(19) Das Wachstum und John Maynard Keynes

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Die Befassung mit Keynes an dieser Stelle ist schon deshalb geboten, weil sie etwas beiträgt zum Thema der letzten Notiz, dem Wachstumsfetischismus. Es soll aber vor allem gefragt werden, wie sich die Kapitalbegriffe von Keynes und Marx zueinander verhalten. In der folgenden Notiz werde ich diese Betrachtung noch fortsetzen. Mit dem Marxschen Begriff habe ich bisher gearbeitet. Das geschah vorgreifend. Es ist jetzt zu prüfen, ob der Begriff standhält, wenn man ihn durch andere Ansätze beleuchtet. Dass die Gliederung der vorliegenden Notiz sachdienlich ist - erst der Wachstumsfetischismus bei Keynes, dann die Kapitalbegriffe -, wird man sehen.

Wir verstehen Keynes am besten, wenn wir mitten hineinspringen in die Argumentation seines Hauptwerks, der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (ich zitiere nach der 10. Auflage, Berlin 2006, dahinter jeweils die Seite der Erstausgabe, London 1936). S. 23/27 lesen wir: "Um eine gegebene Beschäftigungsmenge zu rechtfertigen, ist [...] ein Betrag laufender Investitionen erforderlich, der groß genug ist, um den Überschuss der gesamten Produktion über die Menge zu absorbieren, die die Bevölkerung gerade verbraucht, wenn die Beschäftigung die gegebene Höhe hat." Ich versuche zu übersetzen. Man denkt zunächst, eine gegebene Menge entlohnter Arbeitskräfte sei einfach dadurch "gerechtfertigt", dass sie gerade so viel Waren produziert, wie dann auch verkauft werden können. Genau davon geht Keynes aus. Von "Rechtfertigung" spricht er deshalb, weil er die Sache aus der Unternehmerperspektive darstellt: Die Einstellung von Arbeitern wird nur da "gerechtfertigt" erscheinen, wo Unternehmer erwarten können, dass durch den Verkauf der Arbeitsprodukte Gewinn entsteht und wenigstens die Kosten gedeckt werden.

Da es Keynes um "Vollbeschäftigung" geht, fragt er meistens danach, wie eine vorgefundene Beschäftigungsmenge unter dem genannten Rechtfertigungsdruck gesteigert werden kann. Aber wie groß man sie immer vorfindet, sie wird sich stets aus der Unternehmerprognose des möglichen Verkaufs ergeben haben. Und was ist möglich? Dem zitierten Satz zufolge kann die Bevölkerung nicht alles zurückkaufen, was die Arbeiter produziert haben. So groß ist ihre "Konsumneigung" nicht. Nicht jedenfalls in "reichen Gesellschaften".

Keynes stellt das nur empirisch fest, ohne zu erklären, warum eine Gesellschaft "reich" ist und worin dieser "Reichtum" eigentlich besteht. Aber die Erklärung liegt auf der Hand. Industrialisierte Gesellschaften sind reicher als andere. In ihnen wird die Arbeitsproduktivität immer größer, das heißt, immer weniger Arbeiter reichen aus, um immer leistungsstärkere Maschinen zu bedienen. Dadurch nimmt die Qualität, aber auch die Menge der Produkte immer mehr zu. Nach einiger Zeit übersteigt sie den gesellschaftlichen Bedarf. Die Unternehmer jedoch, wenn sie nicht alles verkaufen können, was unter ihrer Regie produziert wird, schreiben rote Zahlen. Was sollen sie tun? Wo immer sie produzieren lassen, drohen mehr Waren produziert zu werden, als verkauft werden können.

