Zeitgeschichte In Chile lässt Salvador Allende die Kupferminen verstaatlichen. Die USA reagieren mit einem Finanzboykott. Das Vorspiel zu einem Putsch gegen die Linksregierung beginnt
Das Ziel: ein Klassenbündnis aus Proletariat, Bauern, Kleinbürgern
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El Teniente, gelegen 80 Kilometer südlich von Santiago de Chile und in Betrieb seit 1905, ist mit 3.000 Kilometer langen Schächten unter dem Andenhochgebirge das größte Untertage-Kupferbergwerk der Welt. Allenthalben bekannt ist es nicht nur Fachleuten, sondern auch politisch Interessierten wegen der Verstaatlichung im Juli 1971 – einem Hauptereignis der damaligen demokratischen Revolution unter Führung des Präsidenten Salvador Allende und seines Parteienbündnisses Unidad Popular –, mehr noch aber vielleicht wegen des 75-tägigen Streiks der dortigen Bergarbeiter. Dieser Ausstand begann Ende Mai 1973 und gehört zur Vorgeschichte des Militärputschs unter General Pinochet am 11. September desselben Jahres.
Zum Zeitpunkt der Verstaat
r Verstaatlichung waren vier US-Unternehmen in El Teniente tätig. Sie hatten in 60 Jahren fast elf Milliarden Dollar erwirtschaftet und lagen damit knapp über dem in 400 Jahren angehäuften chilenischen Nationalvermögen. Der chilenische Staat war zunächst nur durch Steuern und Abgaben beteiligt gewesen, die bis 1945 auf über 50 Prozent gestiegen waren. Allendes Vorgänger, der Christdemokrat Eduardo Frei, hatte bereits eine „Chilenisierung“ in die Wege geleitet: Eine Bergwerksgesellschaft als gemischtes staatlich-privates Unternehmen wurde 1967 gegründet, und der Staat sicherte sich 51 Prozent Kapitalanteile. Die Unidad Popular hatte jedoch im Wahlkampf die volle Verstaatlichung angekündigt. Als Präsident Allende das am 11. Juli 1971 umsetzte, war er zur Entschädigung der Investoren nur formell bereit. Er rechnete ihnen vor, dass sie eigentlich noch draufzahlen mussten, denn von den knapp hundert Millionen Dollar Buchwert der Unternehmen waren 410 Millionen „exzessive Gewinne“ seit 1955 abzuziehen: Kapitalverzinsungen von jährlich über 50 Prozent gegenüber knapp zehn Prozent in den USA und anderen Ländern.Die Verstaatlichung als solche war in Chile vollkommen unstrittig, sie wurde im Parlament einstimmig beschlossen. Man kann bis hierher urteilen, dass Allende entschiedener realisierte, was schon sein Vorgänger Frei gewollt hatte. Dennoch waren es die Folgen seines Schrittes, an denen er letztendlich scheiterte. Dabei schien die maßgeblich von der Kommunistischen Partei eingebrachte, auch in anderen Ländern verfolgte Strategie ja vollkommen aufgegangen zu sein. Der marxistische Soziologie Klaus Meschkat beschrieb sie in jenen Jahren als „Strategie einer nationalen Befreiungsfront“. Sie richtete sich gegen die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vor allem vom nordamerikanischen Imperialismus, gegen die eigene Monopolbourgeoisie und den Großgrundbesitz. Meschkat: „Es sollte ein Klassenbündnis geschmiedet werden, das das Proletariat, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum und diejenigen Teile der ländlichen und industriellen Bourgeoisie umfasst, die sich vorgeblich in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Monopolkapital befinden. Der Weg führt über Wahlen, mit denen Teile des bürgerlichen Staates (die Exekutive, in der Perspektive auch das Parlament) erobert und in den Dienst einer Politik gestellt werden, in der Monopolkapital und Großgrundbesitz beseitigt werden und ein erweiterter staatlicher Sektor als Entwicklungs- und Transformationszentrum für die gesamte Wirtschaft fungiert.