meinen Augen wahre Lebenskünstler sind.
An China kann man studieren, was es heißt, wenn "eine Enge" sich öffnet. Man kann aber auch studieren, wie schwer, ja nachgerade unmöglich es ist, eine solche Dynamik zu steuern. Oder glauben sie, dass einer der hochqualifizierten Absolventen dort sich wird bremsen lassen, bloß weil das Land als Ganzes seine ihm zugestandene Quote (für was auch immer) erfüllt hat?
@Michael Jäger: Oh, bitte um Verzeihung! Sie haben die Antwort auf meine im obigen Kommentar gestellte Frage ja bereits gegeben. Es ist völlig richtig, was Sie schreiben. Und genau hier kommt man m. E. mit den klassischen Theorien nicht mehr weiter. Um es mit Kierkegaard zu sagen: "In der Dialektik hebt sich der Widerspruch auf, in der Freiheit besteht er fort." (Frei aus dem Gedächtnis zitiert.)
Hoffentlich wird es hier bald möglich sein, das Geschriebene - zumindest in den ersten Tagen - zu korrigieren oder zu ergänzen.
Es fehlte Wort (Erkenntnis). Es muss heißen:
Nebenbei bemerkt: Nachhaltige Entwicklung vereinigt das Bedürfnis nach unendlicher Verbesserung der Lebensbedingungen und die Erkenntnis, dass die Möglichkeiten dafür begrenzt sind. (Die Reife philosophischer Suchbewegungen kann m.E. ziemlich exakt an der Haltung zur nachhaltigen Entwicklung abgelesen werden.)
Ergänzt werden müsste, dass nachhaltige Entwicklung für örtlich begrenzte (Re-)Produktionsverhältnisse (zum Teil etwa bei Waldgartenkulturvölker im Amazonasgebiet) ein alter Hut ist. Neu hingegen ist durch soziale Bewegung vermitteltes Erkennen der Notwendigkeit einer bewussten Rückbindung globaler Verbesserungsziele (und entsprechend bestimmte Produktionszwecke) mit den sozialen bzw. ökologischen Voraussetzungen und Wirkungen (genauer: mit den davon betroffenen bzw. berührten Menschen).
Warum das Bedürfnis nach unendlicher Verbesserung der Lebensbedingungen "unökologisch" sein soll, erschließt sich mir nicht. Ständige Verbesserungen geschehen im Übrigen auch in der außermenschlichen Natur)
Die Warnungen vor einer "ökonomischen Institutionalisierung" der Bedürfnisse nach einem besseren Leben muten mir auch recht seltsam an. Als ginge falsches Bewusstsein (die Vorstellung von der Unendlichkeit der Ressourcen und der Unbegrenztheit ihrer unbedenklichen Anwendung) nicht aus den falschen Behauptungsbedigungen (der sozial und ökologisch weitgehend blinden, - und durch Auflagen, Steuern, Zöllen oder halt Verschmutzungsrechten nicht adäquat modifizierten - kapitalistischen Konkurrenz, und der durch Geld vermittelten Vergesellschaftung) hervor sondern umgekehrt der Kapitalismus aus falschen Gedanken irgendwelcher falsch denkender Personen.
Begriffe ohne bestimmten Kontext zu benutzen fetischisiert ihren Gebrauch. Der Wunsch nach beständig besseren Lebensbedingungen muss keineswegs den Willen hervorbringen, die Begrenztheit der Ölreserven oder deren unbedenkliche Nutzung zu überschreiten.
Dass "uns" (?) angeblich irgendwelche Leute (die da oben? "die Politiker"? "die Medien"?) einreden, dass wir grade dabei sind, einen Mechanismus nachhaltiger Entwicklung einzuleiten, was aber Quatsch sei und möglichst lächerlich gemacht gehört, ist unendlich weit von gut und böse entfernt. Freiheit statt Dialektik! Die Parole kommt mir bekannt vor. Die kritische Kritik des Jahres 2009 möchte den Zustand paradiesischer Unschuldigkeit bewahren und möglichst unbefleckt von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen philosophieren. Wo kämen wir hin, wenn wir die eigene Mitverantwortung für diesen Prozess und dessen Bedeutung für die Herausbildung einer als solche handlungsfähigen menschlichen Weltgemeinschaft gewahr würden?
@Hans Hirschel: Im Grundsätzlichen stimme ich völlig mit Ihnen überein. Dennoch erlauben Sie mir zwei Bemerkungen:
1. Mein, zugegebenermaßen nicht hundert Prozent korrektes, Zitat (Richtig heißt es, glaube ich, "Denken" statt "Dialektik", wobei Kierkegaard sich aber auf Hegels System bezog) ist zwar pointiert, aber trotzdem keine Parole. Erst in Ihrer Verkürzung wird eine daraus. Kierkegaard hat sie so niemals gemeint.
