1959: Wendig, trendig

Zeitgeschichte Die SPD gibt sich das „Godesberger Programm“. Sie nähert sich der Kirche an, bekennt sich zur Westbindung und ist mehr denn je staatstragende, opportunistische Partei
Ausgabe 46/2019

Kurt Schumacher, der die Partei bis zu seinem Tod am 20. August 1952 geführt hatte, wollte kein neues Grundsatzprogramm, doch unter dem neuen Vorsitzenden Erich Ollenhauer wurde es sofort in Angriff genommen. Wesentliche Teile dessen, was wir heute mit „Godesberg“ verbinden – so der Satz, die SPD sei nunmehr „Partei des Volkes“ statt Arbeiterpartei –, wurden bereits vom Westberliner Parteitag 1954 beschlossen. Bei diesem Parteikongress wurde außerdem die Formel Karl Schillers, des späteren Bundeswirtschaftsministers unter Willy Brandt, anerkannt: „So viel Markt wie möglich, so viel Plan wie nötig.“ Christen zum Parteieintritt oder zur Wahl der SPD zu ermutigen, war noch weniger neu, schon Kurt Schumacher hatte es versucht.

Was das Godesberger Programm hinzutat, waren vor allem zwei deutliche Verschärfungen, um die bis zur letzten Minute der Streit ging. Das war zum einen die Formulierung des Verhältnisses zu den Kirchen, das jetzt als „freie Partnerschaft“ beschrieben wurde. Hierüber gab es auf dem Godesberger Sonderparteitag vom 13. bis zum 15. November 1959 die heftigste Auseinandersetzung, bis schließlich eine große Mehrheit zustimmte. Dieser Punkt war tatsächlich zentral, wie man daran sieht, dass er in den sich christlich nennenden Unionsparteien mit besonderer und auch berechtigter Besorgnis aufgenommen wurde.

Der andere Punkt, der darin bestand, dass die SPD aufhörte, im Marxismus eine ihrer geistigen Quellen zu sehen, beschäftigte die Delegierten weniger. Der Marxismus hatte in keinem vorausgegangenen Programm gefehlt, jetzt verwahrte sich Herbert Wehner, der vormalige Kommunist, auf dem Parteitag mit den Worten „Glaubt einem Gebrannten!“ gegen ihn. Darin sah die Union nur eine neue Verkleidung, es war aber ernst gemeint. So wurde der marxistische SDS, bis dahin die Studentenorganisation der SPD, 1961 ausgeschlossen. Dasselbe Schicksal ereilte die Professoren Wolfgang Abendroth (1961) und Ossip K. Flechtheim (1962). Abendroth hatte mit einem Gegenentwurf das Godesberger Programm zu verhindern versucht, es war ihm freilich nicht einmal gelungen, sich als Parteitagsdelegierten aufstellen zu lassen.

Zum Wendeprozess, der unter dem Label „Godesberg“ in die Geschichte einging, muss auch die Grundsatzrede Herbert Wehners vom 20. Juni 1960 im Bundestag gerechnet werden. Das Godesberger Programm bekennt sich zum Grundgesetz und daher auch zur Landesverteidigung, Wehner ging bei seinem Auftritt aber weiter, billigte im Namen der Partei die bis dahin bekämpfte Westbindung der Bundesrepublik einschließlich der NATO-Mitgliedschaft. Diesen Weg Konrad Adenauers hatte Schumacher nicht mitgehen wollen, weil er ihn für unvereinbar mit der deutschen Wiedervereinigung hielt. Er war auch kein Keynesianer gewesen wie Schiller, hatte vielmehr eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien im Stil der Labour Party angestrebt.

Dass „Godesberg“ zum Symbol wurde, kann damit erklärt werden, dass dort die neue Parteiführungsriege hervortrat. Der Wendeprozess war in einer Arbeitsgruppe unter Leitung Willi Eichlers begonnen worden, doch weder er noch gar der Parteivorsitzende Ollenhauer wurden dann in der Öffentlichkeit mit ihm verbunden, vielmehr neben Wehner Fritz Erler, Carlo Schmid und vor allem Willy Brandt. Die hatten auch den organisationspolitischen Durchbruch in die Wege geleitet, der für „Godesberg“ die Grundlage schuf. Das war der 1957 erreichte Beschluss, dass die Partei nicht mehr vom „Büro“ der hauptberuflichen Funktionäre des Parteivorstands geführt werden würde, sondern von einem aus deren Mitte zu wählenden „Präsidium“, dessen Aufgabe allein die politische Meinungsbildung und Orientierung sein würde.

