Kurt Schumacher, der die Partei bis zu seinem Tod am 20. August 1952 geführt hatte, wollte kein neues Grundsatzprogramm, doch unter dem neuen Vorsitzenden Erich Ollenhauer wurde es sofort in Angriff genommen. Wesentliche Teile dessen, was wir heute mit „Godesberg“ verbinden – so der Satz, die SPD sei nunmehr „Partei des Volkes“ statt Arbeiterpartei –, wurden bereits vom Westberliner Parteitag 1954 beschlossen. Bei diesem Parteikongress wurde außerdem die Formel Karl Schillers, des späteren Bundeswirtschaftsministers unter Willy Brandt, anerkannt: „So viel Markt wie möglich, so viel Plan wie nötig.“ Christen zum Parteieintritt oder zur Wahl der SPD zu ermutigen, war noch weniger neu, schon Kurt Schumacher hatte es versucht.
Was das Godesberger Programm hinzutat, waren vor allem zwei deutliche Verschärfungen, um die bis zur letzten Minute der Streit ging. Das war zum einen die Formulierung des Verhältnisses zu den Kirchen, das jetzt als „freie Partnerschaft“ beschrieben wurde. Hierüber gab es auf dem Godesberger Sonderparteitag vom 13. bis zum 15. November 1959 die heftigste Auseinandersetzung, bis schließlich eine große Mehrheit zustimmte. Dieser Punkt war tatsächlich zentral, wie man daran sieht, dass er in den sich christlich nennenden Unionsparteien mit besonderer und auch berechtigter Besorgnis aufgenommen wurde.
Der andere Punkt, der darin bestand, dass die SPD aufhörte, im Marxismus eine ihrer geistigen Quellen zu sehen, beschäftigte die Delegierten weniger. Der Marxismus hatte in keinem vorausgegangenen Programm gefehlt, jetzt verwahrte sich Herbert Wehner, der vormalige Kommunist, auf dem Parteitag mit den Worten „Glaubt einem Gebrannten!“ gegen ihn. Darin sah die Union nur eine neue Verkleidung, es war aber ernst gemeint. So wurde der marxistische SDS, bis dahin die Studentenorganisation der SPD, 1961 ausgeschlossen. Dasselbe Schicksal ereilte die Professoren Wolfgang Abendroth (1961) und Ossip K. Flechtheim (1962). Abendroth hatte mit einem Gegenentwurf das Godesberger Programm zu verhindern versucht, es war ihm freilich nicht einmal gelungen, sich als Parteitagsdelegierten aufstellen zu lassen.
Zum Wendeprozess, der unter dem Label „Godesberg“ in die Geschichte einging, muss auch die Grundsatzrede Herbert Wehners vom 20. Juni 1960 im Bundestag gerechnet werden. Das Godesberger Programm bekennt sich zum Grundgesetz und daher auch zur Landesverteidigung, Wehner ging bei seinem Auftritt aber weiter, billigte im Namen der Partei die bis dahin bekämpfte Westbindung der Bundesrepublik einschließlich der NATO-Mitgliedschaft. Diesen Weg Konrad Adenauers hatte Schumacher nicht mitgehen wollen, weil er ihn für unvereinbar mit der deutschen Wiedervereinigung hielt. Er war auch kein Keynesianer gewesen wie Schiller, hatte vielmehr eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien im Stil der Labour Party angestrebt.
Dass „Godesberg“ zum Symbol wurde, kann damit erklärt werden, dass dort die neue Parteiführungsriege hervortrat. Der Wendeprozess war in einer Arbeitsgruppe unter Leitung Willi Eichlers begonnen worden, doch weder er noch gar der Parteivorsitzende Ollenhauer wurden dann in der Öffentlichkeit mit ihm verbunden, vielmehr neben Wehner Fritz Erler, Carlo Schmid und vor allem Willy Brandt. Die hatten auch den organisationspolitischen Durchbruch in die Wege geleitet, der für „Godesberg“ die Grundlage schuf. Das war der 1957 erreichte Beschluss, dass die Partei nicht mehr vom „Büro“ der hauptberuflichen Funktionäre des Parteivorstands geführt werden würde, sondern von einem aus deren Mitte zu wählenden „Präsidium“, dessen Aufgabe allein die politische Meinungsbildung und Orientierung sein würde.