2. Worum es mir geht, ist, die praktischen Chancen der, nennen wir es mal, ökologischen Einsicht, auszuloten. Der Mehrheit der Menschen einfach nur "falsches Bewusstsein" zu diagnostizieren, hat schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nichts gefruchtet. Sie kritisieren ja selbst die fruchtlose Kritik unserer Tage. Allerdings kann man den Leuten schlechterdings kein neues Bewusstsein "einimpfen".
Ein gangbarer Weg scheint sich mir zu eröffnen, wenn man den Gedanken, dass Nachhaltigkeit und prinzipielle Unendlichkeit der Bedürfnisse (nicht: "Verbesserung der Lebensverhältnisse"; das ist etwas anderes) nur dann in Widerspruch geraten, wenn man letztere rein quantitativ zufriedenzustellen sucht, wie das in der modernen Massengesellschaft seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gang und gäbe ist.
Doch machen wir uns nichts vor: Der Weg ist steinig. Schon als Teenager in den siebziger Jahren wurden uns in der Schule ökologische Gedanken nahezubringen versucht, und gegen den damals geläufigen Begriff des "Lebensstandards" wurde jener der "Lebensqualität" ins Feld geführt. - Gefruchtet hat es, wie jetzt zu sehen, ehr wenig.
Hallo Zhou er ge,
zu Ihrem Kommentar vom 28.07.2009 um 09:40
Einig sind wir uns vielleicht darin, dass sich (in verschiedenen Ländern mehr oder weniger) Produktivkräfte entwickelt haben und noch entwickeln, die in vielfacher Hinsicht im Widerspruch zur gegenwärtigen Art der Produktion und Aneignung menschlicher Reichtümer geraten und das gar nicht so dumme Gefühl hinterlassen, dass es damit nicht ewig so weitergehen kann.
Vielleicht stimmen wir auch darin überein, dass diese ungeheure Produktivkraftentwicklung sowohl technischer als auch geistiger Natur ist. (Technische Entwicklungen werden zur Basis geistiger Entwicklungen, die wiederum auf die technischen Entwicklungen zurückwirken).
Außerdem, dass Produktivkräfte immer zugleich auch Zerstörungspotenzial sind, Risiken in sich bergen usw. also immer auch (in vielerlei Hinsicht) Destruktivkräfte sind.
Wir sehen, wie die privateigentümlich bornierte Betrachtung der die menschliche Bereicherung und deren Entwicklung maßgeblich steuernde (sowie menschliches Gestaltungsvermögen akkumulierende) Instanz (nämlich Tauschwerte in Gestalt von Zugriffsrechten auf Gebrauchswerte oder von Zugriffsrechten auf Zugriffsrechte auf Gebrauchswerte usw.) den falschen Eindruck vermittelt, dass das menschliche Bereicherungsvermögen unendlich Reichtum schaffen, vermehren und verallgemeinern kann.
Das durch Geld vermittelte (Welt-) Marktgeschehen lässt gemeinsame Verantwortung für nachhaltige Produktionsbedingungen und Konsumeffekte ohne weiteres nicht aufkommen. Die jeweiligen Behauptungsbedingungen liegen meist weit auseinander, sind nicht selten auch durch Staatsgrenzen voneinander getrennt. Konsument(inn)en profitieren vom Raubbau, durch Raubbau erzeugte Entwertung einer Ware erscheint den Konsument(inn)en als Vergrößerung des Entgelts für die eigenen (sozialen) Leistungen - also als ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit.
Diese "Entfremdung" von den Voraussetzungen und Folgen der Produktion in einem Prozess der Mensch(heits)werdung aufzuheben, wird - so meine Behauptung - nicht nur von Tag zu Tag dringlicher, sondern prinzipiell auch möglicher.
Das heißt nicht, dass die strukturellen, mentalen und geistigen Fähigkeiten weltweit akut so weit sind, die notwendige Strukturveränderung sogleich zu bewerkstelligen (Man brauch sich ja nur Steinmeyers Schattenkabinett anzuschauen, um vor übertriebenem Optimismus gewarnt zu sein)
Aber man sollte vielleicht damit beginnen, die eigenen geistigen Produktivkräfte darauf hin auszurichten, wenigstens ein Stück weit mehr (Öko-)Sozialismus zu wagen ;-) (hhirschel.wordpress.com)
Gruß hh
Zhou er ge schrieb am 29.07.2009 um 09:00
"Mein, zugegebenermaßen nicht hundert Prozent korrektes, Zitat (Richtig heißt es, glaube ich, "Denken" statt "Dialektik", wobei Kierkegaard sich aber auf Hegels System bezog) ist zwar pointiert, aber trotzdem keine Parole. Erst in Ihrer Verkürzung wird eine daraus. Kierkegaard hat sie so niemals gemeint."