“Ausdruck des Bündnisses mit dem Kleinbürgertum und Teilen der Bourgeoise war eben die Übereinstimmung der Unidad Popular mit den Christdemokraten, die anfangs bestand, den bald einsetzenden US-amerikanischen Druck aber nicht überlebte. Natürlich reagierten die USA mit Finanzboykott und ausbleibenden Ersatzteillieferungen. Sie erwirkten in Westeuropa Gerichtsbeschlüsse gegen den chilenischen Kupferimport. Die ökonomischen Probleme, zu denen es dadurch in Chile kam, hätten nur in nationaler Solidarität bestanden werden können. Aber nun zeigte sich, dass die Regierung Allende nicht alle Folgen durchdacht hatte, was man ihr übrigens nicht vorwerfen kann, denn der Versuch war erstmalig und war es wert. Noch am wenigsten Schwierigkeiten machte die Arbeiterklasse, obwohl Meschkat beklagt, dass sie in der skizzierten Strategie nur als ein Faktor unter mehreren vorkam. Gewiss, die Verbesserung ihres Lebensstandards wurde ihr von der Regierung in den Schoß gelegt. Und als sie eigene Organisationsformen auch jenseits der Gewerkschaften aufzubauen begann, kam es zu Konflikten mit denen „da oben“, die doch in ihrem Interesse regierten. Dennoch verteidigte sie bis zum Schluss die Regierung gegen alle Versuche, sie zu stürzen.Den Mechanismus, durch den sich das Land in zwei feindliche Lager spaltete, beschreibt der Ökonom und Befreiungstheologe Franz Hinkelammert wohl am besten. Als infolge des US-Boykotts die Finanzmittel knapp wurden, musste die Regierung sich entscheiden: Entweder die Logik des kapitalistischen Marktes trotzdem aufrechterhalten, was bedeutete, dem weiterhin ungestörten Konsum der Großbourgeoisie und des Kleinbürgertums das Wohl der Armen zu opfern, sprich: die eben erst eingeführte „minimale Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“ als „Recht eines jeden Mitglieds der Gesellschaft“ wieder rückgängig zu machen. Oder es musste auf Kosten jener Kreise zu Preisfestsetzungen und Lebensmittelrationierungen kommen. Dass die Regierung sich für das Zweite entschied, ermöglichte es der Großbourgeoisie, im Kleinbürgertum einen so tiefen Hass zu wecken, wie ihn wohl niemand erwartet hatte. Die Lastwagenbesitzer standen 1972 mit ihrem ersten Streik an der Spitze, neben ihnen die akademischen „Professionals“, besonders die Ärzte, deren große Mehrheit ebenfalls in den Streik trat, weil sie aus ihrer „sozialen Mission“ das Recht ableiteten, immer annähernd dasselbe zu verdienen wie ihre Kollegen in bessergestellten Ländern.Als die Unidad Popular trotz allem ihren Stimmenanteil bei den Wahlen im März 1973 auf 44 Prozent steigern konnte und folglich die Zweidrittelmehrheit im Parlament, mit der man Präsident Allende hätte absetzen können, nicht zustande gekommen war, ging die Opposition zur Strategie der Terroranschläge über, womit der Weg zum Militärputsch bereits beschritten war. In diese Zeit fällt der Streik der Bergarbeiter von El Teniente. Nicht alle nahmen teil, aber genug, das Werk lahmzulegen. Bis dahin hatten auch die christdemokratischen Arbeiter im ganzen Land die Regierung unterstützt, hier aber scherten sie aus. Von den Parteiführern der Unidad Popular scharf kritisiert, finden sie doch in der marxistischen Literatur bis heute auch viel Verständnis. Die Inflation im Land war so hoch, dass der Ausgleich in Höhe von 41 Prozent Lohnerhöhung, den sie forderten, noch maßvoll genannt werden kann. Dennoch muss ihr Streik zur bourgeoisen Kontrabewegung gezählt werden, weil auch er auf den Erhalt von Konsumprivilegien abzielte. Die Beschäftigten staatlicher Unternehmen verdienten weit mehr als andere Arbeiter. Der Streik wurde nach harten Auseinandersetzungen friedlich beigelegt, weil Präsident Allende schließlich nachgab. Die Opposition hatte ihn aber offenbar als Fanal gewertet, denn gleich anschließend begann der zweite, größere Lastwagenstreik, zudem gingen die erneut streikenden Ärzte dazu über, die noch bestehenden Reste der medizinischen Versorgung zu sabotieren.Der Mensch ist schlecht, könnte man versucht sein zu kommentieren. Aber es war auch ein Fehler der revolutionären Strategie offengelegt worden. Er ist noch heute aktuell. Ist eine Revolution, sei sie autoritär oder demokratisch, ohne mindestens zeitweiligen Konsumverzicht denkbar? Wahrscheinlich nicht. Wer sich das nicht klarmacht, dem muss es gesagt werden. Die Revolutionäre müssen es ankündigen und unter dieser Bedingung Zustimmung zu erlangen suchen – schon vor der Revolution. Eine Strategie, die davor die Augen verschließt, indem sie bloß auf Verstaatlichung zielt, ist zum Scheitern verurteilt.
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