Ohne diese Trennung von Parteiverwaltung und eigentlicher Politik hätte das neue Grundsatzprogramm vielleicht gar keine Bedeutung erlangt, der Parteiapparat hätte es kleingearbeitet. Doch nun gaben die öffentlichkeitswirksamen neuen Parteiführer die Richtung vor, Wehner, Erler und Schmid im Bundestag, Brandt als Kanzlerkandidat und Westberliner Bürgermeister. Zum neuen Gesicht der SPD gehörten auch Gustav Heinemann, Johannes Rau und Erhard Eppler, die 1956/57 im Zuge der Auflösung der protestantisch geprägten Gesamtdeutschen Volkspartei zu den Sozialdemokraten übergetreten waren.
Dass „Godesberg“ die SPD zur potenziellen und dann auch wirklichen Kanzlerpartei machen würde, zeigte sich sehr bald. Man sprach vom „Genossen Trend“, da sie nach dem Sonderparteitag von Bundestagswahl zu Bundestagswahl ihren Wähleranteil steigerte. Aber war der Preis nicht viel zu hoch, hatte die Partei nicht ihre Seele verraten? Die Ausgeschlossenen sahen es so. Ihnen stellte sich der Weg der Partei als opportunistische Anpassung dar, hervorgerufen durch die Wahlerfolge der Union während der 1950er Jahre, Anpassung also nicht nur an den Markt und die Westbindung, sondern auch an einen Parlamentarismus, der die Kapitalmacht verhüllte. Dieser Tadel ging allerdings insofern zu weit, als auch die marxistischen Kritiker hätten anerkennen müssen, dass wirklich neue Realitäten entstanden waren, die eine veränderte Politik herausforderten. Diese neuen Realitäten bestanden nicht in Adenauers Wahlerfolgen, von denen wurden sie nur angezeigt.
Sie bestanden in jener gravierenden Umwandlung der westdeutschen Gesellschaft auf Basis ihrer Ökonomie, die den in den 1950er Jahren lebenden Menschen als „Wirtschaftswunder“ bewusst wurde. Um ein Wunder handelte es sich natürlich nicht, vielmehr war man in die Rekonstruktionsperiode nach dem Weltkrieg eingetreten und konnte sie infolge westlicher Kredite (Marshallplan) gut bewältigen. Auch was in der Zeit des Naziregimes geschah, war wichtig gewesen, hatte es doch – wenn wir dem marxistischen Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas folgen – die Kapitalfraktionen unter der Führung des industriellen Großkapitals neu vereint, wodurch es auch möglich geworden war, eine vereinte Kleinbürgerpartei wie die NSDAP zu schaffen. Durch den Bau der Autobahnen war bereits die Hegemonie der Automobilunternehmen in die Wege geleitet worden.
Genauso wichtig wie diese Entwicklungen war schließlich der Umstand, dass mit den 1950er Jahren die Blütezeit des „Fordismus“ begann, jener kapitalistischen Epoche, in der man einer vollbeschäftigten und sozial gut abgesicherten Arbeiterklasse den Kauf solcher Konsumgüter wie des Autos, des Kühlschranks und der Waschmaschine ermöglichte, in nicht ganz wenigen Fällen auch eines eigenen Hauses. Da leuchtete es vielen Sozialdemokraten nicht mehr ein, dass ihre Umwelt eine Klassengesellschaft sein sollte, eher stimmten sie der Beschreibung „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ zu. Das war ohne Zweifel ein Zusammenbruch der analytischen Kompetenz, es wäre andererseits schwach gewesen, den Vorgängen die Qualität des wirklich Neuen zu bestreiten.
Wenn „Godesberg“ opportunistisch war, dann bestand der Opportunismus in der blinden Übernahme neuer Vorstellungen der US-amerikanischen Gewerkschaften, wie ja auch Willy Brandt, der Kanzlerkandidat, sein Heil darin sah, sich am politischen Stil des US-Präsidenten John F. Kennedy (im Amt 1961 – 1963) zu orientieren. Keineswegs waren solche Übernahmen von der akzeptierten „Westbindung“ vorgegeben, denn die USA hielten auch ganz andere Vorbilder bereit. So die in den 1950er Jahren beginnende Konsumismus-Kritik, in den 1960ern die ökologische Kritik – von der SPD-Kampagne „Blauer Himmel über der Ruhr“ wurde sie bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt – und nicht zuletzt die Kritik am Vietnamkrieg, den zu verteidigen Willy Brandts SPD nie aufhörte.