Aber wie hat er denn "Denken statt Dialektik" gemeint? Ich gehe von der Marxschen Sicht aus, also dass sich soziale Widersprüche (hier zwischen Unendlichkeit des Bedürfnisses zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der Erkenntnis, dass die gegenwärtige Art der Verbesserung von Lebensbedingungen an seine Grenzen stößt bzw. unerträglich ist) nicht dadurch erledigen, dass man sie sich aus dem Kopf schlägt oder sich einfach die Freiheit nimmt, umzudenken, sondern dass sie nur in einer sozialen Bewegung aufgehoben werden können.
Und was also meint nur Kierkegaard?
Gruß hh
@Hans Hirschel: Also das Zitat stammt aus "Entweder-Oder". Es handelt sich also um eine mehrfach ironisch gebrochene Aussage, die von dem Ästhetiker A in einem seiner Traktate gemacht wird. (Ich finde so schnell die Stelle jetzt nicht wieder). Mit Marx wird man Kierkegaard wahrscheinlich nicht beikommen können, es sei denn man urteilt dogmatisch.
Für mich persönlich hat das, was K. mit der Aussage wahrscheinlich gemeint hat, am besten Hans Blumenberg auf den Punkt gebracht: "Was mit der Freiheit entdeckt wird, das ist der in der Unmittelbarkeit versteckte Wahn, es mit der Unendlichkeit des Möglichen aufnehmen zu können." ("Höhlenausgänge", Frankfurt/M. 1996, S 593 f.)
K.'s Denken ist vor allem in seinem radikalen Individualismus modern. Der für mich wesentliche Begriff ist "Unmittelbarkeit". Er hängt zusammen mit dem anderen Begriff, der ebenfalls erst in unserer modernen Welt Karriere gemacht hat: "Authentizität". Die ästhetische Existenz, die K. im ersten Teil von "Entweder-Oder" in ihren (fingierten) Äußerungen beschreibt, ist eine starke Analyse des heutigen Typus der in den Aporien der "vermittelten Unmittelbarkeit" befangenen Menschen. Aus diesen Aporien herauszutreten ist nicht einfach eine Sache des "richtigen" Denkens.
Mit dem,was Sie oben zu meinem Kommentar vom 28.07. geschrieben haben, stimme ich prinzipiell natürlich überein. Vielleicht bin ich nur nicht ganz so optimistisch, was die Möglichkeiten des Umsteuerns angeht. In vielerlei Hinsicht ist mir die materialistische Denkweise zu dürr. Das Ästhetische ist ein wesentlicher Teil des Menschen, insofern es Antriebe liefert, die rationales Abschätzen von Folgen nicht liefern kann.
Neulich sah ich auf Arte eine Sendung über die Entstehung unseres heutigen Weltbildes. Darin bracht der Sprecher die Verwunderung darüber zum Ausdruck, wieso die Menschheit nicht in Jubel ausbrach, als Foucault mit seinem Pendelversuch endlich den empirischen Beweis für die Theorie von Newton erbracht hatte. Die - für mich schlüssige - Antwort lieferte ein englischer Gelehrter (Namen habe ich vergessen). Die Wissenschaft, sagte er sinngemäß, enthält ein ästhetische Element. Die Schönheit eines Gedankengebäudes ist wichtiger als der Beweis der Wahrheit durch das Experiment.
In Abwandlung eines anderen Blumenberg-Ausspruches, würde ich es so sagen: Wir wissen, dass die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen endlich sind - aber wir glauben es nicht.
Zhou er ge schrieb am 02.08.2009 um 17:05
@Hans Hirschel: Mit Marx wird man Kierkegaard wahrscheinlich nicht beikommen können, es sei denn man urteilt dogmatisch.
Hmmm ... ? So ganz ohne Beleg klingt das doch sehr nach einem Dogma, oder?
:-) Gruß hh
Zhou er ge schrieb am 02.08.2009 um 17:05
@Hans Hirschel: Für mich persönlich hat das, was K. mit der Aussage wahrscheinlich gemeint hat, am besten Hans Blumenberg auf den Punkt gebracht: "Was mit der Freiheit entdeckt wird, das ist der in der Unmittelbarkeit versteckte Wahn, es mit der Unendlichkeit des Möglichen aufnehmen zu können." ("Höhlenausgänge", Frankfurt/M. 1996, S 593 f.)
Ehrlich gesagt: Ich kann ich in diesem Satz keinen Sinn entdecken. Bitte um eine Interpretationshilfe.
Gruß hh
Zhou er ge schrieb am 02.08.2009 um 17:05
@Hans Hirschel:
"K.'s Denken ist vor allem in seinem radikalen Individualismus modern."
Was bedeudetet hier "radikal"?
In der marxschen Befreiungsperspektive geht es um die Entwicklung einer Individualität, die in (mit-) bestimmte soziale Prozessen wurzelt, nämlich einer Verallgmeinerung der Befähigung zur (welt-)gemeinschaftlichen Zweckbestimmung der Produktion. Und umgekehrt!
