1961: Tanz den Prokofjew

Zeitgeschichte Das Musical „West Side Story“ wird als Film zu einem weltweiten Erfolg und gewinnt zehn Oscars. Leonard Bernstein, sein Schöpfer, wäre dieser Tage 100 Jahre alt geworden
Ausgabe 34/2018
Ursprünglich wollte Bernstein über jüdische Einwanderer schreiben
Ursprünglich wollte Bernstein über jüdische Einwanderer schreiben

Foto: Entertainment Pictures/Imago

Der US-amerikanische Dirigent und Komponist Leonard Bernstein starb 1990 im Alter von 72 Jahren; am 25. August 2018 wäre er 100 Jahre alt geworden. Gedenken könnte man seiner auf vielerlei Weise. In Europa wurden vor allem seine Schallplatten bekannt, er galt als bedeutendster Orchesterleiter seines Landes. Von seinen Sinfonien, Opern und Musicals hörte man diesseits des Atlantiks weniger – mit Ausnahme der West Side Story. Sie soll mein einziges Thema sein, nicht nur weil dieses Musical den Komponisten unsterblich macht, sondern auch weil es so aktuell ist. Wenn man sich die Verfilmung von 1961 (Regie: Robert Wise/Jerome Robbins) heute noch einmal anschaut, denkt man, die US-Demokraten wären gut beraten, sie bei ihrer Kampagne vor den diesjährigen Kongresswahlen gegen Donald Trump und seine Republikaner einzusetzen. Denn es geht um zugewanderte spanisch sprechende Jugendliche, die von den vorher Zugewanderten wie von der Polizei der New Yorker West Side außer Landes gewünscht werden.

Bernstein schwebte ursprünglich eine Handlung vor, die seinem eigenen Schicksal nähergestanden hätte. Er war Jude; aber statt das Problem jüdischer Einwanderer zu behandeln, entschied er sich unter dem Eindruck von Zeitungsmeldungen für das Thema gewaltsam rivalisierender Jugendgangs. Dabei blieb die Grundidee erhalten, Shakespeares Romeo und Julia in die Gegenwart zu übersetzen. Am Grundgerüst der Handlung musste Bernsteins Librettist Arthur Laurents nichts Wesentliches ändern. Verlieben sich mit Romeo und Julia Sohn und Tochter aus verfeindeten Veroneser Adelsfamilien, so sind es in der West Side Story der Freund des Anführers der Jets, bei denen es sich um Kinder polnischer Eltern handelt, die sich schon als US-Bürger fühlen, und die Schwester des Anführers der Sharks, zugereisten Puertoricanern.

Die Kinder aus Verona wie auch Tony und die spanisch geprägte Maria in New York sehen sich auf einem Tanzfest und sind einander sofort verfallen. Nachdem sich beide Paare heimlich verheiratet haben – in Verona vor Priester und Altar, die New Yorker spielen eine Eheschließung im Brautkleiderladen nach –, geraten Romeo und Tony unfreiwillig in eine Schlägerei, wobei Ersterer Julias Cousin, Letzterer Marias Bruder tötet – beides geschieht im Affekt. Julia glaubt Romeo, dass er es nicht wollte, ebenso hält es Maria mit Tony. Sowohl bei Shakespeare wie bei Bernstein haben sie ihre einzige Liebesnacht nach der fatalen Schlägerei. Der Versuch der Liebenden, gemeinsam zu fliehen, wird von furchtbaren Zufällen vereitelt: Julia bekommt vom Traupriester eine Arznei, die sie scheintot macht, damit Romeo sie leichter entführen kann. Der weiß das nicht, da ein Brief ihn nicht erreicht. Er bringt sich um, als er Julia scheintot vorfindet. Julia folgt ihm, nachdem sie erwacht ist. Tony glaubt der Lüge, Maria sei tot, und läuft in ihre Wohngegend, um sich auch töten zu lassen. Er findet sie zwar lebend, aber als sich beide glücklich umarmen, kommt einer von den Sharks dazu und erschießt ihn. Danach sind alle erschüttert, und es scheint am Ende so, als würden die Parteien ihre Feindschaft begraben.

