1918: Hindenburgs Gift

Zeitgeschichte Die „Dolchstoßlegende“ lastet die Schuld an der deutschen Kriegsniederlage der Revolution an, die zur Ausrufung der Weimarer Republik geführt hat
Ausgabe 51/2016

Die Dolchstoßlegende war eine noch im Zweiten Weltkrieg wirksame Verschwörungstheorie. Sie hielt manche Offiziere davon ab, sich dem Widerstand gegen Hitler anzuschließen. Das deutsche Militär, wurde behauptet, sei bis zum Ende des Ersten Weltkriegs „im Felde unbesiegt“ gewesen und hätte es bleiben können. Habe es im Herbst 1918 nicht noch in Feindesland gestanden? Nicht aus militärischer Not, sondern nur weil die neue revolutionäre Führung es so gewollt habe, sei es unwillig, aber geordnet nach Deutschland zurückmarschiert.

Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg hatte die Legende nicht erfunden, doch war es seine Aussage vor einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss am 18. November 1919, der sie in der Öffentlichkeit verankerte. Erst am 25. Juni desselben Jahres war er als Chef des Generalstabs des Heeres zurückgetreten. Die Popularität des „Siegers von Tannenberg“, als den er sich feiern ließ, war ungebrochen. Viel lag ihm daran, dass sie es auch blieb. Schon an der öffentlichen Wahrnehmung jener Schlacht im Jahr 1914 hatte sein Sinn für Mythen einen Anteil gehabt: Hindenburg selbst hatte durchgesetzt, dass von „Tannenberg“ die Rede sein sollte, obwohl der Ort vom Kampfgeschehen kaum betroffen war; dort aber 1410 der Deutsche Orden von einem polnisch-litauischen Heer vernichtend geschlagen wurde. Daran, dass die Scharte nun ausgewetzt war, und zwar durch ihn, konnte natürlich auch der Versailler Vertrag von 1919 nichts mehr ändern.

Als der Untersuchungsausschuss tagte, sorgten andere für seinen großen Auftritt, bevor er selbst den Mund aufmachte: Eine Ehrenwache der Reichswehr holte ihn vom Sonderzug ab, sein Platz im Sitzungssaal war mit einem Chrysanthemenstrauß samt schwarz-weiß-roter Schleife geschmückt. Den in eine Paradeuniform Gekleideten begrüßte der überfüllte Saal stehend. Dort nun führte er aus, ein englischer General habe „mit Recht“ gesagt, die deutsche Armee sei „von hinten erdolcht“ worden. „Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld“, fuhr Hindenburg fort. „Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offizierskorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg.“

Wesentlichen Anteil an der Verbreitung der Legende hatte das Bild des Dolchstoßes als solches. Es spielte auf zwei deutsche Mythen an, die ohnehin längst sehr wirkungsmächtig geworden waren: die Ermordung Siegfrieds wie die Hermanns des Cheruskers. Dass der böse Hagen dem Drachentöter Siegfried einen Speer heimtückisch in den Rücken gestoßen hatte, war spätestens seit der Siegfried-Oper Richard Wagners (uraufgeführt 1876) eine politische Metapher, von der rechte wie linke Kräfte gern Gebrauch machten. Die Arbeiterbewegung sah in Siegfried ein Symbol der eigenen Stärke. Für die Rechten verkörperte er die Kraft der Nation und löste in dieser Rolle Hermann ab, der sie vorher gespielt hatte. Die von Hermann – der in den Quellen Arminius heißt – im Jahr 9 nach Christus siegreich bestandene Schlacht gegen die Römer im Teutoburger Wald ist zwar selbst kein Mythos, war aber durch Heinrich von Kleists Drama Die Hermannsschlacht (geschrieben 1808) zu einem solchen gemacht worden. Das Stück stellt sie nämlich in den Kontext einer alttestamentarischen Geschichte, damit man glauben sollte, die ganze Menschheitsgeschichte legitimiere gleichsam den deutschen Widerstand gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dass auch Hermann später einem heimtückischen Mord durch Verwandte zum Opfer gefallen sein soll, verband ihn mit Siegfried. Von Hermanns Schlacht gegen Varus, den römischen Feldherrn, konnte man glauben, der Weltkrieg gegen die westlichen Alliierten wiederhole sie.