"Der für mich wesentliche Begriff ist "Unmittelbarkeit". Er hängt zusammen mit dem anderen Begriff, der ebenfalls erst in unserer modernen Welt Karriere gemacht hat: "Authentizität". Die ästhetische Existenz, die K. im ersten Teil von "Entweder-Oder" in ihren (fingierten) Äußerungen beschreibt, ist eine starke Analyse des heutigen Typus der in den Aporien der "vermittelten Unmittelbarkeit" befangenen Menschen. Aus diesen Aporien herauszutreten ist nicht einfach eine Sache des "richtigen" Denkens.
Wo ist der Unterschied zu Marx? Marx enthüllt den ideologischen Charakter von Authentizität, wie sie unmittelbar aus der Warenproduktion hervorgeht. Sozial bzw. ökologisch reflektierte Authenzität wäre: Die entfremdende Vermittlung der Gesellschaftlichkeit (mittels Zahlungsmittel, die als Ausdruck des warengesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwands anerkennt sind) durch soziale Übereinkommen zu ersetzen, die z.B. die Frage des Nutzens von Arbeitsersparnis weniger eng beantworten als privateigentümliche Perspektiven es zulassen.
Gruß hh
Kant definierte die Freiheit als "regulative Idee" von der wir keine unmittelbare Gewissheit haben, sondern die uns nur aufgrund der in ihr gründenden Handlungen zugänglich ist. Dieser (im Grunde genommen aus der Abgrenzung vom damaligen mechanistischen Kausalitätsbegriff gewonnene) abstrakte Freiheitsbegriff ist die Basis seiner praktische Philosophie, die auf vernünftige Einsicht statt auf normative Sätze baut.
Die Generationen nach Kant haben sich an der Abstraktheit und den Aporien dieses dürren Gedankengebäudes abgearbeitet. Insbesondere galt ihnen das Vertrauen in die Vernunft als nicht mehr gerechtfertigt. Die Romantiker nahmen sich vor, durch ihr Programm der "Romantisierung der Welt", eine Verschmelzung von Poesie und Philosophie, den durch die Freiheitsphilosophie entstandenen Graben zwischen Ich und Welt zu überbrücken. Andere Philosophen versuchten es auf ihre Weise: Für Schelling ist Freiheit die Fähigkeit zur Wahl zwischen Gut und Böse, Schopenhauer setzt gleich den Willen an die Stelle von Kants "Ding an sich" und sieht in der Kunstmetaphysik die einzige Möglichkeit von diesem blinden, sich selbst wollenden Willen abzusehen. Diesen Rückgriff auf Kants "interesseloses Wohlgefallen" verurteilt Nietzsche dann mit seiner Bejahung des "Willens zur Macht". (Um blöden Einsprüchen von Seiten Dritter an dieser Stelle gleich zuvor zu kommen: gemeint ist natürlich nicht das aus dem Nachlass von seiner Schwester herausgegebene tendenziöse Machwerk, sondern die Grundidee seiner Philosophie. Vgl. Müller-Lauter, Wolfgang: "Nietzsche: seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie Berlin" [u.a.]: de Gruyter, 1971 sowie Gerhardt, Volker: "Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches" Berlin [u.a.]: de Gruyter, 1996. - Und viele andere mehr.)
Kierkegaard steht im Grunde zwischen den Romantikern und Hegel (nicht zeitlich wohlgemerkt, sondern seiner Haltung nach). Aufgrund der Einsicht in die Begrenztheit der menschlichen Existenz ist Hegels System, das er während seines Studiums in Berlin kennengelernt hat, kein gangbarer Weg zur Versöhnung. Andererseits misstraut er auch der romantischen Attitüde, in der er sozusagen ein gewolltes Abbrechen der Reflexion sieht. Kierkegaards Hauptleistung besteht m. E. darin, dass er die Selbstreferenzialität des reflektierten Aesthetikers von innen heraus sichtbar gemacht hat. Es ist ein ständiges Schwanken zwischen der Suche nach dem unmittelbaren Moment des ästhetischen Genusses und der Reflexion darüber, wie er zustande gekommen ist sowie dem gedanklichen Vorwegnehmen seines Endes.
Blumenberg interpretiert Kierkegaard immer mit Rücksicht auf den christlichen Impetus seines Philosophierens. Das ist allerdings m. E. nicht unbedingt nötig. Das Dilemma der Freiheit kann im Grunde jeder leicht nachvollziehen: Die Möglichkeiten des Handelns (d. h. der gedankliche Vorgriff auf die einzelnen Alternativen) erzeugen ein Gefühl von Macht, das verschwindet, sobald wir uns für eine der Alternativen entschieden haben. Die Freiheit besteht also für uns selbst nur so lange, wie wir nicht handeln. Kierkegaards Aesthetiker A aus "Entweder-Oder" zieht daraus den Schluss, eben tatsächlich nicht zu handeln, sondern an die Stelle des Genusses das intellektuelle Spiel mit den Möglichkeiten zu setzen. Damit rettet er aber natürlich nicht seine Freiheit, sondern setzt eine Indolenz gegenüber den Phänomenen an deren Stelle, die ihn genauso unglücklich macht wie der reflexive Vorgriff auf die Endlichkeit des Genusses.
