Mit dem Einakter Elektra, uraufgeführt im Jahr 1909 in Dresden, ist eine Wende der Opernentwicklung zwar nicht eingeleitet, aber gleichsam auf den Punkt gebracht worden. War die Oper schon seit Monteverdis Orpheus (1607) ein Rückgriff auf die antike Tragödie insofern gewesen, als man dort das Vorbild eines textlich-musikalischen Gesamtkunstwerks gefunden hatte, kehrt Richard Strauss auch zu ihrem Gehalt, einer gnadenlosen Vergeltungs-Gerechtigkeit, zurück. Als Text liegt Hugo von Hofmannsthals gleichnamiges Drama (1903) zugrunde, das den Eindruck erweckt, die Angst des Bürgertums vor der sich anbahnenden proletarischen Revolution werde gespiegelt.
Elektra ist eine Tochter des griechischen Königs und Heerführers Agamemnon, der nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg von Klytaimnestra, seiner Gemahlin, und deren Liebhaber Aigist ermordet wird. Der Einakter zeigt, wie Elektra auf die Rückkehr ihres Bruders Orest wartet, der die Rache vollziehen soll. Er kommt tatsächlich und tötet Aigist und die Mutter. Dieser Mythos hat in der Antike immer wieder als Kunstvorlage gedient. Hofmannsthal bezieht sich auf die Elektra des Sophokles (ca. 413 v. Chr.), übernimmt aber eigentlich nur den äußeren Ablauf. Schon seine Psychologisierung der Charaktere hat kein Vorbild in der Antike, das ist aber noch nicht originell. Wir sehen auch etwa in Racines Phädra (1677) einen jungen Mann, der die Liebe seiner Stiefmutter deshalb zurückweist, weil er eine andere liebt, während er bei Euripides (428 v. Chr.) als Anhänger der Göttin Artemis vollkommen keusch lebt und damit eine andere Göttin erzürnt, Aphrodite, die sich der Stiefmutter als Instrument ihrer Rache bedient.
Entsprechend sind bei Sophokles Elektra und Klytaimnestra nicht psychologisch gezeichnet, sondern tragen einen Rechtsstreit aus: Die Mutter will den Gattenmord als Sühne dafür verstanden wissen, dass der Vater Elektras Schwester Iphigenie geopfert hat; Elektra wendet ein, er habe das tun müssen, um die Göttin Artemis zu besänftigen, deren Gebot er einmal übertrat. Bei Hofmannsthal ist Elektra aber einfach ein Mensch, der die Mutter hasst und vor Hass bersten möchte.
Ganz neu ist der Gehalt, den er ins Gespräch von Mutter und Tochter hineinlegt. Klytaimnestra leidet unter furchtbaren Schuldgefühlen und hofft darauf, von Elektra Vergebung zu erlangen. Die kündigt stattdessen mit grausamen Worten die Rache an. Ein christliches Motiv wird eingeflochten: Die Mutter hofft, Elektra werde „wie ein Arzt“ zu ihr reden, sie will „wie die Kranken tun, wenn sie der kühlen Luft, am Teiche sitzend, abends ihre Beulen und all ihr Eiterndes der kühlen Luft preisgeben“. Damit spielt der Dichter auf das fünfte Kapitel des Johannesevangeliums an, Heilung eines Kranken am Teich Betesda. „Jetzt bist du gesund“, sagt Jesus, „sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt.“ Elektra ist aber das Gegenteil eines Heilands. Jesus hatte einen liebenden Vater beschworen, Elektra beschwört einen, der nach Blut dürstet: „Von den Sternen stürzt alle Zeit herab, so wird das Blut aus hundert Kehlen stürzen auf dein Grab!“
Diesen Schrecken auf bürgerliche Angst vor der Revolution zu beziehen, scheint deshalb plausibel, weil „Rache statt Vergebung“ auch viele andere Opern der Zeit thematisch vereint – einer Zeit, in der sich die Arbeiterklasse in nationalen und internationalen Kampfbünden organisiert. Die Erwartung, dass die Revolution eine Racheveranstaltung wird, ist realistisch genug und kommt in Gerhard Hauptmanns Drama Die Weber (1892) ausdrücklich zur Sprache. Im Bereich der Oper, wo man sie auf Liebe und Hass von Privatpersonen projiziert, beginnt ihre Thematisierung mit dem sogenannten Verismus. Zwei Einakter läuten ihn ein, Cavalleria rusticana (1890) von Pietro Mascagni und Der Bajazzo (1892) von Ruggero Leoncavallo. Wird schon im ersten ein Ehebrecher zur Strecke gebracht, obwohl er bereut und um Schonung bittet, beginnt der zweite zudem mit einem Prolog, der das Stück ausdrücklich in den Kontext der antiken Tragödie stellt.