Das Problem wird dadurch gelöst, sagt Keynes, dass unter den produzierten Dingen welche sind, die nicht für den gleich anschließenden Verkauf und Verzehr bestimmt sind, sondern für späteren. Mit andern Worten, in einer gegebenen Periode werden nicht nur Konsumgüter, sondern auch zusätzliche Investitionsgüter produziert. Das ist der einzige Weg, zu einer solchen Menge von Gütern zu gelangen, die nicht nur produziert, sondern auch verkauft werden können. Nur so, um das Zitat zu wiederholen, wird "der Überschuss der gesamten Produktion über die Menge absorbiert, die die Bevölkerung gerade verbraucht". Das heißt aber: Das Problem wird durch Wachstum gelöst. Denn mit den zusätzlichen Investitionsgütern produziert man zusätzliche Konsumgüter. In der Folgeperiode entsteht daher dasselbe Problem auf größerer Stufenleiter: Von den zusätzlichen Gütern würden erst recht nicht alle gekauft werden, käme man dem Desaster nicht zuvor und füllte die größer gewordene Bedarfslücke durch wieder neue Investitionsprojekte - und so immer weiter, immer weiter. (Vgl. auch S. 90/105)

Was ist das für ein Film? Keynes stellt fest, die Wachstumsnotwendigkeit ist eine Katastrophe. Gut, sie bringt "Arbeitsplätze". Aber was soll man mit den produzierten Gütern anfangen? Bald lässt sich auch kein zukünftiger Verbrauch mehr ausdenken, den die betroffene reiche Gesellschaft noch irgend sinnvoll finden könnte. Und doch wächst die Konsumlücke und muss mit Investitionsgütern verstopft werden, wenn man "Vollbeschäftigung" will. Läuft der sinnvolle Verbrauch aus, geht man eben zur Sinnlosigkeit über. Notfalls springt der Staat ein, legt Investitionsprogramme für Dinge auf, die gar nicht zum Verbrauch durch Käufer bestimmt sind. Der Bau von Pyramiden zum Beispiel würde helfen, oder der Staat kann Löcher buddeln und wieder zuschütten lassen. "Zwei Pyramiden, zwei Messen für die Toten, sind doppelt so gut wie eine, aber nicht so zwei Eisenbahnen von London nach York", stellt Keynes sarkastisch fest. Die zusätzlichen Eisenbahnfahrten könnten ja wieder nicht verkauft werden! Nützlich sind auch Kriege oder Erdbeben, denn dann ist die Eisenbahn weg und man produziert die zweite, ohne die erste verdoppelt zu haben. (S. 110 ff./129 ff.)

Hier spätestens nimmt Keynes' Wachstumstheorie den Charakter einer Kritik am Wachstumsfetischismus an. Wer lässt sich denn eine Wirtschaft gefallen, von der er sieht, dass sie nur unter der Bedingung sinnlosen und tödlichen Verbrauchs funktionieren kann? Würde Keynes heute schreiben, könnte er noch die Umweltvernichtung anführen. Jean Baudrillard hat es getan: In Der symbolische Tausch und der Tod lesen wir, dass beim Umweltschutz "das gesamte 'produktive' System durch die Beseitigung seiner Abfälle wiederaufbereitet wird - eine gigantische Gleichung mit dem Resultat Null - doch zugleich nicht Null, denn mit der Dialektik von Umweltschmutz und Umweltschutz entsteht die Hoffnung auf ein unbegrenztes Wachstum" (München 1982, S. 40 f.).

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In Keynes' Buch ist die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise 1929 mit Händen greifbar. Man sieht förmlich, wie er noch immer dabei ist, sich von der klassischen Ökonomie zu lösen, an die auch er vorher geglaubt hatte und die behauptet, es werde immer hinreichend viel investiert, teils für gegenwärtigen, teils für zukünftigen Verbrauch, und es gebe daher immer Vollbeschäftigung, vorausgesetzt nur, dass keine Kraft sich gegen die von ihr, der klassischen Ökonomie, aufgestellten Gleichungen versündige. Keynes geht es zunächst darum, diese Auffassung zu widerlegen. Dabei muss ihm in der Krise dasselbe aufgefallen sein, was uns auch heute wieder auffällt: Die Banken weigern sich, die Unternehmer zu kreditieren, und damit bricht die Grundgleichung der Klassik, "Investieren = Sparen", schon zusammen. Es stimmt nicht, dass alles, was an Einkommen jenseits der Konsumneigung vorhanden ist, gespart und das Gesparte in Investiertes verwandelt wird. Vielmehr spaltet sich das Sparen selbst noch einmal auf in Gespartes, das zur Investition freigegeben, und solches, das "liquide gehalten" wird von denen, die nicht glauben, dass eine Investition zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewinnträchtig sein könnte. Dies letzte Gesparte liegt brach, bis die Genannten wieder eine günstige Verkaufsentwicklung erwarten können.