Mir scheint, dass Kierkegaard damit den Typus des modernen Konsummenschen vorweggenommen hat - oder vielleicht andersherum: dass der moderne Konsummensch eine Art Trivialform dieser ästhetischen Existenz ist. Die ewige Jagd nach dem Neuen, die überbordende Eventkultur oder die beinahe schon neurotische Suche nach dem ultimativen "Kick", das alles lässt sich mit Hilfe der seit der Romantik erfolgten inhaltlichen "Aufpolsterung" des abstrakten Freiheitsbegriffs und der daraus erwachsenden Aporien erklären. Die Schlagworte, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen, sind ja bekannt: Erlebnis, Authentizität, Unmittelbarkeit usw. usf. (Wie anders sollte man es auch erklären, dass jemand es als Ausdruck von Freiheit empfindet, seine Füße an einem Gummiband festzubinden und sich kopfüber in einen Abgrund zu stürzen? Anders als Kierkegaard lässt so jemand es natürlich offenkundig an Reflexion fehlen, aber das ist ein anderes Thema.)
Also zusammengefasst: Unmittelbarkeit als das einzige authentische Kriterium für Gewissheit zieht die Schwierigkeit nach sich, dass Freiheit (die wir anstreben) für uns unerkennbar wird. Was also tun? Wir begeben uns auf eine Jagd nach den Möglichkeiten. Je mehr wir davon gedanklich vorwegnehmen, desto aussichtsloser erscheint indessen diese Jagd, weil die Möglichkeiten eben prinzipiell unendlich sind. Es ist vielleicht ein bisschen wie in diesem Traum, wo das Ziel sich umso schneller entfernt, je mehr wir uns anstrengen, es zu erreichen.
(P. S.: Die Schreibweise "Aesthetiker" ist keine Marotte von mir, sondern dem Umstand geschuldet, dass dieses eigenartige System immer die ganze Zeile verschwinden lässt, wenn ein Wort mit großem A Umlaut darin steht.)
@ Zhou Interessante Darstellung. "Die Freiheit besteht für uns nur so lange, wie wir nicht handeln", das ist ja für meine Vision gesellschaftlicher Investitionswahlen wesentlich: An das, was die Konsumenten gewählt haben, müßten sie sich für die Dauer der Wahlperiode dann auch selbst halten, nicht nur die Unternehmer. Ich würde Ihren Überlegungen aber hinzufügen, daß mir das Kierkegaardsche Paradox überzogen erscheint, es kommt m.E. zustande, weil gerade auch er in einem Diskurs des Unendlichen dachte. Nur dort kann man doch übersehen, daß das Erreichen eines gewollten Endes das Weitergehen nicht ausschließt. Es stellt sich so dar, als gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man erreicht ein Ende, dann ist es mit dem Unendlichen und d.h. mit jedem Weitergehen vorbei, oder man verfolgt von vornherein das Ziel, über jedes Ende hinauszugehen, dann gibt es überhaupt keine gewollten Enden. Aber nehmen Sie mal die Logik des Fragens und Antwortens, die immer mein Gegenbezugspunkt ist (werde das hier gelegentlich mal darstellen): Man hat das Ziel, eine Antwort herauszufinden; wenn man sie gefunden hat, bleibt man bei ihr; sie wirft aber eo ipso neue Fragen auf, und so ist die Möglichkeit da, nach einer neuen Antwort zu suchen, die man aber nur "fallweise", wie ich oben in meinem Beitrag geschrieben habe, ergreift. Man ergreift sie, wenn die vorhandene Antwort aus irgendeinem Grund nicht mehr befriedigt, sonst nicht. Dabei kommen auch Antworten vor, die, so sehr sie "Ende" sind, ein Weitergehen geradezu erzwingen (z.B. "Das ist ein toter Briefkasten" als Anwort auf die Frage, wann dieser Briefkasten geleert wird: Ich werde sofort nach dem nächsten nichttoten Briefkasten weiterfragen), aber dann erzwingen sie es und nicht das in mir selbst, was befiehlt "Du willst nirgends haltmachen". Das ist Wahlfreiheit: ohne Paradox, ohne Unendlichkeitszwang.
@Michael Jäger: Sie haben natürlich völlig recht, was die geistesgeschichtliche Stellung Kierkegaards angeht. Blumenberg nennt das "Kierkegaards Fuchsbau der unendlichen Reflexion". Aehnlich urteilt Hinrich Fink-Eitel in seinem bemerkenswerten Buch "Die Philosophie und die Wilden", wenn er von der "geistphilosophischen Lösung" des Dänen spricht, die eben verhindere, dass er die gesellschaftlichen Wurzeln seiner individuellen Krankheit erkenne.