Warum lebt Maria bei Bernstein weiter? Man versteht es, wenn man sieht, wie sie zwischen die Gangs tritt und mit verzweifelter Wut zum Frieden ruft. Da denkt man an den Raub der Sabinerinnen, wie ihn der französische Revolutionsmaler Jacques-Louis David dargestellt hat: Weil die Geraubten die Versöhnung ihrer Landsleute mit den Römern wollen, tritt eine zwischen die bewaffneten Parteien, die schon zum Schlag ausholen. Bei Shakespeare spielt der Veroneser Prinz diese Rolle, doch eine staatliche Autorität, die das in New Yorks West Side tun könnte, gibt es ja nicht. Das ist ein Hauptpunkt des Films: Wie die Jugendlichen polnischer Herkunft hasst und beschimpft auch die Revierpolizei die Puertoricaner; die sind überhaupt ernüchtert von dem Land, in das sie mit so großen Erwartungen gekommen sind. Einige würden am liebsten zurückkehren, andere kämpfen um ihre Anerkennung als US-Bürger, davon handelt der große Hit „America“. Aber auch in der anderen Gang können sie nur noch zynisch lachen über die Sorgen der Mittelschicht, die von der Jugend in der Zeitung liest. Sich aus dem Elend zu erlösen, können sie nur selber tun: Maria lebt als diejenige, die das ausspricht. Wir glauben uns am Vorabend von „1968“ zu befinden, wird doch damals das Thema einer noch nicht politisierten, aber schon sehr erbitterten Jugend auch sonst in den Kinos verhandelt, etwa in ...denn sie wissen nicht, was sie tun mit James Dean in der Hauptrolle; Natalie Wood, die Maria der West Side Story, spielte auch da mit.

Ich hörte Bernsteins Musik voriges Jahr nach langer Zeit im Theatersaal wieder und fiel aus allen Wolken, denn in der Tonspur des sonst ausgezeichneten, mit zehn von elf Oscars belohnten Films war sie nicht gut weggekommen. Bernstein war der richtige Mann gewesen, die Turangalila-Symphonie Olivier Messiaens glänzend uraufzuführen: Das wird eben auch deutlich, wenn er selbst ein Musical komponiert. Als beste mir bekannte CD-Einspielung empfehle ich Michael Tilson Thomas mit dem Orchester San Francisco Symphony aus dem Jahr 2013 (SFSmedia).

Hier will ich nur davon sprechen, wie Bernstein sich auf Sergej Prokofjews Ballett Romeo und Julia bezieht. Prokofjew beginnt den zentralen Rittertanz mit einem schwer und tief schreitenden Zweitonmotiv, das immer weiterläuft, auch wenn es sich von der dritten Wiederholung an zur punktierten auf- und abwärts laufenden Akkordzerlegung ausspreizt; schneidende Dissonanzen bei voller Tonalität und eine unerwartete Synkope sorgen dafür, dass man ein Fechten mit Schwertern im Zeitlupentempo zu hören glaubt. Wir hören das Schicksal auf seinem unaufhaltsamen Weg zum furchtbaren Ende – unaufhaltsam, weil das Ende schon am Anfang steht. Im Prologue seines Musicals nimmt Bernstein das ziemlich getreu auf. Die Akkordzerlegung verkürzt er, den Aufstieg vor allem, die Figur des Schreitens hebt er irgendwie vom Boden ab und verrätselt sie auch sonst; etwas, das sich nicht zu erkennen gibt, kommt mit ihr wie aus dem Off und wird sich später auf dem Höhepunkt der Kämpfe, sehr laut dann, zurückmelden.

Weil vor allem der Tonfall ganz anders ist als bei Prokofjew, wird kaum jemand an diesen denken. Was hören wir da, Sport vielleicht? Von Tragik und überhaupt von Sinn keine Spur! Der Gestus ist dem zeitgenössischen Cool Jazz entlehnt oder noch eher der Art und Weise, wie sich die Signalmusik von Krimiserien an ihm orientiert. Man fühlt sich angeleitet, die ganze Entwicklung zum Ende hin für vollkommen zufällig zu halten und eben darin das Tragische zu sehen. Das ist also keine antike Tragödie mehr, in der Zufälle nur auf einer Oberfläche wirkten, hinter der sich die Pläne der Götter verbargen; sondern hier ist ihre Sinnlosigkeit das Tiefste.

Wenn es einen Trost gibt, dann nur den, dass Zufälle desto machtloser werden, je mehr es der Vernunft, Aufklärung und Kenntnis gelingt, das Zweideutige der Situationen aus eigener Autorität zu bändigen – und das ist ja die Hoffnung, die sich in der West Side Story ausspricht. Wir finden dieselbe Haltung schon bei Shakespeare, zu dem Leonard Bernstein zurückfindet, nur dass Shakespeare noch radikaler entgöttert. Bei ihm ist auch die Liebe, die bei Bernstein das Religiöse erbt und eine überdimensionale Rolle spielt, nichts Letztes mehr; er macht deutlich, dass Romeo nur ein haltloser Junge ist, der je nach Umständen von einer „Liebe auf den ersten Blick“ zur nächsten umkippt; der Priester, der ihm Julia anvertraut, erkennt das genau und macht es nur mit, weil er denkt, es könnte die verfeindeten Familien einander näherbringen.

Mit dem Problem, dass frühere und spätere Gruppen von Immigranten einander feind sind, haben wir seit geraumer Zeit auch in Deutschland zu kämpfen. Aber wo ist das Kunstwerk, das seine Behandlung nicht scheut?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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