Die Klassik wird sagen, das Brachliegen des Gesparten sei eine Krisenanomalie, die an der Reinheit der Gesetze, der Gleichungen nichts ändere. Keynes aber betont, dass seine Wissenschaft eine empirische sei. Die Zurückhaltung von Erspartem ist eine Tatsache, die in die Theorie eingehen muss. Mehr noch, es gibt gar keinen Grund, sie als Anomalie zu betrachten, denn das wäre wertend und nicht empirisch. Es stimmt zwar, gerade in der Krise ist die Neigung, Erspartes zurückzuhalten, besonders groß. Aber in irgendeiner Größe spielt sie immer mit.

Deshalb kann und muss sie selber zur Gesetzesaussage weitergedacht werden: Mit der Menge des zurückgehaltenen Ersparten wächst der Versuch, es hervorzulocken, damit es doch noch der Investition zugute kommt. Man bietet also den Sparern mehr Geld für die Hergabe an, oder mit anderen Worten, der Zinssatz wächst. Wenn aber der Zinssatz wächst, nimmt die Investitionsneigung der Unternehmer nicht zu, sondern ab, denn sie sind es ja, die mit dem hervorgelockten Ersparten kreditiert werden sollen und also den Zins zahlen müssten. Je höher der Zins ist, desto weniger dürfen sie einen noch höheren Gewinn, also überhaupt einen Gewinn oder auch nur die Kostendeckung erwarten. Das heißt, sie werden den Kredit nicht aufnehmen. Das Gesparte liegt weiter brach. Vielleicht dient es nun zur Grundlage für blasenbildende Finanzspekulationen. Die Investition jedenfalls bleibt aus.

Keynes, der damit anfängt, diese Zusammenhänge einzubleuen, zieht zunächst die Schlussfolgerung, dass unter solchen Umständen allerlei geschehen müsste, um "Investieren = Sparen" dennoch wahr zu machen. Der Staat müsste eingreifen. Er müsste den Zinssatz künstlich herabdrücken. Er müsste Investitionsprogramme sei's auch für sinnlose Dinge auflegen. Lange sieht es so aus, als ob es das ist, was Keynes empfiehlt, getrieben einzig von dem linken Wunsch, dass Vollbeschäftigung eintreten möge. Aber im Lauf des Schreibens muss ihm klar geworden sein, Vollbeschäftigung um den Preis sinnlosen, auch destruktiven Wachstums kann selbst kein sinnvolles Ziel sein. Deshalb gelangt er zu der ganz anderen Empfehlung, der Staat möge darauf hinwirken, dass Unternehmer keinen Gewinn mehr machen, sondern nur noch ein gewöhnliches Gehalt für sich erwirtschaften. Das heißt, er empfiehlt die Abschaffung des erzwungenen Wachstums und hält sie auch für möglich. Nachdem er den Fetischcharakter des Zwangs erkannt hat, ist er sogleich von ihm befreit.

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Die Nähe zur Marxschen Theorie ist offenbar sehr groß. Marx zieht die Sache zwar etwas anders auf. Er fängt mit der Unterstellung an, der Unternehmer habe einen Mehrwert erwirtschaftet, müsse ihn nun, um ihn gleichsam wahr zu machen, zum Kauf für etwas verwenden und verwende ihn teils zum eigenen Verbrauch, teils zur Neuinvestition. Denn Wert würde aufhören, Wert zu sein, wenn er in der Form von Geld bloß gehortet würde. Solches Geld würde sich nicht von irgendwelchen Kieselsteinen unterscheiden, die man auch horten könnte. Wert ist nur Wert, wenn es in Tauschvorgänge eingeht. Das nimmt auch Keynes an. Das von ihm herausgestrichene "Liquidehalten" von Geld bedeutet nicht, dass dieses Geld nicht doch irgendwann zur Investition freigegeben werden müsste. Vielmehr, nur der Zeitpunkt der Freigabe wird hinausgeschoben. Wenn jedenfalls, früher oder später, neu investiert wird, kann es sich laut Marx theoretisch um "einfache" oder "erweiterte Reproduktion" des bisher Produzierten handeln und kommt faktisch, wegen der immer steigenden Arbeitsproduktivität, zunehmend nur "erweiterte Reproduktion" in Frage.