Ich persönlich würde Ihnen auch zustimmen, was die Lösung angeht. Ein prozessuales Denken vermeidet die Aporien, in die sich das idealistische Räsonnement nur zu leicht verstrickt. Diese Lösung setzt aber voraus, dass das rationale Ich wieder allgemein die Oberhand gewinnt. Ob das möglich ist, und wie es gegebenenfalls zu bewerkstelligen wäre, weiß ich nicht.
Was mich an Kierkegaard fasziniert, ist etwas, das über die geistesgeschichtliche Position hinausweist und das er mit Schopenhauer und Nietzsche geteilt hat, nämlich das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Herrschaft der Vernunft. Bei "Entweder-Oder" handelt es sich ja nicht einfach um ein diskursives Werk, sondern Kierkegaard wählte eine ästhetische Form, bei der die Diskursivität mehrfach ironisch gebrochen ist. Diese Form erlaubte ihm, etwas zu sagen, was sich für ihn offenbar anders nicht sagen ließ. Der nihilistische Schwebezustand, den Kierkegaard anhand seiner Figur des Aesthetikers A eher vorführt als erörtert, resultiert nicht aus dessen Reflektiertheit allein, sondern aus dem eigentümlichen Oszillieren zwischen Hingabe an den Moment und einer diesen überschreitenden Reflexion.
Fink-Eitel nennt Kierkegaards Position deshalb eine "vorgreifende Kritik an Nietzsche und Foucault", denn er problematisiert, was ersterer mit seiner Selbstinszenierung schlicht bejaht, und letzterer mit seiner Wende hin zu einer "Aesthetik der Existenz" in seinem Spätwerk als neue Möglichkeit der Selbstermächtigung inmitten einer Welt machtvoller Dispositive beschreibt.
Apropos Grenzüberschreitung: Mein eigentliches Gebiet sind die Literaturwissenschaften und dort ist dieser Topos spätestens seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ja nun allgegenwärtig.
Das rationale Kalkül, das Sie beschreiben, greift nur für den, der seiner selbst gewiss ist, und das kann man eigentlich nur sein, solange es um alltägliche, eher arbiträre Wahlen geht. Und selbst da juckt allzuoft der Stachel der Selbstbeschränkung: "Bin ich jetzt am Ziel? Ist das wirklich der schönste Ort, den ich erreichen kann, oder ist es vielleicht da hinten, hinter der nächsten Düne noch schöner?"
Wenn es bei solchen Fragen aber schon schwer werden kann, wie dann erst, wenn es um die eigene Existenz geht? Das klassische Beispiel hierfür ist Wallenstein. Nur im Schwebezustand zwischen den Schweden und dem Kaiser kann er seine Macht genießen:
"Es macht mir Freude, meine Macht zu kennen;
Ob ich sie wirklich brauchen werde, davon, denk ich,
Weißt du nicht mehr zu sagen als ein anderer."
(Schiller: "Wallensteins" Lager 2. Aufzug 5. Auftritt.)
Die Unentschlossenheit dieses Schillerschen Helden hat viele Interpreten vor Rätsel gestellt, weil immer davon ausgegangen wird, dass der tragische Held ein Handelnder ist, der, gleich wie er sich entscheidet, ins Unglück stürzt. Wallenstein ist dagegen ein Held, der sich gegen eine historische Dynamik zu behaupten sucht, die von allen Seiten auf ihn eindringt. Er weiß, dass jede positive Entscheidung seinen Schwebezustand beendet und versucht diese deshalb so lange wie möglich hinauszuzögern. Gerade das Nicht-Handeln bewahrt ihm seine Macht und damit seine Freiheit - auch wenn dies letztendlich natürlich nur eine Illusion ist.
Also diese ganze Problematik ist derart komplex, dass man sie wahrscheinlich nie ganz erschöpfen kann, und man hat bisweilen tatsächlich den Eindruck, dass das uns Nächste in Wahrheit das Fernste ist. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die ökonomische Betrachtungsweise dieses "Nächste" einfach unter den Tisch fallen lässt bzw. als abgeleitetes Phänomen behandelt.
Lieber Zhou, was Sie über Kierkegaard schreiben, scheint mir sehr plausibel. Über Schillers Wallenstein habe ich mir auch schon mal Gedanken gemacht und in einer essaymäßigen Veröffentlichung vor ein paar Jahren geschrieben, dieses "so überrasdchend aktuell" wirkende Drama zeige "einen Mann, der sich Schritte ins Unendliche eigentlich nur vorbehalten wollte, schon dadurch aber gezwungen war, sie auch tatsächlich zu tun. Mit einem Ausdruck unserer AKW-Manager könnte man sagen, Wallenstein habe den Kaiser zuletzt nur deshalb verraten, weil in der atrologischen Forschung kein 'Fadenriß' eintreten durfte."