Dieses Stück zeigt auch, wie die Realität in die Kunstsphäre einbricht. Der „Bajazzo“ ist ein Clown, der mit seiner Truppe durch süditalienische Ortschaften zieht und jedes Mal eine Komödie aufführt, in der er seine Frau beim Ehebruch ertappt. Diesmal hat er aber wirklich vor der Aufführung entdeckt, dass sie ihn betrügt, und ersticht sie auf offener Bühne. Wohl in Reaktion darauf komponiert der Österreicher Wilhelm Kienzl den Evangelimann (1894) und behauptet wie Leoncavallo, seine Geschichte gehe auf eine wirkliche Geschichte zurück. Nur dass sein Protagonist verzeiht, sogar Bibeln verteilt.
Der Einbruch der Realität wird in Giacomo Puccinis Tosca (1900) wiederholt: Ein Polizeichef zwingt eine Opernsängerin zum Verrat und verhöhnt sie dafür, dass sie nun auch außerhalb der Bühne Verzweiflungsarien singen muss. Hier geht es übrigens, obgleich in historischer Rückdatierung, um eine veritable Revolution. Puccini hat später auch eine Oper des Verzeihens geschrieben, Das Mädchen aus dem goldenen Westen (1910), wo es einer Frau unter Goldgräbern in Kalifornien gelingt, für einen Räuber Gnade zu erwirken. Ihr Argument ist einzig, dass sie ihn liebe und auch für die Lynchjustiz-Richter schon viel getan habe.
Die Zusammenarbeit mit Hofmannsthal war für Strauss auch verhängnisvoll, da der Dichter ihn in konservative Bahnen lenkte. Gleichwohl ist die Musik zur Elektra das Kühnste, was er je geschrieben hat. Er selbst meinte, sie sei ein Äußerstes, das er nicht wiederholen wolle. Man hat den Eindruck, dass er an die Musik von Puccinis Tosca anknüpft, wo wir bereits den kurzen, um ein Motiv zentrierten Klang hören, der sich ans eben gesungene Wort schmiegt und mit dem nächsten stark verändert sein kann, ohne dass der Zusammenhang leidet – ein Zusammenhang ohne musikalische Großform. Das ist auch Strauss’ Kompositionsweise, sodass man einer Prosarede musikalisch zu folgen meint, obwohl die Textvorlage aus Blankversen besteht, fünf Jamben pro Zeile wie in Friedrich Schillers Dramen.
Strauss ist aber weit anspruchsvoller als Puccini, da er die Errungenschaften der deutschen Musik verwertet und noch steigert: Leitmotive werden häufiger als bei Richard Wagner übereinandergeschichtet, jedes einzelne ist in Teilmotive zerlegt und verändert in „entwickelnder Variation“ à la Johannes Brahms seinen Charakter. Die Musik ist dissonant, kreiert Gesänge, die sich in Sprüngen bewegen, und grenzt oft an Polytonalität.
Die Folge ist, dass Strauss’ Einakter zwar vollkommen rational Gedanken in Musik übersetzt, sich die Rationalität aber kaum noch nachvollziehen lässt, was beim mehrmaligen Anhören einer Wagner-Oper allenfalls noch möglich wäre. Diesen Charakter teilt Elektra mit atonaler Musik, von der sich das Stück aber dadurch unterscheidet, dass es gefühlsmäßig das Aufnahmevermögen eines durchschnittlichen Konzertsaalpublikums nicht überfordert. Dabei wiederholt es keineswegs nur Gefühle, die man aus anderen Opern schon kennt. Man fragt sich, warum nicht diese Musik, statt der atonalen, im 20. Jahrhundert Schule gemacht hat. Aber dann hätte Strauss nicht vor ihr zurückschrecken dürfen. Ein Schrecken, der wohl nicht nur musikimmanent begründet war, sondern auch mit dem revolutionären Gehalt der Textvorlage zusammenhing.
So konnte Elektra eine Tradition nur darin begründen, dass nun auch atonale Komponisten die antike Tragödie mit Unterstreichung ihrer Erbarmungslosigkeit auf die Opernbühne brachten, so noch in unserer Zeit Aribert Reimann (Medea, 2007/09) oder Harrison Birtwistle (Minotaur, 2008). Im Gegenzug entstanden christliche Opern wie Saint François d’Assise (1975/83) von Olivier Messiaen, welches Werk aber so sehr im grausamen Martyrium schwelgt, dass man es selbst fast der griechischen Tragödie zurechnen möchte.
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