Doch was sie nicht tat, taten dann andere: die 68er unter Führung des SDS und danach die Grünen. Deren Impulse sind noch heute wirksam, die der 68er werden es wieder sein, denn sie sind unabgegolten; die SPD jedoch befindet sich inzwischen im Niedergang.
Kommentare 11
Im wesentlichen unterschreibe ich das. Ein bißchen mehr wäre der SPD m.E. übrig geblieben, ein radikales Gegenprogramm keinesfalls. Und sie hat trotz allem unter Brandt viel Wichtiges erreicht.
"Das war zum einen die Formulierung des Verhältnisses zu den Kirchen, das jetzt als „freie Partnerschaft“ beschrieben wurde. Hierüber gab es auf dem Godesberger Sonderparteitag vom 13. bis zum 15. November 1959 die heftigste Auseinandersetzung, bis schließlich eine große Mehrheit zustimmte. Dieser Punkt war tatsächlich zentral [...]"
Ja, ein zentraler Punkt, und ich kann mich noch aus meiner Kindheit erinnern, wie sich Opas darüber lustig machten, dass der Genosse Herbert Wehner plötzlich so beflissen ein aktives Verhältnis zur Kirche suchte.
Dazu findet sich ein lustiges Zitat in einem Spiegelartikel vom Ende der Sechzigerjahre (v. 03.02.1969, Ausgabe 2/69, online als Scan). Demnach hielt Wehner 1964 in der protestantischen St. Michaelis-Kirche in Hamburg eine Laienpredigt ("trat ans Eichenpult") und bekannte ("Meine Damen und Herren, liebe Brüder"): "Ich kenne die Situation des Menschen, der versucht, ohne die Kirche zu leben. Er hält diese Spannung nicht aus."
Vielleicht war das sogar ernst gemeint. Aber auch ein Lachanfall wäre eine nachvollziehbare Reaktion gewesen - und, ernsthaft jetzt, die St. Michaelis-Kirche nicht die Rote Kapelle...
erinnert sei an die godesberg-opposition des späteren nieders,
kultusministers --->peter von oertzen,
der sowohl konzeptionell als auch mit seiner hausmacht in hannover
mit wehenden fahnen unterging.
Ich kann mich an diese Predigt auch noch erinnern. Übrigens ein wiederkehrendes Motiv, auch Gysi hat sich ihm unterzogen.
Aber die Sache ist nicht nur komisch, denke ich. Bei Ernst Bloch gibt es Überlegungen, die Wehners Satz nicht ganz fern stehen.
Beim Begriff "Kirche" muss natürlich die Kirchengemeinde mitgedacht werden, und da lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass jemand wie Herbert Wehner, der in der KPD unter äußerst riskanten Verhältnissen (Bedrohung von außen und innen) engagiert war, dort eine Gemeinde sah und diese auch nicht missen wollte. Und es kommt einem sofort der Begriff der Solidiarität in den Sinn, etwas, das fatalerweise und beabsichtigt völlig in den Hintergrund gerückt ist und wird. Trotzdem, der bärbeißige Wehner auf der Kanzel, ein schräges Bild - ich seh ihn an der Pfeife ziehen...
Bei der Erwähnung von Bloch drängt sich dann sofort "Atheismus im Christentum" auf. Ich kann mich an eine Abhandlung erinnern, in der, angelehnt an sein angebliches "Hauptwerk", die Etikettierung Blochs als "Philosoph der Hoffnung" angesprochen, aber abgelehnt und vielmehr herausgearbeitet wird, dass Leben und Werk im Kern um das "Noch nicht" kreisen, Hauptwerk also eher eine Arbeit wie "Geist der Utopie" sein könnte - und die dort entwickelte religiöse Komponente taucht dann eben im oben genannten Werk zentral wieder auf.