Mir kam es bei dieser Arbeit so vor, als sei Schillers gesamte Dramenproduktion ein Ringen mit der Unendlichkeitsfrage gewesen, und mir schienen sich da auch Lösungsansätze abzuzeichnen. Den Wilhelm Tell habe ich so gelesen: Ein Kampfbund wendet sich gegen materialisierte Unendlichkeitsverhältnisse, obwohl er aus Individuen besteht, die als Individuen von diesen Verhältnissen, d.h. auch von ihrer Logik selber bis ins Innerste durchdrungen sind. Ja, das scheint mir ein brauchbarer Weg zu sein: Weil bestimmte in uns eingepflanzte Dinge von außen gestützt werden, kann man erst einmal dieses Äußere bekämpfen, um durch Entfernung des Stützpunkts die Bedingungen dafür zu verbessern, daß man anschließend und schon im Zuge dessen mit sich selbst besser klar kommt.
Sie haben recht, die ökonomische Betrachtungsweise soll "dieses 'Nächste'" (Sie spielen wahrscheinlich auf Bloch an) nicht unter den Tisch fallen lassen. Gleichwohl, ich glaube nicht - und darüber wäre wohl zu debattieren, das ist wichtig -, ich glaube nicht, daß das Problematische an der Sache mit der Unendlichkeit primär auf eine Problematik des Individuums verweist. Das Unendliche sei "nur für die Erkenntnis", schreibt Aristoteles (Met. 1048b). Diese Erkenntnis stößt dann halt an reale Schranken und korrigiert sich. Wie aber, wenn die Realität selber, will sagen die ökonomischen Verhältnisse, als ein unendlicher Sog eingerichtet sind? Das gibt es nur im Kapitalismus.
Lieber Michael Jäger,
was Sie über ihre Beschäftigung mit Schiller schreiben, finde ich faszinierend. Kann man die Essays noch irgendwo nachlesen?
Nachdem ich eine Weile über die verschiedenen Positionen nachgedacht habe, bin ich zwar noch nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen, aber doch schon zu der Einsicht, dass dem Begriff der "Unendlichkeit" eine Schlüsselfunktion zukommt. Ob allerdings Aristoteles heute noch der richtige Gewährsmann ist, wage ich zu bezweifeln. Geht es denn wirklich primär um Erkenntnis? Durch diese Tradition hat doch bereits Nietzsche mit Verweis auf Schopenhauer einen dicken Strich gezogen. Gewiss war dieser Strich für manchen Geschmack zu heftig, die Pose des Durchstreichens im Nachhinein abgeschmackt (doch wohl eher durch die zahlreichen hirnlosen Nachäffer), aber kann man ihn wirklich einfach in den Giftschrank sperren - heute noch?
Übrigens bezog sich auch meine Erwähnung des Nächsten, das uns das Fernste ist, auf ihn (leider habe ich die genaue Stelle nicht mehr im Kopf). Die Problematik, dass wir mit unserer Wissenschaft zwar den Lauf der Sterne berechnen könnnen, aber bezüglich unserer eigenen Antriebe und Leidenschaften nach wie vor im Dunkeln tappen, ist ja trotz Hirnforschung und Genanalyse leider immer noch aktuell.
Was den Sog der kapitalistischen Verhältnisse angeht, will ich Ihnen gar nicht widersprechen. Vielleicht gibt es da weniger einen Dissens, der zu debattieren wäre, als vielmehr eine perspektivische Verschiebung. Meine Frage geht nicht auf Ursache und Wirkung, sondern darauf, wie sich der Mentalitätswechsel, der beispielsweise in meinem Jugendfreund (siehe meinen Blogbeitrag) offensichtlich stattgefunden hat, sich deuten lässt. Was damals, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre stattgefunden hat, verstehe ich immer noch nicht so ganz. Aber ich fühle, dass in diesem Verständnis der Schlüssel für das Folgende liegt - bis hin zur Finanzkrise unserer Tage.
Das mag einstweilen ein wenig unbefriedigend sein, aber ich bin sicher, dass es da noch fruchtbare Ansätze zum Weiterdiskutieren gibt.
(Des Zurückblätterns müde, mache ich auf der übergeordneten Kommentarebene weiter.)