Was Marx zunächst im Nacheinander darstellt - erst werden Konsumgüter mit Mehrwert verkauft, dann stellt sich die Aufgabe der Reinvestition -, ist bei Keynes von vornherein als gleichzeitig aufgefasst: Die Konsumgüter könnten nicht einmal zum Wert verkauft werden, hätte ihre Produktion den ganzen Umfang des Produzierbaren abgedeckt, wären also nicht neben ihnen die Reinvestitionsgüter schon mitproduziert worden. Im zweiten Schritt kommt aber auch Marx auf diese Ebene: Er unterscheidet, dass gesellschaftliche Produktion sich in zwei "Abteilungen" aufteilen muss, von denen die eine Konsum-, die andere gleichzeitig Investitionsgüter produziert. Wie Keynes bemüht er sich zu zeigen, dass die beiden Abteilungen sich von selbst kaum im Gleichgewicht halten können, besonders bei "erweiterter Reproduktion", zu der es, wie gesagt, notwendig kommen muss. Nun haben wir gesehen, für Marx macht der ständige Mehrwertzuwachs die Definition des Kapitals aus. Dessen Grundlage ist die ständig erweiterte Reproduktion - eben "das Wachstum", das auch Keynes ins Zentrum der Erörterung stellt. Und so scheint es, Keynes habe denselben Kapitalbegriff wie Marx.

Tatsächlich ist es etwas komplizierter. Als Keynessche Kapitaldefinition wird man die Wendung ansehen können, "dass das Kapital während seines ganzen Bestandes einen seine ursprünglichen Kosten übersteigenden Ertrag hat" (S. 179/213). Er sagt auch: "Wenn ein Mensch ein Investitionsgut oder Kapitalgut kauft, kauft er das Anrecht auf die Reihe voraussichtlicher Erträge, die er während der Lebensdauer des Vermögenswertes vom Verkauf seiner Produktion [...] zu erhalten erwartet." (S. 115/135) Ein solches Gut wäre nach Marx noch kein Kapital: Kapital wird es erst, wenn die "Lebensdauer" von vornherein ins Endlose entworfen ist. Denn als "unmittelbarer Zweck des Kapitalisten", schreibt Marx, ist "nicht der einzelne Gewinn [zu behandeln], sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens" (MEW 23, S. 168). Aber eben den Zwang zur "rastlosen Bewegung" stellt auch Keynes auf seine Weise heraus, so dass wir es anscheinend nur mit einem Unterschied in der Terminologie, nicht in der Sache zu tun haben.

Dieser Unterschied der Terminologie führt immerhin dazu, dass das, was Keynes "Kapital" nennt, nach Keynes' Auffassung auch dann bestehen bleibt, wenn das, was Marx "Kapital" nennt, abgeschafft wäre. Keynes kann schreiben, "dass ein richtig geleitetes [...] Gemeinwesen [...] in der Lage sein sollte, innerhalb einer einzigen Generation die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals" - das ist ein anderes Wort für die "Investitionsnachfrage" des Kapitals, vgl. S. 116/136 - "im Gleichgewicht auf ungefähr Null herunter zu bringen; so dass wir die Zustände eines quasi stationären Gemeinwesens erreichen würden, in dem Änderungen und Fortschritt sich nur aus Änderungen in der Technik, im Geschmack, in der Bevölkerung und in den Institutionen ergeben würden" (S. 185 f./220 f.).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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