Als die SPD 1966 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik mit den Unionsparteien eine Große Koalition bildete, konnte niemand mehr ernsthaft zweifeln, dass das Grundgesetz um eine Notstandsverfassung ergänzt werden würde. Die drei Parteien, die im Bundestag über eine Zweidrittelmehrheit verfügten, wollten ursprünglich noch das Mehrheitswahlrecht einführen: Hätten sie es getan, wäre auf lange Zeit keine dritte Partei mehr parlamentarisch vertreten gewesen, weder FDP noch Grüne noch später die PDS. Von diesem Projekt nahm die SPD aber Abstand. Sie erkannte, dass es nur die Union begünstigt hätte, und fand, sie zeige mit ihrer Zustimmung zu den Notstandsgesetzen schon genug vaterländische Gesinnung. Niemand sollte ihr mehr vorwerfen können, wie es Konrad Adenauer elf Jahre zuvor getan hatte, die SPD als Kanzlerpartei würde den „Untergang Deutschlands“ bedeuten. Derselbe Adenauer hatte dann nach dem Wahlkampf 1965 auf eine Große Koalition gedrängt, eben um die SPD ins Notstandsboot zu holen. Damals jedoch setzte sich noch einmal Ludwig Erhard durch, Adenauers Kanzlernachfolger und innerparteilicher Intimfeind, der zwischen 1963 und 1966 mit der FDP zusammen regierte.
Seit 1958 hatte die Union für eine Notstandsverfassung getrommelt. Kernpunkte sollten sein, dass – wenn ein Krieg begann oder drohte, aber auch im Fall innerer Unruhen oder einer Naturkatastrophe – der Parlamentarismus und die Rechte der Gewerkschaften drastisch reduziert würden. An die Stelle der Legislative sollte ein kleiner „Gemeinsamer Ausschuss“ treten, der zu zwei Dritteln aus Bundestags-, zu einem Drittel aus Bundesratsvertretern bestünde, ohne dass diese Weisungen ihrer Landesregierungen zu folgen hatten. Die Gewerkschaften waren durch den Plan betroffen, das Streikrecht zu stornieren und eine Dienstverpflichtung in der Arbeitswelt analog zum Wehrdienst einzuführen. Natürlich lehnten sie diese Reglementierung ab. Auch die SPD verweigerte zunächst allen Gesetzesvorlagen, darunter dem „Höcherl-Entwurf“ vom Januar 1963, die Zustimmung. Der Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) machte sich noch im gleichen Jahr mit dem Satz unsterblich, Geheimdienstbeamte könnten „nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“. Dabei hatten sich die Sozialdemokraten seit der Godesberger Wende 1959 auf die NATO und somit auf die Perspektive eines möglichen Krieges schon eingelassen. Ihr Problem war, dass die Partei den Gewerkschaften nahe stand. Es wurde gelöst, indem sie durchsetzte: Das Streikrecht bleibt bestehen, die Dienstverpflichtung wird gestrichen. In allen anderen Punkten wurde nachgegeben. Gegen die nötige Grundgesetzänderung stimmten am 30. Mai 1968 neben der FDP, die allein die Opposition bildete, nur 53 von 217 SPD-Abgeordneten.
Dabei hatte es in den Gesellschaften massiven Widerstand gegeben, auch in den Kirchen, Professoren liefen Sturm. Der Kampf gegen die Notstandsgesetze war neben dem Protest gegen die Bildungsmisere und gegen den Vietnamkrieg ein Hauptferment der sich herausbildenden 68er-Bewegung. So war im Mai 1965 in der Bonner Universität der Kongress „Demokratie vor dem Notstand“ veranstaltet worden, im Oktober 1966 organisierte ein „Kuratorium Notstand der Demokratie“ eine Zusammenkunft auf dem Frankfurter Römerberg. Und noch 19 Tage vor der Grundgesetznovelle gab es einen Sternmarsch auf Bonn, an dem sich mehr als 30.000 Menschen beteiligten. Es half alles nichts.