Was Sie über Erkenntnis und Nietzsche schreiben, d'accord. Ich wollte mit dem Aristoteles-Zitat nur sagen, das Unendliche, "anthropologisch" genommen, sei eine subjektive Problematik und als solche unschädlich; gefährlich wird's erst, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit nach diesem Bilde eingerichtet ist. - Die Stelle bei Nietzsche über das Nahe und Ferne werde ich zu finden suchen, eben weil das vielleicht ein Bezugspunkt für Bloch ist, der am Anfang von "Experimentum Mundi" davon spricht; Blochs Ausführungen sind ziemlich dunkel. Nietzsche in den Giftschrank, davon halte ich auch nichts. Gerade für die Unendlichkeitsproblematik ist er wesentlich. - Sie haben einen Mentalitätswechsel Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre wahrgenommen (Ihr Blog habe ich gelesen), ich habe einen Ende der 80er/Anfang der 90er wahrgenommen, es ist vielleicht wirklich ein "Sog" in dem Sinn, daß sich ununterbrochen was verschiebt und man nicht voraussagen kann, wann wer was daran bemerkt und es verallgemeinert. (Mein entsprechendes Schlüsselerlebnis war, daß ich in einem Laden eine Ersatzneonröhre kaufen wollte und die genaue Kennzahl angab, der Verkäufer ging wortlos in dem Keller, kam mit einer Verpackung zurück, knallte sie auf den Tisch, immer wortlos, ich zahlte und stellte zuhause fest, daß es irgendeine ganz andere Röhre war, der Mann hatte mir einfach das verkauft, was er hatte, und nicht das, was er nicht hatte. Ich war so erschüttert - aber das lag an mir, die Sache selbst war vermutlich nicht "neu" -, daß ich an diesem Tag nicht die Kraft hatte, das Ding zu reklamieren.) - Der Schiller-Text ist in Ästhetik Kommunikation 128 (2005) erschienen. Wenn Sie mir Ihre Mailadresse mitteilen (in den "Posteingang"), könnte ich ihnen das Manuskript einfach zusenden.
Danke für das Angebot, mir Ihr Schiller-Manuskript zukommen zu lassen. Meine Mailadresse habe ich Ihnen, wie vorgeschlagen, mitgeteilt.
Bei der Suche nach dem Nietzsche-Zitat bin ich noch nicht so recht weitergekommen. Teilweise sind seine Aphorismen ja auch ziemlich redundant. So bin ich in "Morgenröthe" auf einen ziemlich guten Kandidaten gestoßen, und zwar den 441. Aphorismus aus dem fünften Buch. Eine weitere Thematisierung des Problems findet sich im 355. Aphorismus aus dem fünften Buch von "Die fröhliche Wissenschaft".
Zur Zeit arbeite ich mich wieder durch "Menschliches, Allzumenschliches" und dabei bin ich auf einen interessanten Fund gestoßen, der sehr gut zum Thema Globalisierung passt. Ich zitiere:
"Seitdem der Glaube aufgehört hat, daß ein Gott die Schicksale der Welt im Großen leite und trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kants, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne weiteres wüßte, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswert seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, daß die allgemeine Harmonie sich nach eingebornen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben m ü s s e." (MAM, 1. Buch 25. Aphorismus).
Diese "ökumenischen Ziele" bieten ein gutes Stichwort, um hier mit Kondylis einzuhaken: "Planetarische Politik nach dem kalten Krieg". Darin gibt es übrigens auch ein Kapitel "Was war der Kommunismus?". Vielleicht schreibe ich selbst mal etwas darüber, wenn es meine Zeit erlaubt.
Was die Sache mit meinem Jugendfreund angeht, so handelt es sich nicht so sehr um ein isoliertes Schlüsselerlebnis, denn die Einsicht, dass dort etwas stattgefunden hatte, stellte sich bei mir erst später ein. Wenn man das politische Umfeld betrachtet, handelt es sich ja genau um die Zeit der "Wende": Zuerst Thatcher in England, dann Reagan in den USA und schließlich Kohl bei uns. Dazu die Aenderungen in der Medienlandschaft: Privatfernsehen, die Einführung der Börsennachrichten - bis hin zur Umwandlung von Werner Höfers "Internationalem Frühschoppen" in den öden "Presseclub", in dem Woche für Woche die immergleichen eitlen Selbstdarsteller (Jörges, Joffe, Steingart und Konsorten) eine Bühne fanden, sich ihrer Bedeutsamkeit zu vergewissern.
Selbst auf dem Gebiet der Unterhaltung konnte man den Zeitenwechsel wahrnehmen: Der schlitzohrige, stets etwas zerknautschte, immer am Rande der Pleite entlang schrammende Detektiv Rockford wurde durch die Ferrari und Speedboot fahrenden Armanikleiderständer Sonny Crocket und Ricardo Tubbs abgelöst und prägten mit ihrer Mode die Vorlieben einer ganzen Teenagergeneration - was ich dann auch gleich an meiner Alma mater beobachten konnte, als die Wiwi-Erstsemster den Hörsaal überfluteten. Die Posen der kommenden Masters of the Universe beherrschten sie schon vor Bestehen der ersten Matheklausur.
Lieber Zhou, das klingt, als hätten Sie meine Mailsendung noch gar nicht erhalten? Ich hatte sie Samstag nachmittrag verschickt. Muß ich sie noch mal schicken? Zu dem, was Sie jetzt schreiben, bis morgen bzw. heute am Tag, Gruß M.J.