Ohne diese Trennung von Parteiverwaltung und eigentlicher Politik hätte das neue Grundsatzprogramm vielleicht gar keine Bedeutung erlangt, der Parteiapparat hätte es kleingearbeitet. Doch nun gaben die öffentlichkeitswirksamen neuen Parteiführer die Richtung vor, Wehner, Erler und Schmid im Bundestag, Brandt als Kanzlerkandidat und Westberliner Bürgermeister. Zum neuen Gesicht der SPD gehörten auch Gustav Heinemann, Johannes Rau und Erhard Eppler, die 1956/57 im Zuge der Auflösung der protestantisch geprägten Gesamtdeutschen Volkspartei zu den Sozialdemokraten übergetreten waren.

Dass „Godesberg“ die SPD zur potenziellen und dann auch wirklichen Kanzlerpartei machen würde, zeigte sich sehr bald. Man sprach vom „Genossen Trend“, da sie nach dem Sonderparteitag von Bundestagswahl zu Bundestagswahl ihren Wähleranteil steigerte. Aber war der Preis nicht viel zu hoch, hatte die Partei nicht ihre Seele verraten? Die Ausgeschlossenen sahen es so. Ihnen stellte sich der Weg der Partei als opportunistische Anpassung dar, hervorgerufen durch die Wahlerfolge der Union während der 1950er Jahre, Anpassung also nicht nur an den Markt und die Westbindung, sondern auch an einen Parlamentarismus, der die Kapitalmacht verhüllte. Dieser Tadel ging allerdings insofern zu weit, als auch die marxistischen Kritiker hätten anerkennen müssen, dass wirklich neue Realitäten entstanden waren, die eine veränderte Politik herausforderten. Diese neuen Realitäten bestanden nicht in Adenauers Wahlerfolgen, von denen wurden sie nur angezeigt.

Sie bestanden in jener gravierenden Umwandlung der westdeutschen Gesellschaft auf Basis ihrer Ökonomie, die den in den 1950er Jahren lebenden Menschen als „Wirtschaftswunder“ bewusst wurde. Um ein Wunder handelte es sich natürlich nicht, vielmehr war man in die Rekonstruktionsperiode nach dem Weltkrieg eingetreten und konnte sie infolge westlicher Kredite (Marshallplan) gut bewältigen. Auch was in der Zeit des Naziregimes geschah, war wichtig gewesen, hatte es doch – wenn wir dem marxistischen Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas folgen – die Kapitalfraktionen unter der Führung des industriellen Großkapitals neu vereint, wodurch es auch möglich geworden war, eine vereinte Kleinbürgerpartei wie die NSDAP zu schaffen. Durch den Bau der Autobahnen war bereits die Hegemonie der Automobilunternehmen in die Wege geleitet worden.

Genauso wichtig wie diese Entwicklungen war schließlich der Umstand, dass mit den 1950er Jahren die Blütezeit des „Fordismus“ begann, jener kapitalistischen Epoche, in der man einer vollbeschäftigten und sozial gut abgesicherten Arbeiterklasse den Kauf solcher Konsumgüter wie des Autos, des Kühlschranks und der Waschmaschine ermöglichte, in nicht ganz wenigen Fällen auch eines eigenen Hauses. Da leuchtete es vielen Sozialdemokraten nicht mehr ein, dass ihre Umwelt eine Klassengesellschaft sein sollte, eher stimmten sie der Beschreibung „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ zu. Das war ohne Zweifel ein Zusammenbruch der analytischen Kompetenz, es wäre andererseits schwach gewesen, den Vorgängen die Qualität des wirklich Neuen zu bestreiten.

Wenn „Godesberg“ opportunistisch war, dann bestand der Opportunismus in der blinden Übernahme neuer Vorstellungen der US-amerikanischen Gewerkschaften, wie ja auch Willy Brandt, der Kanzlerkandidat, sein Heil darin sah, sich am politischen Stil des US-Präsidenten John F. Kennedy (im Amt 1961 – 1963) zu orientieren. Keineswegs waren solche Übernahmen von der akzeptierten „Westbindung“ vorgegeben, denn die USA hielten auch ganz andere Vorbilder bereit. So die in den 1950er Jahren beginnende Konsumismus-Kritik, in den 1960ern die ökologische Kritik – von der SPD-Kampagne „Blauer Himmel über der Ruhr“ wurde sie bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt – und nicht zuletzt die Kritik am Vietnamkrieg, den zu verteidigen Willy Brandts SPD nie aufhörte.

Doch was sie nicht tat, taten dann andere: die 68er unter Führung des SDS und danach die Grünen. Deren Impulse sind noch heute wirksam, die der 68er werden es wieder sein, denn sie sind unabgegolten; die SPD jedoch befindet sich inzwischen im Niedergang.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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