Und doch verdienen die Argumente, die damals vorgetragen wurden, noch heute Aufmerksamkeit. Manche wirken sehr vertraut: Wie derzeit die Bundesregierung behauptet, die von der Air Base Ramstein ermöglichten Drohnen-Todesflüge seien ein Geschehen außerhalb deutscher Souveränität, so behaupteten damals die Unionsparteien, eine Notstandsverfassung liege so lange, wie man sich ihren Plänen nicht beuge, in den Händen der Weltkriegs-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich. Es stimmt beides nicht. Ein Vertrag, den die Bundesregierung 1954 mit den Alliierten eingegangen war, hatte sie nur verpflichtet, die im Land stationierten ausländischen Streitkräfte wirksam zu schützen. Auch wurde nur für diesen Zweck die Fähigkeit verlangt, „einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen“. Um das zu tun, musste man kein „Notparlament“ einrichten. Dazu brauchte es keine Einsätze der Bundeswehr gegen eine nicht weiter definierte innere „Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ zu geben, wie es nun aber seit 1968 im Grundgesetz steht. Einfache Gesetze, wie sie in anderen NATO-Staaten üblich waren, hätten gereicht. So war es folgerichtig, dass namhafte Jura-Professoren wie Wilhelm Grewe, Helmut Ridder und Wolfgang Abendroth Schlimmeres hinter den Plänen der Unionsparteien witterten.
Besonders Abendroth wies die Gefährlichkeit der Entwürfe im Einzelnen nach. So sollte der „Verteidigungsfall“ schon dann gegeben sein – und so wird er bis heute im Grundgesetz charakterisiert –, wenn ein Angriff auf die Bundesrepublik nur „droht“. Kommt dann jener Gemeinsame Ausschuss zu dem Schluss, dass der Bundestag nicht „rechtzeitig“ zusammentreten kann, darf er selbst den Verteidigungsfall und daraus folgenden Notstand erklären. Sogar die Wahl eines neuen Bundeskanzlers durch dieses Gremium wäre möglich. Wann aber „droht“ ein Krieg? Abendroth meinte, dass die „Drohung“ sonst auch als „Spannungszustand“ bezeichnet werde. Auch diese Vokabel finden wir heute im Grundgesetz.
Zum „Spannungsfall“ hieß es im Höcherl-Entwurf, er sei als gegeben anzusehen, wenn „aufgrund nachrichtendienstlicher Quellen“ mit einem bewaffneten Angriff „ernstlich gerechnet werden muss, auch ohne dass eine für alle Welt offenkundige internationale Spannung zu bestehen braucht“. Dazu erinnerte Abendroth 1965 daran, „zu welchen Manipulationen mit der Wahrheit Geheimdienste imstande sind“. Er konnte nicht wissen, dass einmal ein Irakkrieg von den USA durch Lügen vorbereitet werden würde, hatte aber Höcherls Bemerkung über Geheimdienstbeamte, die ihren Rechtssinn unter dem Arm trugen – also gar keinen hatten –, noch im Ohr.
Sollte wieder etwas wie das Notstandsrecht der Weimarer Republik eingeführt werden, das seinerzeit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg die Berufung Adolf Hitlers zum Reichskanzler ermöglicht hatte? Diese Furcht trieb einst den Widerstand an, und man kann nicht sagen, sie sei weltfremd gewesen. Denn es war wirklich zum Erschrecken, von welchem Geist die Polizei damals noch erfüllt war. 1967 beim Besuch des Schahs von Persien in Westberlin, als ihr Einsatz gegen den Protest vieler Studenten ein Todesopfer (Benno Ohnesorg) kostete, riefen die Angegriffenen: „Notstandsübung!“ Sie hatten dergleichen schon im Voraus erwartet. Der Berliner Senat nahm anschließend die Täter in Schutz, hob die Versammlungsfreiheit auf und kündigte Schnellgerichte an. Eine juristische Begründung war irrelevant.
Auch später wurde gelegentlich nach Notstandsrecht gehandelt, das inzwischen galt, ohne dass man sich darauf berief. Das Wissen um seine Existenz im Hintergrund reichte zur Abschreckung schon hin. So trat 1977 faktisch der Gemeinsame Ausschuss zusammen und einigte sich über die Behandlung der in Stammheim einsitzenden RAF-Gefangenen, wurde aber nicht als solcher deklariert. Der bei inneren Unruhen vorgesehene Inlandseinsatz der Bundeswehr wird gerade erneut diskutiert – zuletzt vor ein paar Wochen wegen der Flüchtlingskrise –, aber niemand spricht aus, dass er Notstandsrecht exekutieren würde. Seit Anfang Mai 2006 gibt es Pläne der Bundesregierung, einen terroristischen Angriff in der Art des 11. Septembers 2001 rechtlich als Kriegsfall einzustufen. Die Gefahr einer Notstandsdiktatur ist offenbar noch nicht ausgestanden.
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