„Maßloses Erstaunen“

Bei so viel Verankerung im kollektiven (Un-) Bewusstsein war es kein Wunder, dass die Dolchstoßlegende auf fruchtbaren Boden fiel. Zumal die Deutschen, und das gehört immer zur Wirksamkeit von Verschwörungstheorien, sehr gute Gründe hatten, sich über das Kriegsende und seine Folgen zu wundern. Immerzu hatte die Kriegspropaganda die militärische Situation als glänzend für Deutschland hingestellt. Auf einmal meuterten die Matrosen in Wilhelmshaven. Man schrieb den 29. Oktober 1918. Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet, die „Deutsche Republik“ (durch Philipp Scheidemann) und die „Freie Sozialistische Republik“ (durch Karl Liebknecht) ausgerufen. Und schon zwei Tage später wurde das Waffenstillstandsabkommen, dem die Kapitulation folgte, im Wald von Compiègne unterzeichnet. Dann folgte der Vertrag von Versailles, der alle deutschen Erwartungen durchkreuzte. Denn die alliierte Kriegspropaganda hatte immer behauptet, dass eine Kapitulation dem deutschen Volk nur nützen würde; den Krieg habe ja der Kaiser verschuldet. Tatsächlich wurden nun harte Reparationen verhängt, und das Volk musste sie aufbringen.

Dass die Dolchstoßlegende eine Legende war, kann von heute aus gesehen gar keinem Zweifel unterliegen. Das fängt schon damit an, dass der englische General das ihm zugeschriebene Bild dementierte, das deutsche Heer sei „von hinten erdolcht“ worden. Vor allem aber hatten die Alliierten zum „maßlosen Erstaunen“ über ihren Sieg, von dem Hindenburg schwadronierte, nicht die geringste Veranlassung. Ihre Mannschafts- und mehr noch ihre Materialüberlegenheit war nach dem Kriegseintritt der USA erdrückend geworden. Das wusste auch die deutsche Heeresleitung genau. Nachdem die alliierten Truppen am 27. September 1918 die östlichste militärische Befestigungsanlage der Deutschen im besetzten Frankreich durchbrochen hatten, forderte sie selbst zwei Tage später die Reichsregierung ultimativ auf, eine Verfassungsänderung und die Regierungsbeteiligung der SPD zuzulassen, um die Siegermächte für einen milden Friedensschluss nach der Kapitulation zu gewinnen. Schon damals freilich fügte Erich Ludendorff, Hindenburgs Stellvertreter in der Heeresleitung, in einer Denkschrift hinzu, die SPD habe „die Suppe“ ja „eingebrockt“ und müsse sie nun auslöffeln. Bis die Matrosen meuterten, sollte aber noch ein ganzer Monat vergehen.

Und doch würde man die Mechanik von Verschwörungstheorien falsch einschätzen, wollte man nur bewusste Lügen in ihnen sehen. Von der Dolchstoßlegende kann man nicht einmal sagen, dass ihre Urheber sich selbst nur belogen hätten. Gewiss ist die Verlogenheit von Hindenburgs Erklärung vor dem Untersuchungsausschuss unübersehbar. Es gibt aber in ihr eine Grundlinie, mit der er offenbar seine wirkliche Überzeugung ausspricht. Die besteht darin, dass er die Mannschafts- und Materialüberlegenheit des Kriegsgegners selber benennt, zugleich aber an die Kriegstheorie Carls von Clausewitz (1780 – 1831) erinnert, derzufolge die Kriegsbegeisterung – der subjektive Faktor – genauso viel wie der objektive wiege. Diese Begeisterung, meint Hindenburg, sei anfangs vorhanden gewesen, zuletzt aber aus der Heimat torpediert worden. Dass die deutschen Generäle in Clausewitz’ Theorie lebten und webten, ist bekannt.

Weil es Verschwörungen wirklich gibt, kann man viele „Verschwörungstheorien“ nicht einfach abtun. Seit langem suchen Wissenschaftler nach dem Kriterium, mit dem es gelingen soll, diskutable von indiskutablen Theorien des Genres zu unterscheiden. Vorgebracht wurde zum Beispiel, dass Erklärungen lediglich aus der Disposition der Akteure von vornherein zweifelhaft seien („Attributionsfehler“). Diese Ausschließlichkeit kann man Hindenburg schon einmal nicht vorwerfen. Am ehesten überzeugt noch die Forderung, die Plausibilität im Einzelfall zu prüfen und besonders darauf zu achten, ob der Verschwörungstheoretiker sich gegen Widerlegungsversuche immunisiert. Dass Hindenburg behauptete, die Schuld der Revolution an der Kriegsniederlage sei „klar erwiesen“, war absurd.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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