Im Internet findet sich (als PDF eingestellt) ein Vortrag (René Buchholz) aus dem Jahre 2013 (in Tübingen gehalten, wo sonst?) mit dem Titel "Atheismus im Christentum? Ernst Blochs Versuch einer Beerbung der religiösen Traditionen". Dort heißt es am Ende: "Wo religiöse Hoffnung explizit bleibt, steht sie heute, wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek schreibt, vor der Frage, ob sie eine therapeutische oder kritische Funktion haben soll. „Entweder“, so Žižek, „hilft sie den Menschen dabei, im Rahmen der existierenden Ordnung besser zu funktionieren, oder sie versucht, sich als kritische Institution zu etablieren, die das, was mit der Ordnung an sich nicht stimmt, zur Sprache bringt und einen Raum für abweichende, kritische Stimmen bietet. Im zweiten Fall tendiert die Religion als solche dazu, die Rolle einer Häresie zu spielen.“
Ernst Bloch hätte nicht gezögert, letzteres zu empfehlen."
Und nun zurück zur SPD, wo sich derlei überhaupt nicht mehr finden lässt.
Viel mehr als ihre Geschichte hat die SPD ja nicht mehr. Da hat Andrea Nahles noch mal nebenbei die Historische Kommission der SPD abgeschafft. Dafür hat die kurze Amtszeit noch gelangt.
Der Vorwurf des Opportunismus scheint mir insoweit gerechtfertigt, als sich offenbar alle Defekte der Zeit immer auch in der SPD widerspiegeln. Wenn alle hirnlos in die falsche Richtung rennen, dann macht es die SPD eben auch. Die meisten Defekte findet man auch in Gewerkschaften, Kirchen, Sportvereinen - die SPD hat sie nicht exklusiv. Und heute fehlt die geistige Kraft in der SPD, die früher zumindest für Impulse noch gut sein konnte.
Ernst Bloch hätte letzteres empfohlen – zweifellos.
In GEIST DER UTOPIE hat er noch von „der notwendig und a priori nach dem Sozialismus gesetzten Kirche“ gesprochen, schon hier allerdings auch vom „Wiederaufbau“ der Kirche. Auf der letzten Seite von ERBSCHAFT DIESER ZEIT lesen wir dann: Die „Frage des Wohin und Wozu“ wird auch in der klassenlosen Gesellschaft „brennen“; dann könnte „eine Erziehungs- und Lehrmacht (wo nicht Glaubensmcht) des Wohin jene Sorgen entgiften“, eine Mscht freilich, die nicht das „alte Herrschaftsinstrument“ Kirche sein darf.
Ich selbst, in einem Aufsatz über Bloch 2006, habe es so resümiert: „Die Kirche gegen Selbstvergottung und dämonisierte Todesangst, Kommunisten für die klassenlose Gesellschaft – das würde sich ergänzen, das gehört eigentlich zusammen.“ Leider kann man nicht an die Kirche, die es gibt, denken, wenn man so etwas sagt.
Wenn ich oben im Artikel von der Besorgnis der Unionsparteien angesichts der Kirchenzuwendung der SPD sprach und davon, daß der entsprechende Streit in Godesberg zentral war, hatte ich etwas im Auge, das mit jenen Fragen verglichen sehr bescheiden aber doch wichtig war: Die Union hatte nun kein Monopol auf die Christen als Wähler mehr; in der Folge erkannten immer mehr Christen, daß der bloße Umstand, daß eine Partei sich christlich nennt, noch überhaupt gar nichts bedeutet.
Wie weit sich die SPD von den Grundlagen eines August Bebel´s entfernt hat, mag man daran erkennen, dass diese Partei bis heute einen offiziellen Arbeitskreiss von säkularen Sozialdemokraten der SPD ablehnt.
Dass die SPD tatsächlich die "christliche Ethik" als eine ihrer Wurzeln im Godesberger Programm angibt, wusste ich bisher nicht, erklärt aber vielleicht, weshalb sie den Arbeitskreis der Säkularen nicht zulassen will, die sich u.a. für einen laizistischen Staat und den Verzicht auf die uralten, fortgesetzten staatlichen Entschädigungszahlen an die kath. und evangelische Kirche einsetzen.
Spaet, aber 5 Sterne von mir Herr Jaeger.
Sehr sehr gut.
Gruss
Vielen Dank!